Unabhängige Zeitung

Private Tageszeitung

Lukaschenko gibt Oppositionellen eine neue Chance


In Weißrussland kommen Menschen auf freien Fuß, die „wegen Straftaten aufgrund von Protesten verurteilt worden waren“ und nun von Alexander Lukaschenko am 16. August und 4. September begnadigt wurden. Wie berichtet wurde, hätten alle 30 aus der ersten Gruppe und auch die 30 aus der zweiten Gruppe entsprechende Begnadigungsgesuche geschrieben. Mehr noch, ein den Offiziellen nahestehender Aktivist, der sich mit einem Zusammenwirken mit Inhaftierten befasst, hatte nach dem 16. August erklärt, dass bereits 900 Personen Begnadigungsgesuche geschrieben hätten. Und viele würde man am Tag der Volkseinheit, am 17. September freilassen. Zur gleichen Zeit konstatierten Menschenrechtler im August, dass man mehrere früher zu einer Einschränkung der Freiheit Verurteilte, hinter Gitter gebracht hätte.

In Weißrussland werden also Oppositionelle freigelassen, über deren Begnadigung durch Alexander Lukaschenko durch den Pressedienst des weißrussischen Staatsoberhauptes informiert wurde. In beiden entsprechenden Erlassen wurde mitgeteilt, dass jeweils 30 Personen auf freien Fuß kommen, die wegen Straftaten im Zusammenhang mit Protestaktionen verurteilt worden waren. Der Pressedienst Lukaschenkos berichtete, dass in der ersten Gruppe 14 Frauen und 16 Männer und in der zweiten sieben Frauen und 23 Männer sind, „einige von ihnen haben ernsthafte Erkrankungen“, „sind Personen im Rentenalter“ oder „sind Eltern von Minderjährigen oder kleinen Kindern“.

Und da haben nun die ersten aus beiden Listen die Freiheit erlangt. Es hatte den Anschein, dass die Opposition, die für eine Freilassung ihrer Mitstreiter auf allen internationalen Plattformen eintritt, darüber froh sein müsste. Doch für sie gestaltet sich eine schwierige Situation.

Auf freien Fuß kommen vor allem Menschen ganz und gar nicht im Ergebnis eines Drucks von außen, sondern nach dem Schreiben von Gesuchen über eine Begnadigung. Der den Offiziellen nahestehende Aktivist Jurij Woskresenskij, der laut Aussagen von Menschenrechtlern auch unter den Inhaftierten agitiert hätte, derartige Schreiben zu verfassen, erklärte in einer Sendung des staatlichen Fernsehkanals „Belarus 1“, dass gegenwärtig hunderte Begnadigungsersuchen verfasst worden seien.

Wenn diese Zahl der Wirklichkeit entspricht, so kann dies alles unter Berücksichtigung dessen, dass die Menschenrechtler an sich rund 1300 Menschen als politische Häftlinge anerkannt haben, zum größten propagandistischen Sieg der Herrschenden werden.

Weskresenskij selbst erklärte: „Während früher diese Gesuche Dutzende ausmachten, so sind es heute hunderte solcher Gesuche. Praktisch sind gegenwärtig bereits rund 900 Gesuche bei den weißrussischen Behörden eingegangen“. Und er erläuterte, wodurch sich das Verlassen einer Strafkolonie nach Ablauf der Freiheitsstrafe von einer Freilassung entsprechend einer Begnadigung unterscheidet. „Der Erlass des Präsidenten ist eine gewisse Indulgenz. Du bekommst faktisch die Chance, von Neuem ein Leben anzufangen. Dies ist ein Vorschuss. Ein sehr ernsthafter Vertrauenskredit“, erklärte Woskresenskij. Und er teilte mit, dass man viele angeblich zum Tag der Volkseinheit, am 17. September freilasse.

Und danach wurden durch den gleichen TV-Sender Interviews mit den ersten derjenigen, die diesen „Kredit“ erhalten hatten, ausgestrahlt. Und deren Erklärungen hatten auch die Opposition offenkundig nicht erfreut.

Xenia Luzkina arbeitete in der weißrussischen Rundfunk- und Fernsehgesellschaft bis August des Jahres 2020. Nach den (Präsidentschafts-) Wahlen schloss sie sich dem Streik von Mitarbeitern der Holding an. Später kündigte sie und kam in den Stamm des Koordinierungsrates. Am 8. September des Jahres 2022 verurteilte das Minsker Stadtgericht Luzkina zu acht Jahren Freiheitsentzug gemäß Teil 1 des Paragrafen 357 des weißrussischen Strafgesetzbuches (Verschwörung oder andere Handlungen, die zwecks Eroberung oder Einbehalten der Staatsgewalt auf verfassungsfeindlicher Art verübt worden sind).

Nunmehr erklärte sie: „Im Begnadigungsantrag habe ich gebeten, mir eine zweite Chance und die Möglichkeit, aufs Neue zu leben, zu geben. Ich bin sehr froh, dass der Präsident meine Bitte erhörte und dass ich auf die Liste der Begnadigten gekommen bin. Der Begnadigungsantrag, dies ist sicherlich das Schwerste, was ich in meinem Leben geschrieben habe. Denn dies muss man begreifen, muss man verspüren und dazu kommen. Darin sind viele Emotionen gelegt worden. Möchte man da in irgendeinem Moment weinen? Ja. Ohne dem schreibst du das nicht. Du begreifst, dass du mit deiner Tat nicht nur das eigene Leben verdorben hast“.

Und sie fuhr fort: „Heute erlebe ich eine große Freude, man kann sagen: einen zweiten Geburtstag. Ich kann meinen Sohn frei umarmen“. Es muss betont werden, dass Luzkina an einem Hirntumor leidet. Daher ist die Freilassung für sie eine Lebenschance im wahrsten Sinne des Wortes.

Geäußert hat sie sich auch über frühere Mistreiter: „Bis zur Festnahme hatte ich bereits auch unter anderem irgendwelche finanzielle Momente verstanden. Wir hatten solch ein ideales Bild als Zuschauer gesehen, in dem wir nicht die Vertreter der alten Opposition gesehen hatten. Wir hatten Vertreter einer neuen Welle gesehen, die vereinen sollten. Dies war eine wunderbare TV-Show, für die sich das Volk begeisterte. Ich hatte schon vor der Festnahme verstanden, dass wir einfach Dummköpfe sind“.

Olga Nowikowa, die als eine einfache Aktivistin an den Protesten teilgenommen hatte, war weniger blumenreich, als sie die Ursachen ihres Kampfes erläuterte: „Das war eine gewisse Sorglosigkeit und möglicherweise Unklugheit in einem bestimmten Bereich. Somit hatte es mich auf die Straßen verschlagen, was auch zu solchen traurigen Folgen führte“.

Dafür hat sie jetzt alles überdacht: „Ich habe vollkomme bereut, in vollem Umfang meine Schuld eingestanden. Und ich habe um eine zweite Chance gebeten. Um zu beweisen, dass ich besser sein kann. Und das, dass ich alles Mögliche tun werde, damit sich solch eine Situation nicht wiederholt“.

Die dritte Teilnehmerin der Sendung – Irina Sankowskaja – berichtete, dass sie kritische Kommentare zu Amtspersonen und selbst zum Präsidenten gepostet hatte. „Sicherlich habe ich mich so abgelenkt. Sicher habe ich so meinen Emotionen freien Lauf gelassen“, sagte sie. „Jetzt begreife ich, dass man den Emotionen nicht dort und nicht so freien Lauf lassen kann“.

Allem nach zu urteilen, sind bald neue Auftritte einer Selbstentlarvung zu erwarten.

Derweil erklärt die Opposition, dass, während die einen freikommen, andere aus einem Hausarrest hinter Gitter gebracht werden würden. Laut Aussagen von Menschenrechtlern hätte man seit Anfang Juni in Gerichten bereits mindestens 15 Fälle über eine Ersetzung der Einschränkung der Freiheit durch einen Freiheitsentzug in Bezug auf früher verurteilte Oppositionelle behandelt oder werde sie in der nächsten Zeit behandeln.

Laut der weißrussischen Gesetzgebung sind für die Ersetzung einer Bestrafung durch eine härtere drei Äußerungen ausreichend. Die Vertreter der Emigranten-Organisationen rufen die Menschen auf, die sich in solch einer Situation befinden, nicht auf eine Klärung ihres Schicksals zu warten, sondern deren Leistungen für eine Evakuierung ins Ausland in Anspruch zu nehmen.

Post Scriptum:

Die Begnadigungserlasse von Alexander Lukaschenko haben natürlich die prominentesten politischen Häftlinge der weißrussischen Herrschenden vorsätzlich ausgeklammert. Das gilt zum Beispiel für Maria Kolesnikowa, die eine elfjährige Freiheitsstrafe im Verwaltungsgebiet Gomel verbüßt. Über das Schicksal der heute 42jährigen studierten Musikerin ist nur wenig bekannt, da sie seit hunderten Tagen im Grunde im Karzer sitzen muss. Ehemalige Häftlinge des Straflagers, in dem Kolesnikowa ist, berichteten lt. im Internet kursierenden Informationen, dass die einstige Mitstreiterin von Viktor Babariko (er wollte gegen Lukaschenko im Jahr 2020 bei den Präsidentschaftswahlen antreten und bekam letztlich dafür 13 Jahre Freiheitsentzug) gesundheitlich in einem desolaten Zustand sei. Aufgrund der bescheidenen Lager-Verpflegung, die sie nicht problemlos zu sich nehmen kann, hat sich das Körpergewicht der tapferen Frau bis auf 45 Kilogramm bei einer Körpergröße von etwa 175 Zentimetern verringert. Daher sind in den letzten Tagen mehrfach die Forderungen an den Präsidenten von Belarus laut geworden, Maria Kolesnikowa freizulassen.