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Millionen Bürger Russlands riskieren, nutzlose Hochschulabschlüsse zu bekommen


Alljährlich beginnen in den Hochschulen der Russischen Föderation ca. eine Million Menschen ein Studium. Viele von ihnen riskieren, eine veraltete oder unnötige Qualifikation zu erhalten. Schon heute finden mehr als ein Drittel der Absolventen keinen Platz auf dem Arbeitsmarkt. Und die Situation kann sich stark verschlechtern. Der Arbeitsmarkt in Russland verändert sich nach Beginn der militärischen Sonderoperation in der Ukraine (am 24. Februar 2022 – Anmerkung der Redaktion) so rasant, dass viele Hochschulen diesen Veränderungen nicht hinterherkommen. Aufgrund dessen nimmt die Zahl der unnötigen Spezialisten im Land zu. Die Anzahl der unnötigen Fachleute wird in den nächsten Jahren auch aufgrund demografischer Ursachen noch mehr zunehmen, da die Gesamtzahl der Abgänger der russischen Mittelschulen ansteigen wird.

In den letzten zwei Jahren haben sich in Russlands Wirtschaft strukturelle Veränderungen vollzogen, für die unter normalen Bedingungen ca. zehn Jahre gebraucht worden wären. Und diese strukturellen Veränderungen haben wesentliche Änderungen auf dem Arbeitsmarkt ausgelöst, wo ein wesentlicher Wechsel von Arbeitskräften aus dem Bereich der Dienstleistungen in den realen Wirtschaftssektor auszumachen ist. Derart sind die Schlussfolgerungen einer neuen Untersuchung der Dysbalancen und Perspektiven des russischen Arbeitsmarktes vom Institut für volkswirtschaftliche Prognostizierung der Russischen Akademie der Wissenschaften.

Nach Beginn des großangelegten Sanktionskrieges gegen Russland verringerte sich die Bedeutsamkeit des russischen Exports. Es verringerte sich aber auch die Rolle des Rohstoff-Komplexes bei der Gestaltung des russischen Bruttoinlandsprodukts. Zur gleichen Zeit hat die Relevanz des realen Sektors zugenommen. Zugenommen hat gleichfalls der wirtschaftliche Beitrag der Investitionen und der staatlichen Nachfrage. Dabei gebe es faktisch keine bedeutsamen demografischen Beschränkungen für das Wachstum der russischen Wirtschaft, betonen die Wirtschaftsfachleute aus dem genannten Akademieinstitut.

„Mit dem vorhandenen Umfang an Arbeitskräfteressourcen kann das potenzielle Tempo für das Wachstum des BIP in Russland bis zu 4-5 Prozent ausmachen. Eine Einschränkung für die Wirtschaft sind aber die räumliche Aufteilung der Arbeitskräfteressourcen und ihr Qualifikationsgrad. Die Anzahl und die Struktur der Arbeitskräfteressourcen stellen in der Russischen Föderation zusätzliche Anforderungen an die wissenschaftlich-technische Entwicklung und das Ausbildungssystem“, sagte Alexander Schirow, Direktor des Akademieinstituts für volkswirtschaftliche Prognostizierung.

Der demografische Trend werde in den nächsten Jahren in einer Zunahme der Anzahl junger Menschen bestehen, die eine Berufstätigkeit aufnehmen. Und diese demografische Tendenz schaffe Möglichkeiten für ein Manövrieren im russischen Bildungssystem. „Zur gleichen Zeit nehmen damit aber die Risiken für eine Reproduktion überschüssiger Kader zu, wie dies bereits in den 1990er und den 2000er Jahren der Fall gewesen war“, erinnert Schirow an die Perioden einer übermäßigen Ausbildung von Juristen und Wirtschaftsfachleuten in unserem Land.

Viele russische Hochschulen schaffen auch heute nur die Illusion einer Berufsausbildung, handeln aber faktisch auch mit Aufschüben für einen Dienst in den Streitkräften der Russischen Föderation. Das fiktive System der Ausbildung von Fachleuten in der Russischen Föderation nimmt Millionen Bürgern Russlands die Möglichkeiten für eine berufliche Realisierung, was viele Menschen zu unglücklichen macht, beraubt sie eines würdigen Verdienstes und schadet faktisch einem erheblichen Teil der Bevölkerung.

Derweil wurde die große Nachfrage nach Fachleuten mit einer echten und nicht mit einer Schein-Qualifikation zur Haupttriebkraft des Gesamtwachstums der Einkommen der Bürger Russlands. „Die Zunahme der Nachfrage nach einer qualifizierten Arbeit bleibt weiterhin die Hauptquelle für ein Wachstum der Einkommen der Bevölkerung“, meint der Direktor des Akademieinstituts für volkswirtschaftliche Prognostizierung.

Die reale Geldeinkünfte der gesamten Bevölkerung Russlands haben in der ersten Hälfte des laufenden Jahres um 5,1 Prozent im Vergleich zum gleichen Zeitraum des Vorjahres zugenommen. Dabei haben aber die reale Renten von zig Millionen Bürgern Russlands praktisch keine Zunahme erlebt (+0,99 Prozent). Die realen berechneten Löhne und Gehälter sind aber um 9,4 Prozent angestiegen.

Die Zunahme der Nachfrage nach einer qualifizierten Arbeit wurde zum Ergebnis der Veränderungen in der Struktur der Produktion. Während das einheimische Bildungssystem sozusagen auf die sich ergebene Qualifikationsstruktur der Beschäftigten eingestellt hatte, sagen Wirtschaftsexperten. „Die Prognose für die Nachfrage nach einem Job wird zu einer komplexen Aufgabe, die eine Mobilisierung von Anstrengungen der Machtorgane, des Business und der Experten-Community erfordert. Die Parameter für die Effektivität der Produktion müssen bei ihrer Ausarbeitung eine Schlüsselrolle spielen“, meint Alexander Schirow. Der russische Arbeitsmarkt wurde zu einem Markt der Beschäftigten, was sich positiv auf die Parameter für die Lebensqualität der Bevölkerung auswirken und eine Zunahme der Bedeutsamkeit der Sektoren des menschlichen Kapitals bei der Gestaltung der Wirtschaftsdynamik gewährleisten könne, sagte der Wissenschaftler.

Als Maßnahmen für eine Adaptierung des Systems für Hochschulbildung an die neuen Wirtschaftsbedingungen entwickeln die russischen Offiziellen unter anderem ein System moderner Ingenieurschulen. Eine wahre Ingenieurschule durch die Anstrengungen der Bürokratie zu etablieren, ist selbstredend unmöglich. Jedoch ist selbst ein bürokratisches Programm für die Entwicklung moderner Ingenieurschulen besser als nichts.

„Wir schenken in der letzten Zeit viel Aufmerksamkeit der Schaffung von Ingenieurschulen und der Ausbildung entsprechender Kader – und das ist richtig“, erklärte Russlands Präsident Wladimir Putin bei einem Treffen mit dem Minister für Wissenschaft und Hochschulwesen Valerij Falkow.

„Im Juni des Jahres 2022 haben wir die ersten 30 Ingenieurschulen in 15 Regionen geschaffen“, berichtete Minister Falkow. Sein Ministerium hatte im vergangenen Jahr weitere 20 moderne Ingenieurschulen „ausgewählt“. „Daher haben wir heute einen guten Bestand – 50 Schulen, 28 Regionen. In ausschließlich allen föderalen Bezirken“, erläuterte der Minister. Jede moderne Ingenieurschule löse nach Aussagen von Falkow zwei Aufgaben. Einerseits die Aufgabe zur Erneuerung des Systems der Hochschulausbildung und der Transformation der Ingenieurausbildung. „Andererseits ist dies eine Absicherung der technologischen Souveränität“, erläuterte der Chef des Ministeriums für Wissenschaft und Hochschulwesen. „Im vergangenen Jahr haben 22.000 Schüler die modernen Ingenieurschulen absolviert“, teilte in diesem Zusammenhang Valerij Falkow mit.

Es ändert sich die Haltung zur ingenieurtechnischen Ausbildung auch in der öffentlichen Meinung der Bürger Russlands. So gehört in den letzten VTsIOM-Umfragen die Ingenieurausbildung zur Top 5 der angesehensten. Die ingenieurtechnischen Berufe erleben einen Höhenflug. Während sie im Jahr 2006 lediglich zwei Prozent der Befragten nannten, steigt dieser Wert seit dem Jahr 2018 (8 bis 11 Prozent).

Mit den Juristen sieht es in Russland anders aus. Der Beruf eines Juristen befinde sich in der Liste der angesehenen auf dem absteigenden Ast, sagen die Spezialisten aus dem VTsIOM. Ab dem Jahr 2006 begann man, die Juristen-Berufe 3- bis 4mal weniger als angesehene anzusehen (im Jahr 2006 – 28 Prozent, im Jahr 2024 – neun Prozent). Noch ein an Popularität verlierender Beruf sind Ökonomisten. In der Zeit der Beobachtungen durch die VTsIOM-Soziologen ist die Wahrnehmung dieser Gruppe von Spezialisten als eine angesehene von 30 Prozent im Jahr 2006 bis auf sieben Prozent in den letzten zwei Jahren eingebrochen. „Die drastische Nachfrage nach Juristen und Ökonomisten fiel in die 1990er Jahre, in die Zeit der Entwicklung des Kapitalismus im Land. Dies führte zu einer Übersättigung des Arbeitsmarktes durch solche Fachleute. Heute hat sich die Nachfrage augenscheinlich in Richtung anderer mangelnder Fachberufe – nach Ärzten, IT-Spezialisten und Ingenieure – ausgerichtet“, urteilen die Soziologen.

Das Rating der angesehenen Berufe führen heute nach Auffassung der Bürger Russlands gleich zwei Berufe an – Spezialisten auf dem Gebiet der Informationstechnologien und Ärzte (jeweils 32 Prozent). Diese zwei Gruppen von Berufen halten das zweite Jahr in Folge die Führungsrolle in der Liste der angesehenen. Ein signifikantes Ansteigen des Wertes für die IT-Spezialisten erfolgte in den Jahren 2021-2023, von 16 bis 31 Prozent. „Als die (COVID-) Pandemie eine Informatisierung bzw. Digitalisierung aller Bereiche der Gesellschaft befeuerte, haben die Menschen augenscheinlich die wichtige Rolle der Computer-Spezialisten zu schätzen gelernt. Das Ansehen des Arztberufs begann sich in der öffentlichen Meinung im Jahr 2018 zu verstärken (26 Prozent), das heißt bis zum Beginn der Pandemie. Früher hatte etwa jeder Zehnte den medizinischen Bereich als einen angesehen genannt“, erläutert das Allrussische Meinungsforschungszentrum VTsIOM.

 

 

An der zweiten Stelle in der Hierarchie des Ansehens der Berufe sind auch gleich zwei Arbeitsbereiche – Vertreter der Rechtsschutz-, Sicherheits- und bewaffneten Organe (inkl. Militärs, Polizei, Innen- und Katastrophenschutzministerium u. a.) sowie Facharbeiterberufe (jeweils 17 Prozent). Beide Gruppen von Berufen waren in den Antworten der Bürger Russlands seit dem vergangenen Jahr häufiger zu vernehmen (14 bis 19 Prozent). In den letzten Jahren hat sich in der russischen Gesellschaft das Ansehen noch eines Berufs verstärkt, der eines Pädagogen. Obgleich bei dieser Datenerfassung eine negative Dynamik fixiert wurde (2024 – 13 Prozent, 2023 – 16 Prozent, 2021 – 19 Prozent).