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Kasachstan hat sich für den Bau eines eigenen AKW entschieden


Am Sonntag, dem 6. Oktober fand in Kasachstan ein überaus wichtiges Plebiszit statt. Über zwölf Millionen Einwohner der Republik hatten die Möglichkeit, ihre Antwort auf die Frage „Sind Sie mit der Errichtung eines Kernkraftwerks in Kasachstan einverstanden?“ abzugeben. Laut vorläufigen Ergebnissen wurde das Referendum an sich ein Erfolg, da mindestens 50 Prozent der stimmberechtigten Bürger bereits bis 14 Uhr Ortszeit in die Wahllokale gekommen waren. Am Morgen des Montags meldete die Zentrale Wahlkommission die Zahl 63,66 Prozent für die Beteiligung am Plebiszit. 71,12 Prozent derjenigen, die an die Wahlurnen gekommen waren, stimmten für den AKW-Bau, 26,15 Prozent – dagegen, wurde in den Morgenstunden des Montags in Astana mitgeteilt. Freilich, offen bleibt nach wie vor, wer letztliche das Kraftwerk bauen wird.
Rund 29,1 Millionen Euro kostete umgerechnet das AKW-Referendum in Kasachstan, das am 6. Oktober stattfand. Vorausgegangen waren öffentliche Anhörungen, die etwa ein Jahr andauerten. Präsident Qassym-Schomart Tokajew hielt diese Zeitspanne für ausreichend, um letztliche eine finale Entscheidung herbeizuführen. Das kasachische Staatsoberhaupt hatte in seiner Jahresbotschaft am 2. September die Durchführung des gesamtnationalen Referendums angekündigt, wonach er dafür den nötigen Erlass unterzeichnete. Nach seinen Worten sei der Bau des AKW ein notwendiger Schritt für die Gewährleistung der Energiesicherheit des Landes unter den Bedingungen eines zunehmenden globalen Mangels. Tokajew unterstrich, dass die Kernenergetik eine zuverlässige und ökologisch saubere Energiequelle sei, die die Bedürfnisse der boomenden Wirtschaft befriedigen könne. Dabei betonte der Präsident auch, dass in 30 entwickelten Staaten und Entwicklungsländern ca. 200 Kernkraftwerke arbeiten würden.
In Kasachstan entfallen über 70 Prozent der Stromerzeugung gerade auf Kohlekraftwerke, von denen aber viele bereits ihre Ressourcen erschöpft haben. Die eigene Öl- und Gasförderung ist nicht in der Lage, deren Wegfall zu kompensieren. Und interessant ist gleichfalls, dass die zentralasiatische Republik weltweit die Nummer 1 hinsichtlich des Umfangs des geförderten Natururans ist. Iin diesem Zusammenhang betonte Tokajew: „Wir haben eine eigene Erzeugung von Kernbrennstoff-Komponenten. Daher schenke ich der Frage des Baus eines AKW auf dem Territorium unseres Landes besondere Aufmerksamkeit“.
Im Ergebnis des erfolgten Plebiszits wird das AKW mit einer Leistung von bis zu 2,8 Gigawatt im Bereich des Balchasch-Sees, unweit der Siedlung Ulken des Verwaltungskreises Schambyl des Verwaltungsgebietes Almaty gebaut werden. Für eine Kühlung soll Wasser des genannten Sees genutzt werden. Einige Experten hatten bei den Anhörungen auf folgenden Umstand hingewiesen: Wenn der Balchasch-See weiter versandet, sprich: Sein Pegel weiter fällt, könne das Wasser für das Kernkraftwerk nicht ausreichen. Auch andere Pros und Contras waren im Vorfeld des Referendums zu hören. Dies hatte selbst das Staatsoberhaupt eingestanden. „Es gibt unter den Bürgern jene, die dem Bau des AKW kritisch gegenüberstehen. Dies ist durchaus erklärbar. Viele erinnern sich gut der tragischen Folgen der Tests (von Kernwaffen in den Sowjetjahren) auf dem Kerntestgelände von Semipalatinsk. Auf diesen Aspekt wies gegenüber „NG Deutschland“ auch Kasbek Beisebajew, ein in Almaty lebender ehemaliger Diplomat und heutiger Aktivist des öffentlichen Lebens, hin. Nach seinen Worten würden die Semipalatinsker Kerntests vor allem unter der älteren Generation ungute Erinnerungen aufkommen lassen. Überdies gebe es auch andere komplizierte Momente, die zu berücksichtigen seien. Zum Beispiel die Kosten des Projekts und ökologische Aspekte. Auffällig sei gleichfalls, dass sich vor allem die Städter der Frage nach dem Bau eines AKW positiver gegenüber verhalten würden. Möglicherweise dadurch bedingt, dass sie in der letzten Zeit regelmäßig Stromabschaltungen wegen Energiemangels erleben mussten.
„Zweifellos ist dieses Referendum eine Reifeprüfung für die kasachische Gesellschaft. Und es gab da keinerlei Manipulationen zugunsten eines Ja oder Nein zum Bau des Kernkraftwerkes. Hier wurde einfach der Prozess weitaus wichtiger als das Ergebnis“, meinte der Zentralasien-Experte Serdar Aitakow gegenüber der „NG“.
In Kasachstan seien historisch antinuklearen Stimmungen stark, deren Höhepunkt Ende der 80er und zu Beginn der 90er beobachtet wurde und zu deren Quintessenz die gesellschaftliche Bewegung „Nevada – Semipalatinsk“ geworden war, die für die Stilllegung des Kerntestgelände gekämpft hatte, erinnert der Experte. „Diese Bewegung wurde beinahe zu einer nationalen Idee, zweifellos zu einer der Triebkräfte für die Zunahme des nationalen Selbstbewusstseins, was auch die einheimischen Politiker zu nutzen wussten, indem sie die antinuklearen Stimmungen in der Gesellschaft für ihre, rein politischen Ziele ausnutzten – für ein An-die-Macht-kommen, für das Halten dieser Macht, für ein Manipulieren der öffentlichen Meinung… Dabei wird vergessen: Das Wichtigste dieses ganzen Problems eben jenes Testgeländes von Semipalatinsk ist nicht die Einstellung der Kerntests als solche, die durch internationale Verträge der UdSSR und die Entwicklung digitaler Technologien eingeschränkt wurden, sondern der lange Prozess der Rehabilitierung der Territorien sowie die Wiedergutmachungen aufgrund der verlorenen Gesundheit und des Eigentums für die Bevölkerung, die real in diesen Gebieten in Mitleidenschaft gezogen worden war. Und dies im Rahmen eines gesamtnationalen Programms mit einer ständigen separaten und unantastbaren Zeile im Etat“, unterstrich der Experte. Was ist davon an real Wichtigem in den letzten Jahren getan worden? Erklingt dieses Problem in der kasachischen Gesellschaft so, wie es vor 35 Jahren zu vernehmen war? Oder haben alle, die auf der antinuklearen Welle jener Zeit an die Macht gelangen wollten, ihre Aufgaben erfüllt?
Der Experte lenkte das Augenmerk auf eine analoge Situation in Turkmenistan, wo man einfach das Existieren der „ökologischen Katastrophenzone des Aral-Sees“ vergessen hätte, mit der die Offiziellen für das Erzielen von Präferenzen aus dem Unionszentrum zu Zeiten der UdSSR spekuliert hatten. Heutzutage aber könne es in der Republik doch keinerlei „Unglück“ geben, obgleich sich die ökologische Situation weiterhin verschlechtere.
Faktisch hätte man in Kasachstan versucht, das Referendum nicht zu einem Plebiszit hinsichtlich des Wesens der Frage zu verwandeln, sondern in ein Durchdrücken der einen oder anderen geopolitischen Orientierung Kasachstans. Zumindest entsteht dieser Eindruck nach der Sonntag-Erklärung von Tokajew. Das kasachische Staatsoberhaupt sagte in seinem Wahllokal: „Die Regierung muss sich mit einer Analyse befassen, Gespräche führen. Aber meine persönliche Ansicht besteht darin, dass in Kasachstan ein internationales Konsortium von Unternehmen arbeiten muss, die über die modernsten Technologien verfügen. Nun, und weiter wird es das Leben zeigen, wie es heißt“. Damit ließ Kasachstans Präsident ein wenig die Katze aus dem Sack, denn vor dem 6. Oktober gab es nicht wenige Diskussionen darüber, wer das langfristige Projekt zur Errichtung des AKW realisieren wird. Der russische Staatskonzern ROSATOM galt und gilt als einer der Anwärter für die Durchführung der Bauarbeiten. Doch Astana hat auch den chinesischen Konzern CNNC, das südkoreanische Unternehmen KHNP und die französische EDF im Blick. ROSATOM allein wird also nicht das Rennen machen, zumal aus Moskau schon angedeutet wurde, dass man zu jeglichen Formaten für die Realisierung des Vorhabens bereit sei. In russischen Telegram-Kanälen erinnerte man daran, dass sich die Rhetorik Astanas in Bezug auf den möglichen Hauptauftragnehmer mehrfach geändert hätte. Der Kanal RYBAR schrieb beispielsweise, dass kasachische Blogger und Medien, die mit westlichen NGOs liiert seien, ihre Ablehnung gegen den AKW-Bau ausgebremst hätten, um sich auf den Aspekt zu konzentrieren, wie man ROSATOM ausbooten könne. Da wurde beispielsweise die China National Nuclear Corporation bei der Messe „KazAtomExpo“ massiv lobbyiert. Anlass dazu boten die Aussagen dessen Vertreters für Zentralasien und Osteuropa, Li Yudong, der gegenüber Journalisten erklärt hatte: Der Preis für einen Reaktorblock betrage 20 Milliarden Yuan und die Bauzeit – fünf Jahre. Verkauft wurde diese Nachricht unter den Überschriften „Billiger und schneller als ROSATOM“, wobei Nebenkosten und zusätzliche Bauarbeiten gar nicht erst ins Kalkül gezogen wurden.
Die Leidenschaften um die Frage nach dem Bauausführenden werden sich sicherlich noch weiter hochschaukeln. Für die Offiziellen Kasachstans ist dies aber heute zweitrangig. Der Bau des AKW im Verwaltungsgebiet Almaty ist nun erst einmal von der Bevölkerung gebilligt worden. Die Menschen haben mehrheitlich den Worten von Tokajew Vertrauen geschenkt, der vor dem Plebiszit erklärte: „Die Errichtung des Atomkraftwerks ist ein langfristiges Vorhaben. Es wird aber einen stabilen Fortschritt unseres Landes für Jahrzehnte voraus sichern, unsere Energiesouveränität stärken, der Entwicklung unterschiedlicher Bereiche von Wirtschaft, Wissenschaft und Bildung einen mächtigen Impuls vermitteln sowie die Gestaltung einer breiten Klasse von Ingenieuren und Spezialisten unterschiedlichsten Profils fördern. Derart ist das Gebot der Zeit“. Und das Positive der Errichtung des AKW – voraussichtlich bis zum Jahr 2035 und mit einem Kostenumfang von etwa 11,2 Milliarden Dollar — würden in vollem Maße „die heutige kasachische Jugend und die kommenden Generationen der Kasachstaner“ zu verspüren bekommen, erklärte Qassym-Schomart Tokajew.