Weißrussische Menschenrechtler haben die Untersuchung „Wie Menschen, die Foltern und einen brutalen Umgang erlebten, Gerechtigkeit wahrnehmen“ vorgelegt. Es hat sich jedoch herausgestellt, dass für viele Weißrussen „Gerechtigkeit“ als eine lebenslange Bestrafung für die Schuldigen aufgefasst wird. Und einige sind sogar nicht gegen eine Todesstrafe. Derweil hat Alexander Lukaschenko offensichtlich Kurs auf eine schrittweise Freilassung seiner Opponenten aus der Haft genommen. Erforderlich ist lediglich die Bitte über eine Begnadigung. Wie bekannt wurde, denkt selbst die bekannteste von ihnen – Maria Kolesnikowa – darüber nach. Experten sind der Auffassung, dass dieser Trend davon zeuge, dass für Lukaschenko eine Anerkennung der Präsidentschaftswahlen durch die Länder des Westens als legitime prinzipiell wichtig sei.
Das Menschenrechtszentrum „Wjasna“ und das Internationale Komitee für die Untersuchung von Folterungen haben die Untersuchung „Wie Menschen, die Foltern und einen brutalen Umgang erlebten, Gerechtigkeit wahrnehmen“ veröffentlicht. Sie befragten hunderte Menschen, die erklärt hatten, dass sie im Verlauf der Proteste des Jahres 2020 und in der nachfolgenden Zeit leiden mussten. Die Autoren der Befragung interessierte unter anderem, wie und entsprechend welchen Kriterien die Menschen bestraft werden sollten, die die Befragten dafür schuldig halten, was mit ihnen geschehen war.
56 Prozent sind der Annahme, dass man ihnen das Recht nehmen müsse, bestimmte Ämter zu bekleiden oder sich mit einer bestimmten Tätigkeit zu befassen. Für eine Gefängnisstrafe (inklusive einer lebenslangen) sprachen sich 47 Prozent aus. Wobei die Forscher betonen, dass im Vergleich zu den Werten des Jahres 2020 die Zahl derjenigen, die für maximal harte Maßnahmen plädieren, zugenommen habe.
Dabei hatten sich für eine „physische Bestrafung“ (bis hin zu einer Todesstrafe) neun Prozent der Befragten ausgesprochen. Allerdings bestehen dagegen 16 Prozent nicht auf einer strengen Bestrafung. Für sie sei lediglich eine Anerkennung konkreter Personen als schuldige wichtig.
Vor dem Hintergrund solcher Stimmungen unter den Emigrierten demonstrieren die weißrussischen Offiziellen in der letzten Zeit offenkundig, dass sie bereit seien, immer mehr Oppositionelle freizulassen. Unter der Bedingung einer Anerkennung der Schuld durch sie und einer Aufgabe oppositioneller Aktivitäten.
Zu einem signalsetzenden Ereignis wurde das Treffen einer der Führer der Protestbewegung des Jahres 2020, das von Maria Kolesnikowa, die sich in Haft befindet, mit ihrem Vater, das in der vergangenen Woche stattfand. Lange Zeit hatten die Nächsten erklärt, dass sie sie nicht nur besuchen könnten, sondern auch keine Informationen über den Gesundheitszustand der 42jährigen Politikerin hätten. Nach der Begegnung mit Maria erklärte ihr Vater, dass sie über einen Begnadigungsantrag nachdenke.
Es muss betont werden, dass im Zeitraum Juli-September dieses Jahres 115 Personen in Weißrussland begnadigt wurden, die entsprechend von Paragrafen im Zusammenhang mit einer Protesttätigkeit verurteilt worden waren. Danach, nach einer Pause von zwei Monaten, wurden am 7. November, zum Jahrestag der Oktoberrevolution, noch einmal 31 Personen begnadigt.
Dabei erklären Menschenrechtler, dass parallel die Verhaftung von Gegnern der Herrschenden fortgesetzt werden würden. So erklärte am Montag, dem 18. November das Zentrum „Wjasna“: „Innerhalb von nicht ganz zwei Wochen wurden vom 4. bis einschließlich 16. November im Rahmen von 91 politisch motivierten Strafsachen 113 Menschen verurteilt“.
Laut Angaben der Organisation war den Angeklagten unter anderem eine Beleidigung des Präsidenten und die Kränkung von Behördenvertretern sowie das Schüren sozialer Feindschaft und Landesverrat angelastet worden.
Das heißt, von einer Lockerung der Politik in Bezug auf die Opposition kann keine Rede sein. Demonstriert wird etwas anderes – die Bereitschaft, jene zu begnadigen, die den Kampf gegen den amtierenden Präsidenten und die Tätigkeit, die auf eine Zerstörung des sich in Weißrussland herausgebildeten Systems ausgerichtet ist, aufgegeben haben.
Unter Berücksichtigung dessen, dass, wie die Mitstreiter von Maria Kolesnikowa behaupteten, sie sich demonstrativ geweigert hätte, im Jahr 2020 Belarus zu verlassen, indem sie an der Grenze ihren Pass zerriss, und faktisch bewusst die Inhaftierung als eine Form von Protest gewählt habe, würde ihr Begnadigungsgesuch zu einem ernsthaften politischen Sieg der amtierenden Herrschenden werden.
Der politische Analytiker Valerij Karbalewitsch erläuterte auf einer der oppositionellen Internet-Ressourcen die Strategie des amtierenden Präsidenten so: „Im Verständnis von Lukaschenko muss sich der Westen damit abfinden, was sich im Jahr 2020 ereignet hatte, und die Seite (in den Beziehungen – Anmerkung der Redaktion) umblättern sowie die neue Realität anerkennen. Aus diesem Grund sendet der Herrscher dem Westen solche kleinen Signale, indem er eine geringe Anzahl politischer Gefangener freilässt und versucht, den Boden (für Kontakte – Anmerkung der Redaktion) zu ertasten, die Bereitschaft der anderen Seite zu Verhandlungen zu sondieren sowie die Reaktion der EU und der USA auszutesten. Der Westen begrüßte die Freilassung eines Teils der politischen Gefangenen, rief aber auf, die Repressalien einzustellen und alle politischen Häftlinge freizulassen. Diesbezüglich ist aber alles auch ins Stocken geraten. Bisher ist es schwierig, Prognosen für irgendeine Perspektive anzustellen, da es zu viele unbekannte Parameter gibt“.
Vor dem Hintergrund derartiger Signale für den Westen wird Alexander Lukaschenko nicht müde, die Unveränderlichkeit des Kurses auf eine Einheit mit Russland zu unterstreichen. Dabei unterstreicht er aber auch konsequent, dass er bestrebt sei, die staatliche Unabhängigkeit von Belarus zu bewahren.
Am vergangenen Montag unterstrich der Präsident bei einem Treffen mit dem Gouverneur des russischen Verwaltungsgebietes Smolensk, Wassilij Anochin, erneut: „Es gibt zwei Staaten, es gibt ein gemeinsames Vaterland. Russlands Bürger haben dagegen keinen Einwand. Es erstreckt sich von Brest bis nach Wladiwostok. Dies ist unser Vaterland. Damit ist alles gesagt. Es hat sich aber so ergeben, nicht durch unser Verschulden, dass wir zwei Staaten haben – Belarus und Russland“. Und er teilte dem Gesprächspartner eine wichtige Information mit: „Ich habe nicht ein einziges Mal vom Präsidenten Russlands gehört, dass er sagte: „Höre einmal her, morgen müssen wir unbedingt in einem Staat leben!“. Es hatte nie so etwas gegeben. Dafür besteht keinerlei Notwendigkeit“.
Dabei erteilte Lukaschenko gewissen Vertretern Russland eine scharfe Abfuhr, die ihn kritisieren, darunter aufgrund der Begnadigungsakte. „Wer immer auch dort in Russland herummault, ich sage es auch schon: „Ja, dieser Lukaschenko und der Mehrvektoren-Charakter… Erneut hat er diese politischen Gefangenen, mehrere Dutzend, freigelassen. Dies bedeutet, dass er schon für den Westen ist…“. Nun hören Sie einmal, dass ist solch ein primitives Denken, dass es schon nicht schlimmer werden kann. Und wir sehen und hören dies“, betonte das Oberhaupt von Belarus. „Ja, wir haben ein Land. Unsere außenpolitische Hauptmessage und unser Bestreben sind: Mit den Nachbarn muss man in Frieden leben. Sie sind von Gottes Gnaden“.
Weißrussische Oppositionelle bitten um Begnadigung
13:38 22.11.2024