Die Proteste in Weißrussland dauern an. Ihre Intensität hat jedoch etwas nachgelassen. Die Protestierenden beginnen, an der Effektivität friedlicher Aktionen zu zweifeln, da die Herrschenden sie kategorisch ignorieren und nicht erhört und weiter auf Gewalt setzt. Um „den Sieg nicht zu verlieren“, haben die Opponenten Lukaschenkos einen Koordinierungsrat gebildet.
Der Koordinierungsrat ist auf Vorschlag der Präsidentschaftskandidaten Swetlana Tichanowskaja gebildet worden. Wie sie in ihrem Videoappell betonte, sei das Ziel des Rates ein Machttransfer. Tichanowskaja hatte Vertreter von Belegschaften, Parteien, Gewerkschaften sowie Organisationen der Zivilgesellschaft aufgerufen, dem Rat beizutreten und die internationale Staatengemeinschaft und die europäischen Länder gebeten, bei der Organisierung eines Dialogs mit den weißrussischen Offiziellen zu helfen. Die Bedingungen des Dialogs sind: alle Festgenommenen freizulassen, die Polizeispezialkräfte OMON und die Truppen von den Straßen zu entfernen sowie Strafverfahren gegen jene einzuleiten, die die Befehle erteilt hätten, Menschen zu schlagen und auf sie zu schießen.
Zum Rat, dessen Zusammensetzung die vertraute Person von Swetlana Tichanowskaja, Olga Kowalkowa, veröffentlichte, gehören die Literatur-Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch, Maria Kolesnikowa, Aktivistin der diesjährigen Präsidentschaftswahlkampagne und Vertreterin des Stabs von Viktor Babariko, der ehemalige politische Häftling und bekannte Menschenrechtler Ales Beljazkij, Juristen, Wirtschaftsexperten, Vertreter aus Kunst und Kultur sowie mehrere Oppositionspolitiker. Der Rat wird noch durch Vertreter aus Betrieben, die jetzt erst in die Arena der Protestaktivitäten kommen, erweitert werden.
Allein die Tatsache der Bildung des Rates bewertet die Öffentlichkeit positiv, doch beginnt sie bereits, an der Effektivität der friedlichen Aktionen zu zweifeln, da nach den schweren Auseinandersetzungen im Verlauf einer Woche mit Hunderten von Verletzten und drei offiziell bestätigten Menschenopfern die Herrschenden nicht aufgegeben haben. Die Tatsache, dass zu friedlichen Kundgebungen gegen Präsident Alexander Lukaschenko hunderttausende Menschen im ganzen Land gekommen waren (allein in Minsk waren über 200.000 Protestierende zusammengekommen), hat die Offiziellen in keiner Weise beeindruckt. „Die Herrschenden hören uns nicht und wollen nicht mit uns reden. Dies zeigten sowohl die COVID-Situation als auch die Ereignisse der vergangenen Woche“, bewertete Maria Kolesnikowa die Situation bei einem Treffen mit zu einer Protestaktion gekommenen Medizinern. Dennoch rief sie auf, den Widerstand ausschließlich mit friedlichen und legitimen Methoden fortzusetzen. Sie teilte unter anderem mit, dass in der Generalstaatsanwaltschaft zwei Anträge auf die Einleitung von Strafverfahren hinsichtlich der Fakten des Todes von zwei Menschen während der Proteste und der Gewalt gegen friedliche Bürger eingereicht worden seien. Sie setzt Hoffnungen sowohl in den zu etablierenden Koordinierungsrat als auch in die Streikbewegung, die seit Montag im Land entstanden ist.
Am Dienstag dauerten die Streikaktionen an. Jedoch gab es schon nicht mehr jenen Drive und Enthusiasmus, die am Montag zu spüren waren. Es stellte sich beispielsweise heraus, dass der Erdölverarbeitungsbetrieb „Naphtan“ bisher nur Forderungen gegenüber den Behörden gestellt hatte und zehn Tage für deren Umsetzung gibt. Nicht gestreikt haben am Dienstag das Minsker Automobilwerk (MAW), das Minsker Traktorenwerk (MTW) und das Minsker Werk für Sattelschlepper (MWS). Wie berichtet wird, hat die Betriebsleitung des MAW die Beschäftigten nicht vom Betriebsgelände gelassen. Im MTW schreibt man Anträge und beabsichtigt, in unbezahlten Urlaub zu gehen. Das MWS sammelt Unterschriften unter einem kollektiven Appell an die Regierenden. Die Arbeitnehmer des Minsker Zahnradwerkes hat man ebenfalls nicht vom Betriebsgelände gelassen und ihnen auch keinen unbezahlten Urlaub erlaubt. Auf eine Protestaktion und keinen Streik beschränkten sich gleichfalls die Beschäftigten des „Atlant“-Kühlschrankwerkes. Und über einen Streik ab dem 20. August denkt auch die Erdölraffinerie von Mosyr nach.
Mit der Vorbereitung auf einen Streik befasste man sich bei „Belaruskali“. Dort bildete man bereits ein Streikkomitee und bestimmte dessen Leitung als Hauptverhandlungsführer mit den Behörden (der Streik an sich sollte am 19. August beginnen). In Grodno erklärten 22 Unternehmen ihren Beitritt zur Streikbewegung. Die Forderungen bei allen sind ein und dieselben: ein Rücktritt Lukaschenkos und die Abhaltung neuer Wahlen, ein Beenden der Gewalt seitens der Vertreter der bewaffneten Organe sowie die Freilassung aller bei den friedlichen Aktionen Festgenommenen.
In allen Städten und in allen Betrieben versuchen die Leitungen und städtischen Behörden, auf die Arbeitnehmer Druck auszuüben und sie zu veranlassen, an die Arbeitsplätze zurückzukehren. Das Nachlassen der Intensität der Streikbewegung hängt in erster Linie damit zusammen. Vereinzelt haben die Behörden „punktuell“ mit den Arbeitnehmern gearbeitet. Und es hatte auch nicht die Zusage einheimischer Geschäftsleute geholfen, materielle Unterstützung für die Zeit des Stillstands z gewähren. Übrigens, für den Fonds zur Hilfe für die Arbeiter sind bereits umgerechnet mehr als eine Million US-Dollar gesammelt worden, was in der Perspektive deren Entscheidung beeinflussen kann. Gebildet wurde ein Nationales Streikkomitee, das die gesamte Streikbewegung koordiniert.
Fortgesetzt wurde der Streik in der Weißrussischen Funk- und Fernsehgesellschaft. In der Redaktion der staatlichen Zeitung „Zvyazda“ weigerte man sich, Unwahrheiten zu schreiben. 20 Mitarbeiter des staatlichen weißrussischen Rundfunks streikten. Die Kündigung reichte die gesamte Truppe des Janka-Kupala-Theaters aus Protest gegen die Entlassung ihres Direktors Pawel Latuschko ein. Der hatte es sich erlaubt, offen die Gewalt und unfreien Wahlen zu verurteilen.
Zu Aktivitäten hatte der Stab von Swetlana Tichanowskaja auch andere Kollektive und Städte aufgerufen. „Die nächsten Tage sind sehr wichtig, um nicht unseren Sieg zu verlieren. Alexander Lukaschenko muss sofort abtreten, damit wir die Arbeit der Unternehmen und des Business wiederherstellen können. Jede Stunde, jeder Tag, jede Woche der Bewahrung der Macht in den Händen des einstigen Präsidenten fügt den Betrieben und dem Wohlstand der Menschen einen riesigen Schaden zu. Wir müssen jetzt alles tun, damit er nicht die Wirtschaft des Landes zerstört“, schrieb Olga Kowalkowa auf ihrer Seite in einem der sozialen Netzwerke.
Bei der Beurteilung der Situation konstatieren Experten, dass Alexander Lukaschenko das Vertrauen des Volkes verloren habe, was auch das ihm am Montag direkt von Arbeitern ins Gesicht gesagte „Verschwinde!“ belege, als er das Minsker Werk für Sattelschlepper besuchte. Im Arsenal von Lukaschenko seien nur gewaltsame Methoden. Ja, und die würden schwach wirken. Nach der Erschießung von Protestierenden, deren Verprügelungen und Folterungen seien um ein Mehrfaches mehr an Menschen auf die Straßen gekommen. „Lukaschenko scheint nicht zu beabsichtigen, das Amt niederzulegen. Es ist aber auch nicht real, dass der Protest verhallt und er mit einem Unterstützungsrating von zehn Prozent Präsident sein kann. Man kann auf den Thron auf Bajonetten kommen, doch auf Bajonetten zu sitzen ist unbequem. Derzeit halten sich die Herrschenden nur dank der Unterstützung der Vertreter der bewaffneten Organe. Die sind aber auch ein Teil des Volkes. Alle leben nebenan und sehen, was sich ereignet“, betont Lew Lwowskij, wissenschaftlicher Oberassistent des Zentrums für Wirtschaftsforschungen BEROC. Der Experte lenkt das Augenmerk darauf, dass die Sturheit der Offiziellen und deren Unwille, sich auf einen Dialog einzulassen, das Land „in einen wahren Wirtschaftskollaps“ stürzen könne.
Erste Verluste gibt es bereits. In der vergangenen Woche brachen an der Moskauer Börse die weißrussischen Eurobonds um beinahe vier Prozent ein, an der Frankfurt — um drei Prozent. Pläne zur Verlegung ihrer Mitarbeiter in andere Länder konzipieren IT-Firmen, vor kurzem noch der Stolz und die Hoffnung der Herrschenden. Die Lage im Land fördert keinen Zustrom von Investitionen. Eine Arbeitsunterbrechung der führenden Exportunternehmen wie „Belaruskali“, „Naphtan“ und der Erdölraffinerie von Mosyr kann den Export und die Wirtschaft vollkommen ruinieren. Alexander Lukaschenko werde es nur für kurze Zeit gelingen, sich an der Macht zu halten. Seine Sturheit in dem Unwillen, sich von ihr zu trennen, und eine lange Konfrontation in der Gesellschaft könnten Weißrussland sehr teuer zu stehen kommen, konstatieren Experten. Bestätigt wurden solche Befürchtungen auch durch Lukaschenkos Berater Valerij Belskij hinsichtlich des Finanz- und Kreditsystems. So erklärte der am Mittwoch, dass der Verlust durch die Protestaktionen bereits umgerechnet eine halbe Milliarde US-Dollar ausmachen würde. Und sollte es zu einem Ausstieg Weißrusslands aus dem Unionsstaat mit Russland kommen, werde Weißrussland ein Viertel des Bruttoinlandproduktes verlieren, ergänzte der Experte.
Am Dienstag tagte Lukaschenko mit dem Sicherheitsrat des Landes. Auf der Sitzung kommentierte er die Bildung des Koordinierungsrates und drohte dessen Beteiligten. „Sie schieben uns eine andere Seite unter und verlangen, nicht mehr und nicht weniger als ihnen die Macht zu übergeben. Das bedeutet, wir bewerten dies eindeutig. Dies ist der Versucht einer Machtergreifung mit allen sich daraus ergebenden Folgen“, erklärte Alexander Lukaschenko. Er warnte diejenigen, die zum Rat gehören, dass er „adäquate Maßnahmen ergreifen“ werde. „Wir haben genug an diesen Maßnahmen, um einige Hitzköpfe abzukühlen“, erinnerte er erneut. Ja, und am Mittwoch meinte er, dass für diejenigen, die mit dem Koordinierungsrat bereits Ämter aufzuteilen bestrebt seien, genug Besen und Schaufeln da seien, denn im Land gebe es keine solche Anzahl von Ämtern wie Leute, die bereits in der Warteschlange für diese stehen würden.Die Ereignisse in Weißrussland verfolgen weiterhin aufmerksam auch Autoren russischer gesellschaftspolitischer Telegram-Kanäle. „Meister“ (https://t.me/maester) lenkt die Aufmerksamkeit auf die Behauptungen einiger Kommentatoren, wonach die weißrussischen Ereignisse ökonomische Wurzeln hätten: „Wenn die Wirtschaft in einer Stagnation ist oder degradiert, wenn die Einkommen zurückgehen, dann beginnen die Menschen auch, sich umzuschauen“. „Die Verbreitung dieses Irrtums hindert ihn nicht daran, ein Irrtum zu sein. Beide ukrainischen Maidane ereigneten sich vor dem Hintergrund eines Wirtschaftswachstums“, schreiben die Autoren vom Kanal „Meister. Der Telegram-Kanal „Kesselhaus“ (https://t.me/politadequate) ist der Annahme, dass Minsk für Westeuropa nicht sehr interessant sei. „Real haben ab den ersten Tagen nur Polen und Litauen die weißrussischen Angelegenheiten verstanden. Die Stille seitens des Westens in Bezug auf die Willkür der Vertreter der bewaffneten Organe in Minsk hing damit zusammen, dass alle dort Weißrussland als einen Satelliten Russlands wahrnehmen und keine heftigen Bewegungen unternahmen, um keinen neuen Konflikt mit Russland zu provozieren“.