Die armenische Opposition hat einen neuen Anlass für Kritik an der Regierung von Nikol Paschinjan gefunden – der in Aserbaidschan begonnene Prozess gegen frühere Spitzenvertreter der selbstausgerufenen Republik Bergkarabach. Die Gegner Paschinjans erklären, dass es lächerlich sei, unter solchen Bedingungen die Verhandlungen mit Baku fortzusetzen. Der Premier unterstütze aber die Handlungen des Nachbarlandes, da er nicht wolle, dass die Bergkarabach-Führung in Jerewan auftauche. In Baku wurde am 21. Januar die offene Voranhörung des zuständigen Gerichts im Fall der Spitzenvertreter von Bergkarabach fortgesetzt, die am vergangenen Freitag begonnen hatte. Auf der Anklagebank sitzen 15 Männer, unter ihnen Präsidenten, Mitglieder der Regierung und des Parlaments der selbstausgerufenen Republik, sowie Generäle: Arkadij Gukasjan, Arajik Arutjunjan und Bako Saakjan, David Ichchanjan, David Babajan, LevonMnazakanjan, David Manukjan, Garik Martirosjan, Melikset Paschajan, David Allachverdijan, Gurgen Stepanjan, Levon Balajan, Madat Babajan, Wassilij Beglarjan und Erik Gasarjan. Ihnen lastet man einen Völkermord, das Planen und die Führung eines aggressiven Kriegs, Folterungen, Morde und andere Verbrechen an. Den Fall des einstigen Staatsministers der Republik Bergkarabach, Ruben Vardanjan, wird gesondert behandelt. Die wird am 27. Januar fortgesetzt. Im Unterschied zu den Kollegen wirft man Vardanjan keinen Genozid vor. Aber die Vorwürfe hinsichtlich des Schürens eines Krieges und anderer schwerer Straftaten bleiben. Im Ergebnis dessen droht ihnen eine lebenslange Haft. „Wahrscheinlich werden sie maximale Strafen erhalten. Es wird keinerlei Nachsicht geben. Zur gleichen Zeit gibt es in Aserbaidschan keine Todesstrafe. Was die Gerüchte angeht, wonach nach dem Urteilsspruch Vardanjan und die anderen nach Armenien überstellt werden, um dort ihre Strafen zu verbüßen, kann nichts ausgeschlossen werden. Bisher ist es aber verfrüht, darüber zu sprechen. Sofort nach Beendigung der Prozesse werden sie sicherlich in ein aserbaidschanisches Gefängnis gebracht. Es gibt keinerlei Anzeichen dafür, dass irgendwelche Verhandlungen über ihre Zukunft geführt werden. Überdies, wenn man versucht, auf Baku einen äußeren Druck auszuüben, wird die aserbaidschanische Gesellschaft sehr negativ reagieren“, erklärte der Politologe Ilgar Velisade gegenüber der „NG“. Nach Aussagen des Experten wird in Aserbaidschan diese gerichtliche Untersuchung als eine historische angesehen. Die Einwohner des Landes warten nicht einfach auf eine Bestrafung für einzelne Politiker und Militär. Sie wollen erfahren, wie die selbstproklamierte Republik funktionierte, was jeder der Angeklagten darstellte, wer Geld, Waffen usw. gegeben hatte. Der einstige Menschenrechtsbeauftragte in Bergkarabach, Artak Beglarjan, ist der Auffassung, dass man das Geschehen in Aserbaidschan nicht als Rechtsprechung ansehen könne. Die Offiziellen Armeniens würden aber keine derartigen Erklärungen abgeben, da sie entschieden hätten, dem Nachbarn hinsichtlich keinerlei Frage die Stirn zu bieten. „Das Absurde besteht darin, dass man unter diesen Bedingungen nach wie vor von einem Frieden spricht“, sagte Beglarjan. Seinerseits erklärte der Sohn des zweiten Präsidenten von Armenien, der Abgeordnete Levon Kotscharjan, dass der Staat überall die Welt an das Schicksal seiner Landsleute erinnern müsse. Dabei bezweifelt er, dass die Regierung Paschinjans fähig, mit dieser Aufgabe wie auch insgesamt mit den Friedensverhandlungen mit Aserbaidschan fertig zu werden. Der Abgeordnete von der Parlamentsfraktion „Ich habe die Ehre“, Tigran Abramjan, warnte, dass der Gerichtsprozess dazu führen könne, dass Baku neue Forderungen gegenüber Jerewan im Rahmen der Beilegung des armenisch-aserbaidschanischen Konflikts stellen werde. Als Beispiel führte er die in Baku veröffentlichten Informationen an, wonach den Befehl, friedliche Einwohner in Aserbaidschan in der Zeit des Krieges von 2020 zu beschießen, nicht der einstige Präsident von Bergkarabach Arutjunjan, sondern Paschinjan erteilt hätte. „Speziell für die spät begreifenden oder sich als ein bekanntes Tier ansehenden: Unter den segensreichen Bedingungen, die von den Offiziellen geschaffen worden sind, wird Aserbaidschan versuchen, von Armenien ein Maximum loszureißen, indem es uns der Eigenständigkeit und Lebensfähigkeit beraubt“, unterstrich Abramjan. Derweil hat Rustam Bakojan, der stellvertretende Vorsitzende der ständigen Kommission für den Schutz der Menschenrechte im Parlament Armeniens und Mitglied der regierenden Partei „Zivilvertrag“, „massenhafte Verletzungen der grundlegenden Menschenrechte“ in Bezug auf die in Aserbaidschan angeklagten Armenier konstatiert. „Die Tatsachen belegen, dass die Diskriminierung, die gegen Vertreter der armenischen Nation erfolgt, durch deren nationale Zugehörigkeit bedingt wird“, teilte der Menschenrechtler mit. Sein Kollege Vaagn Alexanjan erläuterte, dass man in der Partei dieses Thema speziell nicht diskutiert hätte. Aber alle Mitglieder hätten auch solch eine Meinung. „Wenn Sie denken, dass man zum Trost ein, zwei drastische Worte sagen müsste, was einer Rückkehr unserer Gefangenen helfen könnte, so irren Sie sich. Ein zusätzliches Bekanntmachen und Publizität stören nur diesen Prozess. Ich versichere: Die Regierung Armeniens hat nicht eine Sekunde die Arbeit in dieser Richtung ausgesetzt und wird dies nicht tun“, sagte Alexanjan. Allerdings glaubt der politische Analytiker Tigran Kotscharjan den Vertretern der Partei „Zivilvertrag“ nicht. „Die Position der armenischen Offiziellen ist eine maximal entfernte. Es besteht solch ein Eindruck, dass man gegen Menschen einen Prozess führt, die in keiner Weise mit Armenien und dessen Geschichte im Verlauf der letzten 30 Jahre verbunden waren. Paschinjan zieht es unter anderem vor, nicht zu diesem Thema zu sprechen und überhaupt nicht die politischen und militärischen Spitzenvertreter von Bergkarabach zu erwähnen. Möglicherweise liegt die Ursache darin, dass jeder der Angeklagten die Bergkarabach-Armenien anführen kann, wenn er sich in Jerewan erweist, und zu einem mächtigen Reizfaktor für die Herrschenden werden kann. Für Paschinjan wäre es gut, wenn diese Menschen nie nach Armenien zurückkehren würden“, sagte Kotscharjan.
Paschinjan will sich Konkurrenten entledigen
18:37 23.01.2025