Eine aktuelle Umfrage, die von der US-amerikanischen Anti-Defamation League (ADL, deutsch: Anti-Diffamierungs-Liga, eine Organisation mit Sitz in New York City, die gegen Diskriminierung und Diffamierung von Juden eintritt).durchgeführt wurde, hat gezeigt, dass fast die Hälfte aller erwachsenen Menschen in der Welt in der eine oder anderen Weise antisemitische Anschauungen teilen. Diese besorgniserregende Feststellung unterstreicht die Notwendigkeit einer tiefgründigen Analyse des Antisemitismus, dessen Ursachen und Erscheinungen, besonders angesichts der jüngsten Ereignisse, solcher wie die Attacke der HAMAS gegen Israel am 7. Oktober 2023. Laut der von der ADL durchgeführten Umfrage unter 58.000 Befragten in 103 Ländern unterstützen 46 Prozent der Befragten die meisten antisemitischen Stereotypen, solche wie „die Juden haben zu viel Macht im Business“ und „Loyalität empfinden sie nur gegenüber Israel, aber nicht gegenüber dem Land ihres ständigen Aufenthalts“. Das höchste Niveau an Antisemitismus wurde im Nahen Osten und in Nordafrika fixiert, das heißt in den arabischen Ländern, wo rund 75 Prozent der Befragten den antisemitischen Aussagen zustimmen. Zur gleichen Zeit hat sich Russland laut den Untersuchungsangaben als antisemitischstes Land in Europa erwiesen: 62 Prozent der befragten Bürger Russlands teilen derartige Anschauungen. Bei einer tiefgründigeren Analyse der Situation wird aber offensichtlich, dass solch eine Position nicht nur eine einseitige ist, sondern auch täuscht. Erstens werden wir nicht vergessen, dass die Befragungen für das ADL-Rating ausländische Meinungsforschungszentren durchgeführt haben. Ich möchte ungern behaupten, dass die Ergebnisse ihrer Untersuchungen vorsätzlich für die Unterstützung des generellen Trends zur Dämonisierung Russlands und der russischen Gesellschaft verzerrt worden sind. Zweitens ist es wichtig, sich den Kontext anzuschauen, in dem antisemitische Stimmungen auftreten, und sie mit der realen Situation in Russland und im Westen zu vergleichen. In erster Linie macht es Sinn zu betonen, dass im heutigen Westeuropa und besonders in den USA die antisemitischen Stimmungen die Form von Antizionismus annehmen. Die Ereignisse, die sich am 7. Oktober 2023 abspielten, als die HAMAS Israel angriff und die israelischen Verteidigungsstreitkräfte als Antwort eine Operation im Gaza-Sektor begannen, wurden zu einem Anlass für ein Aufflammen antisemitischer Stimmungen. Jüdische Studenten werden Verfolgungen ausgesetzt, und unbegründete Angriffe auf Israel werden zu einer Norm. Programme für einen Kulturaustausch mit Israel werden gecancelt, und jüdische Gemeinden werden mit Vandalismus und anderen Bedrohungen konfrontiert. Diese Erscheinung stellt zweifellos eine ernsthafte Gefahr für die jüdische Bevölkerung dieser Länder dar. In Russland sieht die Situation aber anders aus. Ja, antisemitische Stereotypen und Vorurteile sind wirklich recht verbreitet. Dies kann man aber mit dem Erbe aus den Sowjetzeiten erklären, als die Erziehung von Toleranz und Freundschaft der Völker keine Priorität gewesen war und die Holocaust-Tragödie auf jegliche Weise verschwiegen wurde. In den letzten Jahren ist vieles für eine Verbesserung der Situation getan worden. Dies ist jedoch offensichtlich unzureichend. In den sozialen Netzwerken, in einer Reihe von Massenmedien und in den Regalen von Bücherläden gibt es mehr als genug „Content“, der von allerlei möglichen Verschwörungstheorien – darunter mit einem antisemitischen Flair – geprägt wird. Dagegen wird gekämpft, aber wahrscheinlich unzureichend aktiv. Derweil belegen die soziologischen Untersuchungen zum Thema Antisemitismus in Russland, die in den Jahren 2018 und 2020 durchgeführt wurden, dass sich der Grad des Antisemitismus in unserem Land ständig verringert. Ja, antisemitische Vorteile sind verbreitet. Aber im Unterschied zum Westen offenbaren sie sich nicht im praktischen Bereich. In den meisten Fällen werden die Juden als gewisse abstrakte Wesen wahrgenommen, über die man in den Massenmedien berichtet. Die einfachen Menschen aber treffen sie selten im Alltagsleben. Es gibt da aber noch ein wichtiges Detail, das den Wert für Russland im ADL-Rating beeinflusste. Auf der Internetseite der Organisation ist ausgewiesen worden, dass die Methodik für die Erstellung des Ratings nicht nur auf soziologischen Umfragen in Bezug auf negative Stereotypen hinsichtlich der Juden, sondern auch auf der Anzahl und der Dimensionen antisemitischer Zwischenfälle beruhe. Das Jahr 2024 wurde durch den Überfall von Terroristen auf die Synagoge von Derbent geprägt, in dessen Ergebnis sie niederbrannte und Wachpersonal umgebracht wurde. Und im Jahr 2023 war der Versuch unternommen worden, gegen Passagiere eines Flugzeugs vorzugehen, das aus Tel Aviv kommend in Machatschkala gelandet war. Ja, vor dem Geschehenen darf man nicht die Augen verschließen, jedoch darf man nicht vergessen, dass man im November vergangenen Jahres in Amsterdam versucht hatte, einen nicht weniger schrecklichen Pogrom zu veranstalten, als eine wahre Jagd auf Israelis begann, die gekommen waren, um als Schlachtenbummler ihre Fußballmannschaft zu unterstützen. Man muss im Blick haben, dass in Russland Erscheinungen eines „praktischen Antisemitismus“ punktuell in einzelnen Gebieten der Nordkaukasus-Region lokalisiert werden können, wo sich wahrscheinlich ein erheblicher Teil der Bevölkerung unter dem Einfluss von Ideen befand, die von radikalen Islamisten verbreitet werden. Es ist wichtig zu begreifen, dass sich in Russland die jüdische Bevölkerung in den größten Städten konzentriert (rund die Hälfte lebt in Moskau und Petersburg). Und die meisten einfachen Menschen, die in der Provinz leben, haben keine Möglichkeit, mit ihnen persönlich zu kommunizieren. Sie beziehen die Informationen vor allem aus den sozialen Netzwerken, wo nach wie vor Vorurteile der 1990er Jahre über „jüdische Oligarchen“ verbreitet werden, die schon längst ihre Aktualität verloren haben. Es genügt, sich vor den Fernsehen zu setzen, um in humoristischen Shows beispielsweise solche Perlen zu hören: „Von der Wolga bis zum Jenissej regiert alles das Volk von Moses“, „Personen aus der High Society haben vor allem jüdische Vatersnamen“ usw. All dies erlaubt dem Antisemitismus nicht, auf das Niveau von Unbedeutendem abzurutschen, wo er sich auch befinden muss – ausgehend von der Gesamtzahl der Juden in Russland und ihrer Rolle in allen Lebensbereichen des Landes. Obwohl in Russland wirklich antisemitische Vorurteile existieren, muss man durch Aufklärung und Erziehung zur Toleranz dagegen vorgehen. Zur gleichen Zeit stellt der Antisemitismus im Westen, besonders in der Form von Antizionismus, eine ernsthafte Bedrohung für die jüdischen Gemeinden dar. Und dies darf man nicht ignorieren. Wichtig ist, einen offenen Dialog zu führen und für eine Überwindung der Vorurteile zu arbeiten, um eine sichere und tolerantere Gesellschaft für alle zu schaffen.
Antisemitismus in Russland und in der Welt
19:45 23.01.2025