Laut einer Statistik des Obersten Gerichts der Russischen Föderation, erklären die Geschworenen weiterhin jeden vierten Angeklagten für unschuldig. Der Umfang der von ihnen behandelten Fälle demonstriert, dass dieses Institut der Rechtsprechung gefragt ist. Man müsse aber seine Kompetenz erweitern, meinen die Experten der „NG“. Sie verwiesen auch auf die Zunahme einer gefährlichen Tendenz: Die Auftritte der Verteidiger werden unterbrochen, wenn jene ihre Version der jeweiligen Straftat darlegen. Laut Angaben des Gerichtsdepartments beim Obersten Gericht der Russischen Föderation sind in der ersten Hälfte des vergangenen Jahres durch Geschworene 944 Strafsachen behandelt worden. 78 von ihnen wiederholt, was die Bewahrung eines hohen Grades der Annullierung von Freisprüchen der „Richter aus dem Volke“ bestätigt. Wie der „NG“ der Berater der Föderalen Anwaltskammer der Russischen Föderation, Sergej Nassonow, sagte, könne angenommen werden, dass im gesamten Jahr 2024 die Geschworenen rund 2.000 Strafsachen behandelten (die endgültige Statistik wird voraussichtlich erst im Frühjahr vorgelegt – Anmerkung der Redaktion). Nach seinen Worten werde nach den Reformen des Jahres 2016 im Durchschnitt solch eine Anzahl auch alljährlich durch die Geschworenen behandelt. Jedoch müsse man diese Stabilität, wie er meint, auf zweierlei Weise auslegen. Einerseits belege sie, dass die Probleme organisatorischer und prozessualer Art, beispielsweise die geringe Anzahl von Kandidaten für die Arbeit als Geschworene, das Institut zu keinem „Kollaps“ führen und sie doch gelöst würden, wobei keine Hindernisse „für die Klärung von Fällen in diesem Format der Rechtsprechung“ geschaffen werden. Andererseits würde aber diese Stabilität zu behaupten erlauben, dass es Faktoren gibt, die eine „einfrierende Wirkung“ für eine wesentliche Zunahme der Zahl von Fällen, die durch Geschworene behandelt werden, ausüben. Und zu solchen könne man, erläuterte Nassonow, beispielsweise nicht so sehr die Schwierigkeiten bei der Formierung von Geschworenen-Kollegien als vielmehr die Widersprüchlichkeit der Praxis hinsichtlich der Mittel der Verteidigung, die in einem Prozess mit Geschworenen zulässig sind, rechnen. In diesem Zusammenhang sind natürlich die Daten darüber interessant, dass aufgrund eines tendenziösen Charakters die Kollegien für nur ganze drei Fälle aufgelöst wurden. Dabei sind die Kriterien für einen tendenziösen Charakter in den Gesetzen nicht klar ausgewiesen worden. Sie haben sich auch nicht im Verlauf der Rechtsanwendung herausgebildet. Dafür aber hat sich im vergangenen Jahr solch eine recht gefährliche Tendenz herauszubilden begonnen, in der Richter Auftritte von Verteidigern in den Diskussionen abbrechen, wenn sie Hypothesen darüber äußern, wie sich Ereignisse in Wirklichkeit ereignet hätten. Alexej Asarow, Anwalt und Leiter für Strafrechtspraxis des Anwaltsbüros „Borodin & Partner“, ist der Annahme, dass die Statistik das erhöhte Interesse für eine Rechtsprechung unter Beteiligung von Geschworenen bestätige. Denn im Jahr 2024 waren beispielsweise unter den Angeklagten 447 Verurteilte (75 Prozent) bei 149 Freigesprochenen bzw. für unschuldig erklärte Angeklagte (25 Prozent). Das heißt, dass die Geschworenen nach wie vor ein Viertel der Angeklagten für unschuldige halten. Bei den Berufsrichtern liegt dieser Wert, was hier angemerkt sei, bei maximal einem Prozent. Obgleich ein Geschworenengericht eine kompliziertere prozessuale Form der Rechtsprechung ist, was oft zum Aufheben von durch die Geschworenen getroffenen Entscheidungen – in der Regel freisprechender Entscheidungen – führt. Von ihnen wird jede fünfte aufgehoben, während lediglich jeder zwölfte der Schuldsprüche solch ein Schicksal erfährt. Konkret sah es im ersten Halbjahr des Jahres 2024 so aus: 105 gegenüber 49. Jedoch wird auch bei den Problemen eine Stabilität beobachtet, was „zu einer Stagnation und zu einem Verlust an Flexibilität angesichts der sich ständig ändernden Gesetzgebung und der neuen Rechtsnormen führt“. Asarow bestätigte, dass nicht selten das Bestreben des Verteidigers, die Geschworenen von der Unschuld des Angeklagten zu überzeugen, die Position hinsichtlich der unzureichenden Beweise zu vermitteln oder deren Glaubwürdigkeit anzufechten, als eine Ausübung von Druck auf das Geschworenen-Kollegium gewertet werde. Aber durch eine Entscheidung des Obersten Gerichts vom 16. Januar dieses Jahres wurde ein früher aufgehobener Freispruch als gültiger belassen. Es war festgestellt worden, dass der Verteidiger lediglich die Aufmerksamkeit der Geschworenen auf konkrete Angaben, die es in den untersuchten Beweisen gab, gelenkt und erklärt hatte, dass er mit der Position der Anklage nicht einverstanden sei. „Die Position des Obersten Gerichts besteht in folgendem: Das Anfechten der Anklage ist eine Realisierung des Rechts auf Verteidigung und keine Beeinflussung von Geschworenen“, unterstrich Asarow. Nach seiner Meinung würden sowohl das derzeitige geringe Spektrum an Straffällen, deren Behandlung unter Beteiligung von Geschworenen möglich sei, als auch deren an und für sich vage Rolle in der Strafgesetzgebung sowie das Fehlen eindeutiger Kriterien für eine Voreingenommenheit und Parteilichkeit als Grundlagen für eine legitime Auflösung von Geschworenen-Kollegien die Notwendigkeit bedingen, die prozessuale und institutionelle Transparenz dieses Instituts zu erhöhen. Die Anwältin Narine Airapetjan hat die extrem geringen Werte für die Auflösung von Geschworenen-Kollegien aufgrund von Motiven eines tendenziösen Charakters hervorgehoben, wobei diese Zahlen im Verlauf einer Reihe von Berichtszeiträumen stabile bleiben. Sie erläuterte der „NG“, dass unter einem tendenziösen Charakter Fälle verstanden werden, in denen es bei einer scheinbar vollständigen Einhaltung der Bestimmungen des Gesetzes über die Modalitäten für die Bildung eines Geschworenen-Kollegiums dennoch Gründe zur Annahme gibt, dass dieses nicht in der Lage ist, allseitig und objektiv die Umstände des zu behandelnden Straffalls zu beurteilen und ein gerechtes Urteil zu fällen. „Als ein Beispiel kann man Fälle der Auflösung von Kollegien zu Straffällen anführen, die mit nationalen Konflikten oder mit Sexualverbrechen verbunden sind. Als ihnen Geschworene einer Nationalität oder eines Geschlechts angehörten. Oder sich auf der Anklagebank beispielsweise ein Geschäftsmann befindet, während die Geschworenen vor allem Arbeitslose oder Personen mit einem geringen Einkommen sind“, erklärte Airapetjan. Der Fall aber, bei dem ein Urteil im Zusammenhang damit aufgehoben wurde, dass ein Anwalt in seiner Rede angeblich eine Hypothese äußerte, sei nach ihren Worten am interessantesten. Schließlich dürfe ein Verteidiger entsprechend allen Kanons auch dem Gericht seine Version von der erfolgten Straftat darlegen. „Die Pflicht, diese Version mit Beweisen zu begründen, ist nirgend geregelt worden“, merkte sie an, obgleich die Untermauerung eines jeden Arguments durch die einen oder anderen Beweise die Rede natürlich überzeugender mache, wobei die Chancen dafür erhöht würden, dass die Version der Verteidiger sich als die vorrangigere erweist. Dabei dürfe es natürlich zu keiner Verzerrung des einen oder anderen Beweises kommen. Die Anwältin und Seniorpartnerin des Anwaltsbüros „Soslowije“, Julia Strelkowa, ist der Auffassung, dass das wesentlichste Problem die große Anzahl von aufgehobenen Freisprüchen sei. Natürlich erfordere jeder solcher Fall eine Analyse. Hinsichtlich einer Reihe von Fällen erfolge dies objektiv auch aufgrund von Verstößen seitens der Verteidigung, die man hätte vermeiden können. Besorgnis löst dies aus einem anderen Grund aus. Aufhebungen von Entscheidungen werden selten in der Berufungsinstanz überprüft. „Nach der Aufhebung einer Entscheidung von Geschworenen ist nur eine selektive Berufung möglich, was die Beständigkeit auch der umstrittenen Entscheidungen von Berufungsverhandlungen vorausbestimmt, die Freisprüche canceln“, erläuterte sie. Noch eine negative Tendenz ist die Änderung der territorialen gerichtlichen Zuständigkeit entsprechend spekulativen Gründe. Und da ist es nicht nur eine Sache der Einhaltung des grundlegenden Rechts auf eine legitime Rechtsprechung, das angesichts unbestätigter Argumente eingeschränkt wird. In den meisten Fällen ist dies aber gerade so. Dabei liegt das Problem mehr darin, dass eine weitere Behandlung in einer anderen Region zumindest die Durchführung von Zeugenbefragungen im Präsenzformat erschwert. Dabei erläuterte Strelkowa, dass die sich für ein Geschworenengericht ergebenen Probleme mit einer nicht ordnungsgemäßen Auslegung der Gesetze auf der Ebene entweder der ersten oder der höheren Instanzen zusammenhängen würden. Zum Beispiel nehmen eben jene Fälle einer Unterbrechung von Anwälten, die Versionen über die Unschuld der Angeklagten äußern, der Verteidigung die Möglichkeit, die Entwicklung des Prozesses vorauszusagen und zu begreifen, welche ihrer Versionen blockiert werden können und wie sie durch ein übergeordnetes Gericht bewertet werden können. Dies schränkt das Potenzial der Auswahl dieser Form für die Behandlung von Strafsachen ein. „Die einzige wirksame Methode, die Gerichtspraxis zu normalisieren, ist eine unversöhnliche Haltung — in erster Linie der Berufungsinstanzen – gegenüber jeglichen Verletzungen des Gesetzes. Zum Beispiel durch einzelne Entscheidungen gegen Richter, selbst in dem Fall, dass der von ihnen zugelassene Verstoß das Schicksal des Urteils nicht beeinflusst“, ist sich die Anwältin sicher. Sie ist der Auffassung, dass man die Strafverfahren, in deren Hinsicht Freisprüche aufgehoben wurden, sicherlich in das Regime einer „durchgängigen“ Berufung überführen müsse
Russlands Geschworenengerichte erklären hartnäckig jeden vierten Angeklagten für unschuldig
10:37 3.02.2025