Während im Zentrum der Aufmerksamkeit der Massenmedien der Prozess zur Regulierung des Ukraine-Konflikts steht, hat man im russischen öffentlichen Raum erneut das Thema der Verfassung aufs Trapez gebracht. Der stellvertretende Vorsitzende der Staatsduma, Pjotr Tolstoi (Regierungspartei „Einiges Russland“), erklärte, dass die Änderungen, die im Jahr 2020 am Grundgesetz vorgenommen worden waren, seiner Meinung nach wohl kaum die letzten sein werden. Der Abgeordnete schlägt vor, „jene Umstände, unter denen unsere geltende Verfassung abgefasst wurde“, zu berücksichtigen. Tolstoi ist der Auffassung, dass die neuen Veränderungen „weitaus wesentlichere als jene, die wir vor fünf Jahren diskutiert hatten“, sein könnten. Der stellvertretende Staatsduma-Chef ist der Meinung, dass einige „internationale Praktiken“ in Russland nicht Fuß gefasst hätten. Er verglich sie mit Plastikzweigen, die man dem „lebenden Baum des russischen Lebens“ zu den Jelzin-Zeiten aufpfropfen wollte. Ein großer Teil dieser Zweige „verwelkte und ist recht erbärmlich anzusehen“, meint Tolstoi. Was der Vizestaatduma-Chef gerade im Blick hatte, hatte er nicht konkretisiert. Möglicherweise muss man aus der Verfassung das Verbot für eine staatliche Ideologie entfernen. Vielleicht wird vorgeschlagen, die Wahlen des Präsidenten zu canceln und eine konstitutionelle Monarchie zu etablieren, die besser den Bedürfnissen des Volkes entsprechen würde. Auf seinem Telegram-Kanal hatte Pjotr Tolstoi geschrieben, dass die einzige Form für ein harmonisches Existieren Russlands „ein Stützen auf das Gewissen“ sei. „In dieser Logik sind Gesetzesänderungen, angefangen mit Änderungen an der Verfassung des Jahres 2020 und bis zum Zurückholen von Regionen der einstigen Ukraine nach Russland eine Korrektur von für uns fremden moralischen und gesellschaftlichen Grundsätzen, die fürsorglich durch irgendwen früher verankert wurden“, meint der fast 56jährige Politiker. Unbekannt ist jedoch, ob dieser Telegram-Eintrag mit der erklärten Bereitschaft zusammenhängt, in der Zukunft die Verfassung zu ändern. Letzten Endes kann man jegliche Änderungen am Grundgesetz mit einem „Stützen auf das Gewissen“ erklären. Man hat es bereits geschafft, dem stellvertretenden Staatsduma-Chef Einwände vorzubringen. Senator Andrej Klischas (Kremlpartei „Einiges Russland“) sagte, dass er den Kollegen Tolstoi achte, ihn aber aufrufen, „entsprechend der geltenden Fassung der Verfassung zu leben“. Der Abgeordnete Pawel Krascheninnikow (einstiger Justizminister und Mitglied der Kremlpartei „Einiges Russland“) solidarisierte sich mit Klischas: Nach seiner Auffassung würde das Grundgesetz den Realitäten der Zeit entsprechen und „recht gut abgefasst wurde“. Das regelmäßige Gerede über neue Änderungen hätte nach Meinung von Krascheninnikow eine „emotionale und PR-Eigenschaft“. Auf die Worte von Tolstoi musste auch der Kremlsprecher Dmitrij Peskow reagieren. Er erklärte, dass das Thema neuer Änderungen „nicht auf der Agenda gewesen wäre“, und er forderte auf, sich zwecks Erläuterungen an den stellvertretenden Staatsduma-Chef zu wenden, um zu erkunden, was er im Blick hatte. Die Erfahrungen aus der Vornahme von Änderungen an der Verfassung hat im Großen und Ganzen bereits die Vorstellung von ihrer Unantastbarkeit verändert. Die Vorschläge, sie weiter zu ändern, ja und auch noch wesentlich, können aufhorchen lassen. Es ist wichtig zu betonen, dass die herrschende Elite in Russland de facto alle Machtzweige und -organe kontrolliert. Sie kann jegliche Gesetze verabschieden und die bereits geltenden interpretieren, wie sie es für nötig erachtet. Folgt man dem Diskurs von Vize-Staatsduma-Chef Tolstoi kann man diese gesetzgeberisch-exekutive Realität als eine Projektion des Volkswillens und des Gewissens auffassen. Es ist schwer, sich dessen zu erinnern, dass neue Normen durch irgendeine Institution inkl. des Verfassungsgerichts blockiert wurden. Es ist gleichfalls schwierig, sich dessen zu erinnern, dass eine Bestimmung des Grundgesetzes daran hinderte, ein neues Verbot zu implementieren (und gerade solch eine Tendenz ist gerade häufig bei den gesetzgeberischen Initiativen der letzten Jahre auszumachen). Die Änderungen des Jahres 2020 hatten dem amtierenden Präsidenten ermöglicht, auch weiterhin bei Wahlen zu kandidieren. Dabei wurde aber der überaus wichtige Block der Bürgerrechte und -freiheiten nicht angetastet. Die „wesentlichen“ Änderungen können aber gerade diesen Bereich tangieren, eine Einmischung des Staates in das Privatleben sanktionieren und Restriktionen für die Redefreiheit verankern. Wenn gerade dies vorgeschlagen wird, kann man dies da als Änderungen bezeichnen? Dies wird eher eine Rückkehr zu jenen Formen des Staats- und gesellschaftlichen Aufbaus sein, die Russland bereits durchlaufen hat und scheinbar überlebte. Denen entspricht die aktuelle Fassung der Verfassung ganz bestimmt nicht.
19:03 29.05.2025