Die Türkei schließt nicht aus, dass sie neue Erdgasfelder im Schwarzen Meer finden kann. Dies erklärte Präsident Recep Tayyip Erdogan auf einer Pressekonferenz am vergangenen Freitag in Ankara. Am Vorabend hatte die türkische Führung die Entdeckung das Gasfeldes „Sakarya“ in dieser Region bekanntgegeben, dessen Reserven laut offiziellen Schätzungen 320 Milliarden Kubikmeter ausmachen würden. Der Fund veranlasste die Offiziellen, von einem Schritt in Richtung einer Energie-Unabhängigkeit zu sprechen. Experten räumen ein, dass die Türkei in der langfristigen Perspektive den Versuch unternehmen kann, die Mengen der russischen Gaslieferungen zu verringern oder ein Feilschen über ein für sie akzeptableren Preis zu beginnen.
Ankara beabsichtigt nicht, es bei den Untersuchungen seines Sektors im Schwarzen Meer zu belassen. „Die entdeckten Gasvorräte sind lediglich Teil einer Quelle“, betonte Erdogan. „Gute Nachrichten treffen nach wie vor ein: Dort kann es nicht nur eine Bohrung geben. Wir erwarten auch gute Nachrichten aus dem Mittelmeer“. Die Wirkung der Erklärung des türkischen Präsidenten versuchte der Minister für Energie und Naturressourcen des Landes, Fatih Dönmez zu verstärken, der die Gewissheit zum Ausdruck brachte, dass die Türkei über alle Möglichkeiten für eine Erschließung der neuen maritimen Lagerstätten verfüge. „Es steht außer Zweifel, wir sind selbst in der Lage, unsere Lagerstätten auszubeuten. Es gibt in dieser Frage keine Partner der Türkei“, merkte der Minister außerdem an.
Der Anlass für die Begeisterung hatte sich am 21. August für die Türkei ergeben. An dem Tag gab Erdogan offiziell die Entdeckung des „Sakarya“-Feldes im Schwarzen Meer bekannt. „Dieser Fund ist aus der Sicht der Energieunabhängigkeit unseres Landes äußerst wichtig“, erläuterte der türkische Staatschef. „Bis dahin waren wir vollkommen von Lieferungen von Energieträgern aus dem Ausland abhängig, gaben hunderte Millionen Dollar dafür aus. Doch im Jahr 2017 haben wir unsere Energiestrategie aktualisiert sowie die Flotte der Forschungs- und Bohrschiffe erweitert“. Nach Aussagen Erdogans würden sich die Reserven des Feldes auf 320 Milliarden Kubikmeter belaufen. In der nächsten Zeit werde Ankara die technischen Fragen klären, die die Gasförderung auf diesem Feld betreffen würden. Und Spezialisten „werden unverzüglich mit den Bohrarbeiten beginnen“.
In wenigen Jahren plant die Türkei, diesen Brennstoff auf den Binnenmarkt zu bringen. Der Leiter der Internationalen Energieagentur Fatih Birol erklärte, dass der potenzielle Wert des neuen Gasfeldes im Schwarzen Meer unter denen gegenwärtigen Bedingungen 80 Milliarden US-Dollar erreiche. Er ist der Auffassung, dass, „um die Ausbeutung eines Feldes solcher Dimensionen zu beginnen“, Investitionen in einem Umfang von sechs Milliarden Dollar erforderlich seien. „Sakarya“ können nach Ausgaben von Birol eine Förderung von 10 bis 15 Milliarden Kubikmeter Erdgas im Jahr sichern. Er betonte, dass dies „ein Drittel des insgesamt in der Türkei verbrauchten Erdgases“ ausmache. Seiner Meinung nach werde die Absicht der Offiziellen der Türkei, im Jahr 2023 die Gaslieferungen zu beginnen, eine schwierige, aber „keine unmögliche Aufgabe“ sein. Solche Beispiele gebe es.
Dönmez hatte zuvor das Augenmerk darauf gelenkt, dass das „im Schwarzen Meer gefundene Gas von einer sehr hohen Qualität“ sei, wenn man die vorläufigen technischen Bewertungen berücksichtige. „Wir werden jedoch nicht die Arbeit zur Suche nach Energieressourcen stoppen“, erläuterte der Minister. „Die Bohrarbeiten werden fortgesetzt. Seismologische Untersuchungen werden noch auf einem Territorium von 6.000 Quadratkilometer durchgeführt.“ Gegenwärtig führt Ankara seismologische Erkundungsarbeiten auch im Mittelmeer durch. Die Entsendung des türkischen Forschungsschiffs „Oruc Reis“ für diese Zwecke in die Region der griechischen Dodekanes-Inselgruppe hat bereits zu einer Zuspitzung der Beziehungen mit Athen geführt und Diskussionen über Sanktionen innerhalb der Europäischen Union provoziert. In Begleitung türkischer Streitkräfte ist das Schiff in die umstrittene Zone eingedrungen.
Es ist nicht ausgeschlossen, dass das Thema des „Sakarya“-Feldes ein wenig den gesellschaftlichen Unmut in der Türkei verringert, die eine akute Wirtschaftskrise durchmacht. Berat Albayrak, der Finanzminister und Schwiegersohn Erdogans, hat bereits die Gewissheit zum Ausdruck gebracht, dass die Entdeckung der neuen Lagerstätten im Schwarzen Meer dem Land helfen werde, das Haushaltsdefizit zu vergessen und zu profizitären Wirtschaftsparametern überzugehen. „Die Türkei hat einen großen Schritt auf dem Weg zu einer vollkommenen Energieunabhängigkeit unternommen“, sagte der Minister. „Ich kann sagen, dass aus wirtschaftlicher Sicht diese Entdeckung und ihr Potenzial die Frage nach dem Defizit der Zahlungsbilanz von unserer Tagesordnung nehmen können, und wir werden in eine Phase kommen, in der wir von einem Haushaltsprofizit und einem Devisenüberschuss sprechen werden.“
In einem Gespräch mit der „NG“ erklärte der ehemalige türkische Parlamentarier und Senior Direktor des türkischen Programms der US-amerikanischen Foundation for Defense of Democracies Aykan Erdemir, dass die Perspektive einer Monetisierung der im Schwarzen Meer gefundenen Vorräte vorerst unklar sei. „Obgleich Branchenexperten einen siebenjährigen Prozess voraussagen“, betonte der Analytiker. „Ungeachtet dessen, dass es noch zu früh ist, den unmittelbaren Einfluss des entdeckten Gasfeldes auf die türkisch-russischen Beziehungen zu erörtern, wird Ankara in der langfristigen Perspektive das Thema der Inlandsförderung wahrscheinlich ausnutzen, um die Abhängigkeit vom russischen Erdgas zu überwinden und sich über einen geringeren Preis zu einigen. Insgesamt kann man mit Gewissheit sagen, dass die Türkei weiter Erdöl, Gas und verflüssigtes Erdgas im Verlauf des nächsten Jahrzehntes importieren wird. Dabei wird sie aber mehr Spielraum für Manöver unter ihren entscheidenden Lieferanten inkl. Aserbaidschan, die Russische Föderation und die USA haben“, meint Erdemir.