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Putin trat als Garant für das Regime Lukaschenkos auf


Der Fernsehkanal „Rossija 1“ strahlte am 27. August ein „großes Interview des Präsidenten der Russischen Föderation Wladimir Putin zu aktuellen Themen, welches er Sergej Briljow gewährte“, aus. So hatte der TV-Sender dieses 20-minütige Gespräch angekündigt, von dem die Hälfte über die Situation in Weißrussland war. In der anderen Hälfte ging es um die Stärken unseres Landes gegenüber der Welt bei der Entwicklung der Wirtschaft und dem Kampf gegen das Coronavirus. Im weißrussischen Teil erklangen sowohl eine Warnung an den Westen vor einer Einmischung als auch der Vorschlag an die Opposition, im Rahmen des Gesetzes zu protestieren. Im Großen und Ganzen trat Putin als ein Garant für die Herrschaft des amtierenden Präsidenten der Republik Belarus (RB) auf. Und eine Neuigkeit gab es im Interview auf. Auf Bitten von Alexander Lukaschenko wurde in der Russischen Föderation eine Reserve von Mitarbeitern der Rechtsschutzorgane gebildet. Aber sie musste nicht eingesetzt werden. Allem Anschein nach hatte das Durchsickern von Informationen über die Vereinbarung Mitte August auch die Gerüchte über das Auftauchen russischer Sondereinsatzkräfte der Polizei (OMON-Kräfte) ausgelöst.

Wenn es dem staatlichen Fernsehsender gelingt, den Präsidenten der Russischen Föderation zu interviewen, bedeutet dies stets, dass Putin kurzfristig irgendetwas zu erklären hat. Und wahrscheinlich hing solch eine Notwendigkeit gerade mit Weißrussland zusammen. Denn in der innenpolitischen Message hat es nichts Neues gegeben. Den Bürgern wurde traditionsgemäß vorgeschlagen, sich keine Sorgen zu machen. Der Staat werde sie auf keinen Fall nicht ohne eine Fürsorge um sie lassen.   

Es gibt also keinerlei zweite COVID-19-Welle, sondern einen natürlichen Verlauf jener Epidemie, die man in Russland schon fast besiegt hat. Darunter auch durch eine größere Diszipliniertheit der Menschen, aber natürlich auch dank der richtigen kurzfristigen Handlungen der Offiziellen und Behörden. Bald werden wir gleichfalls zwei Vakzine haben. Und durch die Wirkung der ersten hatte die zu einer freiwilligen Testperson gewordene Tochter Putins nur ein paar Tage eine erhöhte Temperatur gehabt. Was aber die Lage in der Wirtschaft angeht, so sei sie in der Russischen Föderation besser als in vielen anderen Ländern: Der Rückgang höre auf, und die Reserven hätten dagegen wieder angefangen zuzunehmen. Obgleich man es gern hätte, wie der Präsident anmerkte, dass der Ölpreis doch noch ein wenig ansteigt.   

Auf die Bitte Briljows, seine Sicht hinsichtlich der Situation in Weißrussland darzustellen, antwortete Putin so: „Meiner Ansicht nach verhalten wir uns weitaus zurückhaltender und neutraler bezüglich der Ereignisse in Weißrussland als viele andere Länder – sowohl die europäischen als auch die Amerikaner, eben jene USA. Wir stellen wirklich recht objektiv und m. E. allseitig, von beiden Seiten die sich in Weißrussland abspielenden Ereignisse dar und sind der Auffassung, dass dies vor allem eine Angelegenheit der weißrussischen Gesellschaft, des weißrussischen Volkes an sich ist“. Aber Russland sei es doch nicht egal, was sich in dem Nachbarland ereigne, da es mit ihm engste Beziehungen unterhalte. Der Präsident betonte besonders die Tatsache, dass auf die Russische Föderation über 90 Prozent der Agrarexporte der RB entfallen würden.  

Weiter erfolgten bereits richtige Statements: „Wir gehen unbedingt davon aus, dass es allen Beteiligten dieses Prozesses an gesundem Menschenverstand reicht, ruhig und ohne Extreme einen Ausweg zu finden. Natürlich, wenn Menschen auf die Straße gekommen sind, müssen alle dies zur Kenntnis nehmen, dem Gehör schenken und reagieren. Und übrigens, der Präsident Weißrusslands, er hat doch auch gesagt, dass er bereit ist, die Möglichkeit der Durchführung einer Verfassungsreform, der Annahme einer neuen Verfassung, der Abhaltung von Neuwahlen auch ins Parlament sowie von Präsidentschaftswahlen auf der Grundlage dieser neuen Verfassung zu erörtern. Aber man darf nicht über den Rahmen der geltenden Verfassung hinausgehen“.   

Dies kann man als ein zweifaches Signal auffassen – sowohl gesondert für die weißrussischen Herrschenden als auch besonders für die weiß-rot-weiße Opposition. Nicht ohne Grund erwähnte Putin die Entscheidung des Verfassungsgerichts über die Illegitimität ihres Koordinierungsrates.  

Den Amtskollegen Lukaschenko aber unterstützte Putin ein weiteres Mal damit, dass er der Version über den Zwischenfall mit den „33 Recken“ als eine Provokation der ukrainischen Geheimdienste einen offiziellen Status verlieh. Aber der hat er auch noch die US-amerikanische Aufklärung hinzugefügt. Seinen Worten zufolge habe man Bürger Russlands mit einer militärischen Vergangenheit für eine legale Arbeit angeheuert, dann aus dem Land gelockt und faktisch illegal herausgebracht und danach versucht, sie als eine gewisse Schlagkraft zum Sturz der herrschenden Macht der RB darzustellen. 

Und es ist klar, dass das Interview auf dem TV-Kanal „Rossija 1“ zu einem guten Anlass wurde, um zu präzisieren, was denn beide Präsidenten im Blick hatten, als sie von der Hilfe für Weißrussland seitens Russlands im Rahmen der Organisation des kollektiven Sicherheitsvertrages und des Vertrags über den Unionsstaat gesprochen hatten. Gerade gemäß dem letzteren können die Seiten einander Unterstützung „sowohl beim Schutz der Souveränität und der äußeren Grenzen als auch bei der Verteidigung der Stabilität“ gewähren. Putin sagte, dass er nicht verheimlichen werde: Lukaschenko stellte die Frage, ob Moskau seine Pflichten erfüllen wird. Und als er erfuhr, dass es sie erfüllen wird, äußerte er eine Bitte. „Alexander Grigorjewitsch bat mich, eine bestimmte Reserve aus Mitarbeitern der Rechtsschutzorgane zu bilden. Und ich habe dies getan. Wir haben aber auch vereinbart, dass sie solange nicht eingesetzt werde, solange die Situation nicht außer Kontrolle gerät und wenn die extremistischen, ich möchte dies unterstreichen, wenn die extremistischen Elemente, die sich hinter politischen Losungen verstecken, nicht bestimmte Grenzen überschreiten und nicht einfach zu Gewalt übergehen – nicht anfangen, Autos, Häuser und Banken in Brand zu setzen, nicht versuchen, Verwaltungsgebäude usw. zu besetzten“, erklärte Putin. Und er sandte somit den Oppositionellen noch eine klare Message. Danach erläuterte er natürlich, dass dies nicht mehr als eine Absicherung gewesen sei. Die Präsidenten hätten bereits geklärt, dass es keinen Bedarf an „höflichen Menschen“ geben. „Und deshalb setzten wir diese Reserve auch nicht ein.“ Es wurde aber klar, dass die Gerüchte über das Auftauchen „russischer Spezialkräfte“ in weißrussischen Städten dennoch keine unbegründeten waren. Man hatte sich wohl auf einen Einsatz von „Helfern“ vorbereitet. Und möglicherweise konnten da die Rekognoszierungsarbeiten bemerkt werden.

Allerdings wiederholte Putin nach den Worten von einer bewaffneten Hilfe erneut: „Wir gehen davon aus, dass alle entstandenen Probleme, die es derzeit in Weißrussland gibt, auf friedlichem Wege gelöst werden. Und wenn es irgendwo Verstöße von welcher Seite auch immer gegeben hat – entweder seitens der staatlichen Machtorgane, der Rechtsschutzorgane oder seitens derjenigen, die an den Protestaktionen teilnehmen… Wenn sie über den Rahmen des geltenden Gesetzes gehen, so wird auch das Gesetz auf entsprechende Art und Weise darauf reagieren. Das Gesetz muss sich gegenüber allen in gleicher Weise verhalten. Wenn man aber objektiv ist, so denke ich, dass sich die Rechtsschutzorgane Weißrusslands trotz allem recht zurückhaltend verhalten.“ Ein Gegenbeispiel fand Putin wie immer in den USA und Europa, wobei er einigen direkt vorwarf, dass außerhalb Weißrusslands „irgendwer möchte, dass sich dort etwas Anderes ereignet. Man will diese Prozesse beeinflussen und irgendwelche Entscheidungen erreichen, die, wie diese Leute denken, ihren politischen Interessen entsprechen“. Sicher hatte der Präsident der Russischen Föderation nicht Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und andere jüngere westliche Staatsmänner im Blick. 

Zu einem Punkt bei der Erörterung der Situation in Weißrussland wurde vom Wesen her die Anleitung von Putin: „Immerhin stabilisiert sich jetzt insgesamt die Situation. Und ich hoffe, dass alle Probleme, und die gibt es natürlich, andernfalls wären die Menschen nicht auf die Straße gekommen, und dies ist eine offenkundige Sache… dass sie im Rahmen der Verfassung, im Rahmen des Gesetzes und mit friedlichen Mitteln gelöst werden“. Damit übernahm er die Rolle eines Garanten neben der Verfassung der Russischen Föderation auch noch für die Verfassung der RB, aber ebenfalls selbst für Lukaschenko.    

Wie die „NG“ herausfand, ist in der weißrussischen Gesellschaft gerade solch ein Standpunkt vorrangig verbreitet. Ihn hat der politische Kommentator Alexander Klaskowskij ausführlich dargelegt. „Gewiss, die heutige Erklärung Putins ist eine starke Unterstützung für Lukaschenko. Früher traten andere Moskauer Redner geringeren Rangs (Lawrow, Peskow) auf. Jetzt hat sich schwere Artillerie eingeschaltet. Putin hat sich für Lukaschenko … stark gemacht“, merkte er an. Dennoch aber sind die Worte darüber, dass eine Unterstützung seitens der Rechtsschutzorgane möglich sei, bisher nicht durch praktische Bedürfnisse Lukaschenkos diktiert worden. Er habe genug eigene grobe Gewalt. „Dies ist eine psychologische Unterstützung seitens des Kremls. Ihre Aufgabe ist, die Verfechter von Veränderungen in Belarus zu demoralisieren. Sozusagen, wir sind bereit, solidarisch gegen diese rebellischen Stimmungen und Ansprüche vorzugehen. Und besser ihr lasst es sein und zuckt nicht rum. Wir machen euch ja doch platt, denn dies ist alles vergebene Liebesmüh“, erläuterte der Experte.  

Das heißt: Die Statements aus dem Interview sind eine gewisse Art PR-Aktion. „Wichtig ist, Lukaschenko, seine (Macht-) Vertikale und seine Vertreter der bewaffneten Organe im Stil von „Moskau steht hinter uns“ moralisch zu unterstützen. Denn es gibt wahrscheinlich Anzeichen für irgendein Schwanken und Streitigkeiten innerhalb der Vertikale. Wir sehen, dass einzelne Vertreter von ihr, wenn auch nicht die hochrangigsten, auf die Seite des Volkes gehen. Und jetzt ist es wichtig, die Machtvertikale Lukaschenkos mit der Message aufzumuntern, dass er stark sei und Moskau ihn unterstütze.“ Der Experte warnte: „Wenn Moskau beschlossen hätte, seine Polizei- oder Militärkräfte nach Belarus zwecks Unterdrückung dieser Proteste zu entsenden, so wäre dies ein sehr kurzsichtiger und unbedachter Schritt seitens des Kremls gewesen. Russland hätte sein Image als ein Gendarm in den Augen der Weißrussen, wie dies einst zu Zarenzeiten der Fall war, aufgefrischt. Und während derzeit die Masse der Weißrussen positiv zu Russland eingestellt ist, würde solch eine wahrscheinliche gewaltsame Unterstützung seitens Putins diese Stimmungen ins Negative umschlagen lassen“. Das heißt, Russland hätte riskieren müssen, die Sympathien vieler Weißrussen für lange zu verlieren, indem es die bilateralen Beziehungen vergiftet. Und ohne einen besonderen Sinn, betonte Klaskowskij. „Wenn man aus historischer Sicht guckt, so ist das Regime Lukaschenkos ja doch zu einer Zerstörung und zum Untergang verdammt. Möglicherweise ist dies nicht Sache eines Monats oder gar eines Jahres. Aber man muss auf die Perspektive schauen. Klar ist, dass in Belarus unumkehrbare Prozesse begonnen haben. Hier ist eine politische Nation herangereift. Und sie möchte nicht die Herrschaft eines Mannes akzeptieren, der in feudalen Kategorien denkt, eines Mannes, der bereits die Unterstützung der Bevölkerungsmehrheit verloren hat. Wenn Moskau in die Perspektive schaut, so ist es besser sein, wenn es sich einer gewaltsamen Hilfe für das Regime Lukaschenkos enthält.“

Seine Antwort auf Putins jüngste Erklärungen hat auch der Koordinierungsrat der Opposition bereits gegeben. Dort hält man „die Bildung bewaffneter Gruppierungen auf dem Territorium der Russischen Föderation oder eines anderen Staates für einen Einsatz auf dem Territorium von Belarus für unzulässig. Dies widerspricht dem Völkerrecht und der konsolidierten Position der weißrussischen Gesellschaft“. Und Lukaschenko erinnerten die Oppositionellen daran, dass er früher scheinbar doch gegen eine äußere Einmischung in die inneren Angelegenheiten seines Landes aufgetreten war. Allem Anschein nach heizen die Worte des russischen Präsidenten bisher nur den innenpolitischen Konflikt auf.