Nach der Ernennung des neuen Botschafters der Bundesrepublik Deutschland in Russland im August des Jahres 2023 (Alexander Graf Lambsdorff – Anmerkung der Redaktion) erschienen die Vorstellungen von einer möglichen „neuen Runde des Dialogs“ unwillkürlich als optimistische (siehe „NG“ vom 03.09.2023). Jedoch erklangen schon damals besorgte Einschätzungen. „Wir erreichen eine Talsohle nach der anderen.“ Und nach beinahe zwei Jahren werden diese Prognosen wahr. Heute ist es offenkundig geworden, dass Berlin in Gestalt der entsprechend den Ergebnissen der vorgezogenen Bundestagswahlen gebildeten schwarz-roten Koalition endgültig die Konzeption von einer Partnerschaft aufgegeben hat. Russland wird bereits nicht einmal als ein Opponent aufgefasst. Jetzt ist dies nicht nur der potenzielle, sondern auch der reale Gegner Nummer 1. In dem am 9. April präsentierten Koalitionsvertrag heißt es: „Unsere Sicherheit ist heute so stark bedroht wie seit dem Ende des Kalten Krieges nicht mehr. Die größte und direkteste Bedrohung geht dabei von Russland aus…“. Das Dokument wurde am 5. Mai unterschrieben. Am folgenden Tag wurde das Ministerkabinett unter Führung von Friedrich Merz gebildet. Am 14. Mai trat der Bundeskanzler mit einer ersten Regierungserklärung im Bundestag auf, in der er den oben ausgewiesenen Gedanken präzisierte. In seinem Verständnis sei die Russische Föderation kein Partner, sondern eine strukturelle Bedrohung für die europäische Ordnung und werde nicht als ein Verhandlungssubjekt aufgefasst. Merz wendet sich nicht mehr an den Kreml. Er hat keine Szenarios für einen Dialog, keine Formeln, die erlauben, die diplomatischen Möglichkeiten zumindest auf eine minimale Weise offen zu halten. Konzeptionell ist Russland nicht als eine der Hauptrichtungen der Außenpolitik ausgewiesen worden. Es isoliere sich und werde als ein Subjekt von Beziehungen demontiert, wobei es sich in einen Faktor eines „kontinentalen Cordon sanitaire“ verwandele (im Sinne einer „strategischen Perimeter- bzw. Grenzbildung“). In der Rede des Kanzlers war das Bild vom russischen Staat durch eine ständige Wiederholung von Motiven gezeichnet worden — „Angriff auf die europäische Ordnung“, „drei Jahre täglicher Morde“ in der Ukraine, „Hetze, Cyberangriffe und Sabotage“ auf dem Territorium der EU-Länder einschließlich der Bundesrepublik Deutschland. Er ist der Auffassung, dass auch die Bürger Russlands selbst Opfer seien, womit er seiner Position eine gegen das Regime gerichtete Nuance verlieh. Unter den von der Russischen Föderation ausgehenden Bedrohungen für die innere Sicherheit wurden erwähnt: „Schauen Sie auf die Giftanschläge und Mordtaten in zahlreichen europäischen Städten, auch hier bei uns, in unserer Hauptstadt! Schauen Sie auf die Cyberangriffe gegen unsere Dateninfrastruktur! Schauen Sie auf die physische Zerstörung vieler Daten- und Unterseekabel offenbar auch durch die sogenannte Schattenflotte! Schauen Sie auf die Spionage- und Sabotageakte und die systematische Desinformation unserer Bevölkerung! Das ist ganz überwiegend das Werk der russischen Staatsführung und ihrer Helfer – auch hier bei uns, im eigenen Land“. Alles, was mit Russland zusammenhängt, ist in der Logik von Verteidigung, Zügelung und Verhinderung eines Zerfalls aufgelöst worden. Der Satz von Merz „Wir sind nicht Kriegspartei und werden dies auch nicht werden. Aber wir sind auch nicht unbeteiligte Dritte oder neutrale Vermittler, sozusagen zwischen den Fronten.“ formuliert die neue Position des offiziellen Berlins – nicht als ein Schiedsrichter oder Vermittler, sondern als ein Beteiligter an der „Demokratie-Front“. Für ihn ist die Ukraine kein Knäuel diplomatischer Probleme, sondern ein „Vorposten der Rechtsordnung“. Ein Frieden „nach deutscher Art“ sei nur zu den Bedingungen der Ukraine und des Westens möglich. Russland ist faktisch als ein „mehrschichtiger Agent für eine Untergrabung“ der innereuropäischen und grenzüberschreitenden Ordnung dargestellt worden. Inoffiziell wird empfohlen, solch eine Wahrnehmung in den deutschen Massenmedien zu demonstrieren. Und sie befolgen diese Empfehlung. Es ist offensichtlich, dass dies ein strategischer Grundsatz für ein „Vergessen“ Russlands als eine strukturelle Richtung der Außenpolitik und den Übergang zu einem Modell der Isolierung und Verdrängung ist. Jetzt ist die Russische Föderation eine Bedrohungsfunktion. Sie ist als eine Legitimierung für die neue Politik und für neue Institute (Schaffung eines Nationalen Sicherheitsrates, die schrittweise Erhöhung der Militärausgaben bis auf „3,5 Prozent plus 1,5 Prozent“ u. a.) erforderlich. Merz formulierte eine klare Botschaft an Moskau: Es wird keinerlei Dialog und keine neue Ostpolitik sowie keinerlei Annäherung über die Wirtschaft geben. Das Signal ist recht eindeutig: Die Zeiten der „Brücken“ und der Formeln für eine diplomatische Zügelung sind vorbei. Deutschland betrachtet die Russische Föderation als eine Bedrohungsquelle und plant nicht, zu einer Partnerschaft – weder auf staatlicher Ebene noch auf der Ebene von Konzepten – zurückzukehren. Bisher bleiben die folgenden Fragen ungeklärte: Wann wird Russland in die deutsche Außenpolitik zumindest als ein Objekt für eine „Erkundung der Zukunft“ zurückkehren (und wird es dies)? Oder wird das strategische Vergessen seit Mai des Jahres 2025 zu einem neuen permanenten Konsens? Der Zeitraum Mai-September dieses Jahres bestätigt das konsequente Befüllen des vorrangigen antirussischen Kurses mit einem konkreten Inhalt durch Merz und seine Umgebung – vor allem durch die Fortsetzung einer großangelegten komplexen (militärischen, finanziellen und humanitären) Hilfe für die Ukraine, die von beleidigenden Äußerungen an die Adresse des russischen Präsidenten begleitet wird. Vor diesem Hintergrund hat der vernünftig denkende Teil der Sozialdemokraten unter Führung von Rolf Mützenich und Ralf Stegner ein inhaltsreiches Dokument unter dem Titel „Friedensmanifest“ vorbereitet, das am 11. Juni veröffentlicht wurde. Im Unterschied zum offiziellen Brüssel, Berlin, Paris, London, Warschau und einer Reihe anderer „Falken“-Hauptstädte stellt es von seinem Wesen her eine „Roadmap“ für diplomatische Schritte/Initiativen zur Suche nach gegenseitig akzeptabler Lösungswege für den überaus komplizierten geopolitischen Konflikt in Europa dar. Das Dokument enthält den Appell an die Offiziellen Deutschlands, den Kurs für eine Militarisierung aufzugeben und zur Konzeption einer begründeten Hinlänglichkeit der Verteidigung überzugehen. Doch das politische Establishment hat das Manifest erwartungsgemäß als einen „ärmlichen Versuch“ der marginalen Opposition, Russland „zu rechtfertigen“ bzw. „reinzuwaschen“ abgestempelt, und jegliches Suchen nach „Kompromissen mit Putin“ als inakzeptable. Die Rhetorik von Merz ist zum Herbstbeginn härter geworden: „Der Krieg hört auf, wenn Russland die wirtschaftliche und militärische Stabilität verliert“. Mit anderen Worten kann man die Kanzler-Strategie wie folgt skizzieren „den Gegner bis zu einer Erschöpfung treiben“. Solch eine Vorgehensweise ist mit der „Koalition der Willigen“ koordiniert worden, die durch die europäische Troika Berlin-Paris-London angeführt wird und der sich Warschau und Rom angeschlossen haben. Gerade deren Führungsrolle bestimmt den Inhalt der antirussischen EU-Agenda. Die deutschen Analytiker arbeiten aktiv für Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius, wobei sie bestrebt sind, seiner Prognose eine Unvermeidlichkeit eines direkten militärischen Konflikts mit Russland bis zu den Jahren 2029-2030 zu verleihen. Berlin unterstützt die Entfaltung von NATO-Truppen an der Ostflanke, verstärkt seine Einflussnahme auf die Vorbereitung der Ostsee- und skandinavischen Makroregion auf eine Konfrontation mit der Russischen Föderation. Die allseitige Unterstützung des Kurses für eine Militarisierung geht von der Rüstungsindustrie unter Führung des Konzerns Rheinmetall AG aus. Begonnen wurde eine Reform der Einberufung zum Militärdienst. Zusätzliches Menschenkapital wird unter den Bedingungen einer umfangreichen technischen und technologischen Modernisierung der Bundeswehr, die aus dem Bundeshaushalt und aus nicht zum Staatshaushalt gehörenden Quellen finanziert wird, kurzfristig notwendig. Berlin hat klar die Ambitionen umrissen, die stärkste Armee Europas auf dem Lande zu schaffen, was im Übrigen auch die NATO-Führung von ihm fordert. Seit der zweiten Hälfte des vergangenen Jahres erfolgt eine erfolgreiche Entbürokratisierung der Beziehungen der Unternehmen der Rüstungsindustrie und der entsprechenden stattlichen Institutionen. Merz setzte und setzt die Politik der vorangegangenen Bundesregierung fort, indem er aktiv an der Ausarbeitung antirussischer Sanktionspakete der Europäischen Union teilnimmt. Teilweise hat es die neue Koalition geschafft, ihren Beitrag zum 17. (Mai) und „allumfassend“ zum 18. (August) zu leisten. Erwartet wird noch in diesem Monat die offizielle Annahme eines 19. Sanktionspaketes. Im 18. sei die deutsche Initiative zum Verbot von Vertragsabschlüssen mit den Nord Stream AGs hervorgehoben, die auf eine Verhinderung deren möglichen Erwerbs/Nutzung durch private Investoren (vermutlich amerikanischer) abzielt. Dies sei eine zusätzliche Garantie dafür, dass sie keine Konkurrenz zur Erweiterung des Erwerbs von LNG aus den USA im Rahmen des von der Europäischen Union zugesagten 750-Milliarden-Dollar-Deals ausmachen werden. Im 19. Sanktionspaket hat Berlin zusammen mit Paris die Erweiterung des Einsatzes sekundärer Sanktionen gegen Drittländer, darunter gegen die Staaten der mittelasiatischen Region (Anwendung von „Instrumenten gegen ein Umgehen von Sanktionen“, die die Einfuhr bestimmter Waren untersagt, die in die Russische Föderation weitergeleitet werden) unterstützt. Doch bei aller starken konfrontativen Rhetorik ist Berlin gezwungen, die Bewahrung minimaler Wirtschaftskontakte ins Kalkül zu ziehen – sowohl auf dem Gebiet des Außenhandels (der nicht vollkommen zu einem Einbruch gebracht werden konnte) als auch der Investitionskontakte. Die deutsche Business-Community (dies sind vor allem mittelständische Unternehmen) bleibt die größte unter den ausländischen in der Russischen Föderation. Die Deutsch-Russische Außenhandelskammer setzt ihre Arbeit fort. Unternehmensgruppen, die die Interessen der Beteiligten an der bilateralen Wirtschaftskooperation vertreten, suchen nach Möglichkeiten für eine Minimierung der Verluste aufgrund der gegenseitigen restriktiven Maßnahmen. Spitzenvertreter einer Reihe deutscher Bundesländer (Hamburg, Sachsen) rechnen mit einer Wiederaufnahme der Zusammenarbeit nach Beendigung des (Ukraine-) Konflikts. Die Handelsvertretung der Russischen Föderation in der Bundesrepublik Deutschland setzt ihre Arbeit fort, indem sie interessierten russischen Unternehmen Informationen über Kooperationsmöglichkeiten zur Verfügung stellt. Ungeachtet des Widerstands von Berlin hat das Forum „Petersburger Dialog“ die Arbeit nicht eingestellt. Seine Arbeitsgruppen treten regelmäßig zu Tagungen zusammen. An denen nehmen interessierte deutsche Experten teil. Am 13. Mai fand in Kaliningrad eine große Konferenz statt. Am 28. Juli tagte in Moskau die Arbeitsgruppe „Politik“. An beiden Veranstaltungen haben in Präsenz deutsche Politologen, Unternehmer und Experten teilgenommen. Aktive Unterstützung leistet das Europa-Institut der Russischen Akademie der Wissenschaften dem Forum. Zusammen mit der Internationalen Gesellschaft „Russland-Deutschland“ führt das Zentrum für Deutschland-Forschungen des erwähnten Europa-Instituts wissenschaftliche Rundtischgespräche unter einer direkten oder Online-Beteiligung deutscher Kollegen durch. Mitarbeiter des Zentrums diskutieren gemeinsam mit der Gesellschaft Projekte für eine Unterstützung der „Hanse“-Initiativen der Partner aus dem Verwaltungsgebiet Kaliningrad. Diese Kontakte sind für unsere Beziehungen notwendig. Sie können die aus Deutschland anrollende antirussische Welle nicht stoppen, dennoch sind sie aber in der Lage, ein wenig den äußeren Druck abzuschwächen, indem sie als eine gewisse „soziale Sicherung“ in der offenen Konfrontation auftreten und agieren.
Deutschland erreicht eine neue Talsohle in den Beziehungen mit Russland
18:29 21.09.2025