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Die Staatsbürgerschaft ist wichtiger als der Glaube


Das staatliche Allrussische Zentrum für Meinungsforschung (VTsIOM)  legte am Vorabend des Tages der Volkseinheit, der am 4. November in Russland begangen wurde, eine soziologische Umfrage zum Thema der Prioritäten für die Identität der Bürger Russlands vor. „Sagen Sie bitte, zu welcher sozialen Gruppen, zu welcher Menschengemeinschaft rechnen Sie sich in erster Linie? Für wen halten Sie sich vor allem? Das heißt: Wie würden Sie persönlich die Antwort auf die Frage „Wer sind Sie?“ beenden? „Ich bin in erster Linie…“. Solche Fragen hatten die Meinungsforscher den Befragten gestellt.

Laut den Ergebnissen steht an erster Stelle die Aussage „Staatsbürger Russlands“. Einen der letzten Plätze hat die Kategorie „Anhänger seiner Religion“ mit einem Ergebnis von 2 Prozent der Befragten. Dies ist, wie man üblicherweise sagt, etwas mehr als der statistische Fehler. Danach folgen nur diejenigen, die sich hinsichtlich der Prioritäten nicht festgelegt haben. Sogar die Kategorie „Weltbürger“ hat mit ihren 3 Prozent die „Anhänger einer Religion“ hinter sich gelassen.

Andere Daten belegen, dass die meisten Befragten der Auffassung sind: Die Tatsache, dass Russland ein multinationales Land ist, Russland „eher stärker“ mache. So hatten 60 Prozent der Befragten geantwortet. Freilich, gerade dieser Teil der Befragung wird mit einem Vergleich mit Angaben des vergangenen Jahres vorgestellt, als die Zahl derjenigen, die den multinationalen Charakter des Landes als ein Wohl ansehen, um vier Prozent höher ausfiel. Und um ein Prozent ist die Zahl derjenigen zurückgegangen, die den multinationalen Charakter für einen abschwächenden Faktor halten.

„Wenn begonnen wird, über die eigene Selbstbestimmung zu sprechen, rückt die staatsbürgerliche Identität an die erste Stelle, die andere Grundlagen für die Identität – das Geschlecht, die Generation, der Beruf, die ethnische Zugehörigkeit u. a. — in großem Maße hinter sich lässt“, schlussfolgern die Experten aus dem VTsIOM. „Die Staatsbürgerschaft dient als ein gewisser gemeinsamer Nenner, der die Menschen unabhängig von ihrem Geschlecht, Alter, von ihrer sozialen Lage und der Region ihres Lebens vereint“.

Jedoch hatte früher das Meinungsforschungszentrum einen hohen Grad der religiösen Bindung fixiert, insbesondere die Haltung zum orthodoxen Christentum. Im August 2019 hatten sich beispielsweise 63 Prozent der vom VTsIOM befragten Menschen als orthodoxe Christen bezeichnet. Wie passt aber diese solide Prozentzahl zu dem winzigen Anteil derjenigen, die ihre Identität in erster Linie entsprechend der Religion bestimmen?

Das hat mit dem Standpunkt zu tun, von dem ausgehend die Fragen formuliert worden sind. Die meisten Bürger Russlands sind geneigt, ihre Identität mit irgendeinem Glauben zu verbinden. Wenn aber von Prioritäten gesprochen wird, erhalten die bürgerlichen und nicht die religiösen Werte den Vorzug. Von daher kann man den Schluss über eine Formalisierung der Zugehörigkeit zu einem Glauben ziehen. Mehr noch, in der Regel stellt die Religion lediglich einen der Marker der Zugehörigkeit zu einer großen bürgerlichen Nation dar. Sicherlich machen wirklich jene die Mehrheit im Land aus, die sich auf die direkte Frage hin als orthodoxe Gläubige bezeichnen. Dies bedeutet aber nicht, dass sie sich in Überlegungen über Wesensfragen der Religion – über das Problem der persönlichen Rettung, über ein Leben entsprechend den geistlichen Idealen und über einen moralischen Imperativ – vertiefen. Sie dringen nicht tiefer in die Theologie ein u. a. Für sie ist die Orthodoxie ein historisch entstandener Glauben des Landes, wobei die Befragten in ihrer Mehrheit stolz sind, dessen Staatsbürgerschaft zu besitzen. Dies gilt auch für die anderen traditionellen Religionen.

Man darf aber nicht davor die Augen verschließen, dass sich ein erheblicher Teil der Bürger Russlands zu keinerlei Religion bekennen. Dies ergibt sich oft so aufgrund einer indifferenten Haltung der Bürger gegenüber jeglicher religiösen Tradition. Es kommt aber vor, dass ein Nichtglauben zu einer bewussten Entscheidung wird. Und diese Entscheidung wird durch die Verfassung Russlands respektiert und geschützt. Was kann die VTsIOM-Umfrage hinsichtlich dieser Menschen aussagen? Das Ergebnis von zwei Prozent der befragten Bürger, die die religiöse Identität als die grundlegende für sich gewählt haben, belegt, dass ein Nichtglauben an Gott für Russlands Bürger nicht als ein Hindernis für ein Integriertsein in die gesamtnationale Identität dient. Das Wichtigste sind die bürgerlichen Werte. Es gibt keine Gründe dafür, dass Nichtgläubige, Agnostiker oder Atheisten nicht in die gesamtnationale Einheit integriert sind.

Zur gleichen Zeit werden in der letzten Zeit Erklärungen laut, die gegen Atheisten gerichtet sind, die sogar diejenigen beleidigen, die sich zu keinerlei religiösen Tradition rechnen. Eine der Weltanschauungen der Menschheit und Formen des freien Denkens – der Atheismus – wird mit „Amoralität“ und „Schamlosigkeit“ gleichgesetzt. Präsentiert wird er als „geistige Luxation“, „Verwirrung“, „moralisches Rowdytum“, „Missachtung der eigenen Nation“, „Fieberwahn“, „moralische Zügellosigkeit“, „ein Befolgen des Prinzips, wonach alles erlaubt sei“ usw.

Diese Stimmen klammern die Nichtgläubigen und Atheisten aus der russischen Identität aus. Dies widerspricht aber vollkommen den VTsIOM-Daten, das heißt der Meinung der Bürger Russlands. Wer so denkt, verbreitet und vertritt keine russischen Werte, sondern fremde Werte, die durch Prediger aus anderen Ländern vermittelt wurden. Wobei dies nicht die besten Beispiele religiösen Gedankengutes sind. Die gemäßigten Regimes im Nahen Osten gehen vom Radikalismus ab und tendieren zu bürgerlichen Grundsätzen, zu einer Entwicklung. Uns aber zieht man zurück, ins Mittelalter. Letzten Endes zerstört dies die nationale Eintracht in Russland, arbeitet gegen Russland.