Die Konfrontation von Armeniens Premierminister Nikol Paschinjan mit der Führung der Armenischen Apostolischen Kirche (AAK) hat ein neues Niveau erreicht. Der Regierungschef konnte sich der Unterstützung eines Teils der höchsten Führung der AAK versichern, womit er deren Leitung gelähmt hat. Zum Auslöser dafür wurde veröffentlichtes kompromittierendes Material zum Leiter der Kanzlei von Etschmiadsin (der Hauptsitz der AAK – Anmerkung der Redaktion), Arschak Chatschatrjan.
Das Untersuchungskomitee Armeniens bestätigte die Echtheit der Videoaufnahmen, auf denen Chatschatrjan vermutlich einen sexuellen Kontakt mit der Ehefrau seines Onkels aufnimmt. Bemerkenswert ist, dass bereits im Mai Paschinjan vom Vorliegen solch kompromittierenden Materials gesprochen hatte. Damals waren viele der Auffassung gewesen, dass die Internetseite des Premierministers Feinde gehackt hätten. Doch die nachfolgenden Ereignisse haben gezeigt, dass er sich nur locker gemacht hatte.
Chatschatrjan beharrt auf eine Unglaubwürdigkeit des veröffentlichten Videos. „Viele haben mir angeraten, rasch zu reagieren und zu dementieren. Jedoch kann ich mich selbst bei einem maximalen Anspannen der Kräfte nicht ernsthaft mit einem Dementieren solcher Fantasien und Verleumdung befassen. Ich halte es für vernünftig, sie einfach zu ignorieren“, erklärte der Chef der Kanzlei von Etschmiadsin.
Katholikos Garegin II. glaubt Chatschatrjan. Allerdings hatte er wohl keinen anderen Ausweg. Die letzten sechs Monate beschimpft Paschinjan ständig das Oberhaupt der AAK, wobei er auffordert zurückzutreten. Überdies hat man im Oktober noch den Neffen des Katholikos, Bischof Mkrtitsch Proschjan aufgrund des Vorwurfs der Einmischung in den Wahlprozess hinter Gitter gebracht. Und ihn selbst haben andere Geistliche des Ehebruchs bezichtigt.
Nachdem Garegin II. Chatschatrjan unterstützte, haben sich sechs Erzbischöfe und vier Bischöfe einschließlich des Vorstehers der Diözese Arzach (armenische Bezeichnung für Bergkarabach – Anmerkung der Redaktion), Vrtanes Abramjan, mit Paschinjan getroffen. Sie stimmten nicht nur der Schlussfolgerung des Untersuchungskomitees zu, sondern forderten auch den Katholikos zu einem Rücktritt auf. Nach ihren Worten sei der gegenwärtige Kurs von Etschmiadsin „widerrechtlich, gefährlich, schädlich und zerstörerisch und kann nicht mehr fortgesetzt werden“.
Außerdem wandten sich die Vertreter der Armenischen Apostolischen Kirche unter anderem an die Patriarchen von Konstantinopel und Jerusalem, aber auch an den „Klerus, die Staatsorgane und Funktionäre des Vaterlands“ mit der Bitte, das Erste nationale Kirchenkonzil einzuberufen und bei dem eine Satzung der AAK anzunehmen.
„Wir, eine Gruppe von Bischöfen, die ihren Teil an Schuld hinsichtlich der entstandenen Situation begreifen, sind mit dieser Initiative bestrebt, eine Reform der armenischen Kirche anzuschieben, damit unsere Heilige Kirche wieder ihre nicht zu ersetzende Mission, die durch den Herrn, unseren Jesus Christus angewiesen wurde, im Leben unseres Volkes wahrnimmt und eine Stärkung unseres Heimatstaates in dieser gefährlichen Zeit fördert, damit der Katholikos aller Armenier der Katholikos aller Armenier unabhängig von ihren politischen und religiösen Anschauungen sein kann, damit unsere Mutterkirche wahrhaft eine Mutter sein und die Kinder unseres Volkes vereinen kann, die in den unterschiedlichen religiösen Strukturen, die um den Glauben kämpfen, Glauben suchen“, heißt es in ihrem Appell.
Als Antwort unternahm Garegin II. den Versuch, in Etschmiadsin eine Versammlung aller in Armenien lebenden Mitglieder des Obersten Geistlichen Rates der AAK durchzuführen, doch vermochte er es nicht, ein beschlussfähiges Forum zu organisieren. Die auf der Seite von Paschinjan aufgetretenen Geistlichen hatten nicht auf die Einladung des Katholikos reagiert.
Die Anhänger von Garegin II. erklären, dass Paschinjan die Kirche nicht reformieren, sondern sie von seinem Mann anführen lassen wolle. Im Zusammenhang damit hat der Vorsteher der Surp-Hovhannes-Kirche von Bjurakan (eine bedeutende Basilika in Armenien, die im 10. Jahrhundert errichtet wurde – Anmerkung der Redaktion), Priester Vrtanes Bagaljan, konstatiert, dass kaum einer sich einem regierungstreuen Katholikos unterordnen werde.
Wie dem nun auch immer sein mag, in den Morgenstunden des 30. November nahm Paschinjan entsprechend einer sich bereits herausgebildeten Tradition an einem Sonntagsgottesdienst teil. Dieses Mal besuchte er die Jerewaner Surp-Sarkis-Kirche auf. Oppositionelle versuchten, den Premier an dem Besuch der Kirche zu behindern, doch Polizeikräfte vermochten dies zu vereiteln. Der Veranstaltung wohnte gleichfalls der Koordinator der Oppositionsbewegung „Auf unsere Art“, Narek Karapetjan, bei. Doch laut Aussagen von Augenzeugen hatte er die gesamte Liturgie über bescheiden auf Stufen des Gotteshauses gesessen.
Zur gleichen Zeit erklärte Karapetjan gegenüber Journalisten, dass der Versuch von Paschinjan, eine Spaltung innerhalb der AAK zu organisieren, beweise, dass es dem Regierungschef nicht gelungen sei, die Kirche zu entzweien, da sich diese auf die Bevölkerungsmehrheit Armeniens stütze. „Das armenische Volk unterstützte nicht die Angriffe gegen die Kirche. Und nur von innen her werden Versuche unternommen, irgendwelche Schritte zu unternehmen“, sagte er.
Derweil erfinde laut Aussagen von Grant Mikaeljan, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Kaukasus-Instituts, Paschinjan keine Probleme innerhalb der Kirche, sonder nutze geschickt die bestehenden aus.
„Traditionell wählt man den Katholikos auf Lebenszeit. Aber die Geschichte Armeniens war stets eine komplizierte. Krankheiten, Kriege und andere Unannehmlichkeiten haben nicht einem Menschen erlaubt, sehr lange zu herrschen. Daher hat es auch in Bezug auf das Oberhaupt der AAK nicht zu viele Beanstandungen gegeben. Seinerseits befindet sich Garegin II. 26 Jahre an der Macht. In dieser Zeit erwarb er unterschiedliche Kontakte, Günstlinge u. ä. Dies gefällt nicht allen Geistlichen. Überdies würden einige auch gern die AAK leiten“, erläuterte Mikaeljan.
Im Ergebnis dessen konnte Paschinjan den Konflikt zwischen der Kirche und der Regierung Armeniens in eine innerkirchliche Konfrontation verwandeln, in der der Premierminister die Opposition in Bezug auf den Katholikos unterstützt.
„Garegin II. ist in eine recht schwierige Lage geraten. Etwa die Hälfte der Bischöfe Armeniens ist öffentlich gegen ihn aufgetreten. Dabei befindet sich ein Teil der Anhänger des Katholikos im Gefängnis. Dieses Problem kann man schon nicht durch eine Aberkennung des (Kirchen-) Ranges lösen. Was die oppositionellen Parteien angeht, so wird es jetzt für sie schwieriger werden, den Kirchenskandal gegen Paschinjan auszunutzen. Methodologisch ist er ihnen um etwa 70 Jahre voraus“, resümierte Mikaeljan.