Am 37. Jahrestag des Erdbebens von Spitak hat Armeniens Premierminister Nikol Paschinjan nicht nur der Opfer dieser Katastrophe (mindestens 25.000 Tote und über eine Million Obdachlose – Anmerkung der Redaktion) gedacht, sondern auch die Kirche zu den sieben Wunden in Gjumri besucht. Im Rahmen der Antikirchen-Kampagne besucht er jeden Sonntag den Gottesdienst in irgendeinem Gotteshaus. Dieses Mal aber war es ein besonderer Besuch. Lange Zeit galt Gjumri als die Hauptstadt des armenischen Protests. Doch Paschinjan hat nun aber am vergangenen Sonntag anschaulich demonstriert, dass es da keinen mehr gebe, der Widerstand leiste.
Die Geistlichen aus der Diözese Schirak hatte es abgelehnt, einen Gedenkgottesdienst im Beisein von Paschinjan zu zelebrieren. Im Endergebnis blieb er zusammen mit loyalen Mitgliedern aus der Armenischen Apostolischen Kirche in der Kirche zu den sieben Wunden, während die Oppositionellen in die Kirche zum Heiligen Erlöser in Gjumri gingen. Die Liturgien erfolgten parallel, doch im Beisein des Regierungschefs erwähnten die (Noch-) Mitglieder der Armenischen Apostolischen Kirche nicht den Namen des Katholikos Garegin II.
Bemerkenswert ist, dass zusammen mit Paschinjan das Oberhaupt der Ararat-Diözese, Erzbischof Nawasard Ktschojan, der Vorsteher der Masjazotn-Diözese, Bischof Geworg Sarojan, und das Oberhaupt der Diözese in den Ländern des Baltikums, Erzbischof Wasgen Mirsachanjan, beteten.
Zuvor hatten sie das Oberhaupt der Armenischen Apostolischen Kirche zum Rücktritt aufgefordert. Dabei war Erzbischof Mikael Adschapachjan des Verwaltungsgebietes Schirak, in dessen Verantwortungsbereich sich die Kirche zu den sieben Wunden befindet, im Oktober zu zwei Jahren Freiheitsentzug aufgrund öffentlicher Aufrufe zu einer Machtergreifung verurteilt worden. Gjumris Bürgermeister Wardan Gukasjan hatte gleichfalls Paschinjan eines Verrats an der Nation beschuldigt und befindet sich gegenwärtig aufgrund von Korruptionsvorwürfen in Haft. Man kann ihn zu bis zu zehn Jahren Freiheitsentzug verurteilen.
„Ich bin der Auffassung, dass die Zeit gekommen ist, eine Liturgie in Etschmiadsin (dem Zentrum der Armenischen Apostolischen Kirche – Anmerkung der Redaktion) abzuhalten, dies ist meine persönliche Meinung… Heute besteht das Problem darin, dass Ktritsch Nersisjan (weltlicher Name von Garegin II. – „NG“) nicht begreift, dass er mit seinem Verhalten bereits der Armenischen Apostolischen Kirche und dem Staat einen großen Schaden zufügt und versucht, gegen das Unweigerliche zu kämpfen“, erklärte Armeniens Parlamentschef Alen Simonjan nach dem Gottesdienst in Gjumri.
Garegin II. war am Vorabend des Gjumri-Besuchs von Paschinjan aus Frankreich zurückgekehrt. Dort hatte er sich bemüht, sich einer Unterstützung der Diaspora zu versichern, um seine Legitimität zu unterstreichen. Bei der Rückkehr nach Armenien empfing ihn im Jerewaner Flughafen „Zvartnoz“ eine Gruppe von Paschinjan-Gegnern, die erklärten, dass sie gekommen seien, um den Katholikos vor einer Verhaftung zu schützen, die Behörden angeblich vorbereitet hätten.
Selbst wenn Paschinjan auch solche Pläne haben sollte, so beeilt er sich nicht, sie umzusetzen. Vorerst führen die Rechtsschutzorgane Armeniens Schläge gegen das nächste Umfeld des Katholikos. Verhaftet wurde unter anderem der Chef der Kanzlei der Armenischen Apostolischen Kirche an deren Sitz Etschmiadsin, Erzbischof Arschak Chatschatrjan. Zuerst hatte das Untersuchungskomitee Armeniens die Echtheit von intimen Videoaufnahmen mit seiner Beteiligung bestätigt und ihn später einer illegalen Verbreitung von Drogen bezichtigt. Nach Auffassung der Untersuchungsorgane habe Chatschatrjan im Jahr 2018 einem Unterstellten befohlen, einem der Teilnehmer einer Kundgebung für eine Absetzung des Katholikos Drogen zuzustecken, und danach die Polizei darüber informiert, dass die Oppositionellen verbotene Substanzen hätten.
Chatschatrjan wurde zum dritten Erzbischof, der in den letzten Monaten hinter Gefängnisgitter geraten ist. Neben dem erwähnten Adschapachjan sitzt dort Erzbischof Bagrat Galstanjan, dem man die Vorbereitung eines Staatsstreichs anlastet. Hinter Gittern befinden sich gleichfalls der Bruder und ein Neffe des Katholikos, Geworg und Ambarzum Nersisjan. Ihnen wirft man eine Einmischung in den Wahlprozess vor.
Allerdings kann man Garegin II. doch nicht als einen hilflosen bezeichnen. Ende November konnte sich Paschinjan der Unterstützung von zehn Erzbischöfen und Bischöfen versichern, und Anfang Dezember sammelte der Katholikos zu seiner Verteidigung 30 Unterschriften von gleichrangigen Vertretern. Die führenden Kirchenhierarchen erklärten, dass es nicht angehe, Garegin II. nicht während der Gottesdienste zu erwähnen. Sie unterstrichen ebenfalls, dass für sie eine politische Einmischung in das Leben der Kirche inakzeptabel sei.
„Wir halten den willkürlichen Ausschluss des Namens des Obersten Patriarchen aller Armenier während der heiligen Liturgie für einen unzulässigen und verurteilen dies als einen groben Verstoß gegen den liturgischen Kanon, der aus der Sicht der Theologie Elemente einer Spaltung enthält“, heißt es in einem Appell der Anhänger von Garegin II.
Daneben hat das Patriarchat von Jerusalem der Armenischen Apostolischen Kirche dem Katholikos Unterstützung bekundet und rief ihn auf, ein Nationales Kirchenkonzil einzuberufen. „Jede Frage, die die Armenische Apostolische Kirche betrifft, muss im Rahmen der Kanons der Kirche geklärt werden. Gemäß diesen Kanons ist das einzige Gremium, das das Recht hat, diese Fragen zu erörtern und Entscheidungen zu treffen, das Nationale Kirchenkonzil. Im Zusammenhang damit bittet die Versammlung den Katholikos, das Konzil zur Klärung der Situation um dieses und um die Kirche einzuberufen“, heißt es in einer entsprechenden Erklärung des Patriarchats.
Freilich bestehen auch die Anhänger von Paschinjan auf die Durchführung des Konzils. Sie hoffen, bei ihm die Armenische Apostolische Kirche zu reformieren, damit sich eine legale Möglichkeit ergibt, Garegin II. abzusetzen.