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Warum die Erwachsenen in Russland jetzt Kinder fürchten müssen


In der Schule der Siedlung Gorki-2 des Odinzowo-Stadtbezirks hat ein 15jähriger Schüler mit einem Messer einen Wachbeamten verletzt und einem 10jährigen tadschikischen Schüler der vierten Klasse tödliche Verletzungen zugefügt. Augenzeugen der Tragödie erklären, dass vor diesem Moment der Mörder eine Mathematik-Lehrerin gesucht habe. Und am Vorabend dieses Vorfalls hatte in der Schule Nr. 191 von Sankt Petersburg bereits ein anderer Schüler ein Gemetzel verübt und sich danach selbst verletzt. Im Ergebnis des Überfalls kamen eine 19jährige Lehrerin und zwei Schüler zu Schaden. Zum Grund solch einer schockierenden Tat wurde der Unwille des Halbwüchsigen, sich zusätzlich mit mathematischen Aufgaben zu befassen. Im vergangenen April hatte im Moskauer Vorort Ljuberzy ein 13jähriger Junge einen Hammer mit in die Schule gebracht und mit diesem eine 69jährige Mathematik-Lehrerin auf den Kopf geschlagen. Die Pädagogin wurde in einem schweren Zustand in ein Krankenhaus eingeliefert. Mitte November verprügelte ein 1,80 Meter großer 16jähriger Junge eine 57jährige Lehrerin für Russisch und russische Literatur. Die Frau musste in ein Krankenhaus gebracht werden.

Was passiert mit den russischen Schülern? Warum üben sie Vergeltung? Und an wen üben sie Vergeltung?

Nach solch einer Tragödie setzt jedes Mal in den Medien und sozialen Netzwerken eine Diskussion über präventive Maßnahmen ein. Doch die Reflexion endet schnell. Es sei unmöglich, sich dagegen zu versichern, sind sich Experten einig, wobei sie die USA als Beispiel anführen, wo die Geschichte von Todesschützen in Schulen mehrere Jahrzehnte zurückreicht. Allein im Jahr 2024 hatten sich dort Übergriffe in 21 Bundesstaaten ereignet, wobei das Schicksal von 31.000 Kindern berührt wurde.

Die Tragödie in Gorki-2 haben bereits Abgeordnete kommentiert. Unter anderem nannte Nina Ostanina (KPRF), Vorsitzende des Staatsduma-Ausschusses für den Schutz der Familie, als Hauptursache den Einfluss sozialer Netzwerke, Internetspiele und einer destruktiven Ideologie auf die Minderjährigen.

In der Tat, zu den Besonderheiten des Teenager-Alters, die die Risiken des Auftretens radikaler Einstellungen und deren Involvierung in eine widerrechtliche Tätigkeit erhöhen, kann man die erhöhte Beeinflussbarkeit der Teenager, ihre unkritische Wahrnehmung des Umfeldes und die Neigung, die Meinungen bedingungslos zu akzeptieren, die in den für sie bedeutsamen Gruppen und Gemeinschaften dominieren, rechnen. Die Teenager sind abhängig von einem Erfolg bzw. Misserfolg in den Kontakten mit Gleichaltrigen und gegenüber einer Nichtbilligung und Kritik hypersensibel. Überdies ist auch die Psyche eines Minderjährigen auf maximale Weise für äußere Einflüsse unterschiedlicher Art empfänglich.

Doch zusammen mit den Charakteristika eines Teenagers an sich könnte man auch eine kleine Analyse seines sozialen Umfelds vornehmen. Niemand hat sich über solch eine Frage Gedanken gemacht: Warum haben denn heute auf einmal die Eltern begonnen, die Auffassung zu vertreten, dass die Kinder nur für gute und sehr gute Noten lernen müssen? Die habilitierte Psychologin Jelena Brel, die korrespondierendes Mitglied der Russischen Akademie für Bildungswesen ist, betonte, dass, wenn man sich der Schuljahre der älteren Generation erinnert, so hatte es da in den Klassen Schüler sowohl mit befriedigenden als auch mit unbefriedigenden Leistungen gegeben. Und dies hätte im Übrigen eine Schulfreundschaft nicht gestört. Warum sind heute die Anforderungen an das Studium und eine Freundschaft so drastisch gestiegen? Warum ist ein ausgezeichnetes Lernen zum Ziel der Familie geworden? Und warum ist die Arbeit von Repetitoren jetzt zu einer massenhaften geworden, und dies gleich ab den ersten Klassen?

Derweil führe das Streben bzw. der Wettlauf nach akademischen Erfolgen zu einem prolongierten Stress für die Kinder, betont Jelena Brel. Beachten Sie, von allen Seiten ist zu hören, dass die Kinder überbelastet seien. Jedoch ist die wöchentliche Belastung durch die Unterrichtsfächer des geisteswissenschaftlichen Zyklus in der Schule eine weitaus geringere als die, die vor 30, vor 20 und sogar vor zehn Jahren existierte. Und der Umfang des Russisch-Unterrichts ist beinahe genau solch einer wie der des Fremdsprachenunterrichts. Daher ist der Bedarf an einer psychologischen Betreuung laut Angaben von Jelena Brel in den letzten drei Jahren um das 3fache angestiegen. Und die Erscheinungen eines sozial inakzeptablen Verhaltens von Teenagern und Kindern haben auch zugenommen.

Die Redensart „es gibt keine fremden Kinder“ ist schon längst durch völlig andere Grundsätze ersetzt worden. Die Situation ist heute solch eine, dass die Menschen Angst haben, auf der Straße Teenager zu tadeln oder ihnen gar Hilfe zu leisten, da letztere aktiv in Betrugshandlungen involviert werden.

Psychologen lenken die Aufmerksamkeit auch auf eine heute populäre Erziehungskonzeption, der entsprechend sich die Interessen der Familien ausschließlich auf die Kinder konzentrieren. Ein wesentlicher Mangel solch einer Erziehung ist eine Verwöhntheit des Kindes, das sich schnell daran gewöhnt, alles Gewünschte zu erhalten. Ein gepushter Kinderegoismus unter den Bedingungen eines vagen Charakters der Moralnormen – und schon liegt das Ergebnis auf der Hand: Die Angriffe gegen Lehrer werden zu einer, wie schrecklich dies auch klingen mag, gewöhnlichen Angelegenheit. Rund 66 Prozent der Lehrer Russlands wurden während ihrer Arbeit mit Situationen konfrontiert, in denen Schüler deren Ehre, Würde und guten Namen verletzten. Ergo: Mit jedem dritten Pädagogen (34 Prozent) hat sich so etwas nicht ereignet, erklärte Jekaterina Smoroda, Mitglied des Präsidialrates für die Entwicklung der Zivilgesellschaft und die Menschenrechte.

Wie aus Beobachtungen von Wissenschaftlern aus der Russischen Akademie für Bildungswesen folgt, würden heute 53 Prozent der Schüler eine Matheangst verspüren, die nicht mit einer gewöhnlichen Angst korreliert. Dies offenbare sich in einer das Denken blockierenden Furcht und Spannung, betonte Sergej Malych, Mitglied der Russischen Akademie für Bildungswesen. Die akademische Erfolglosigkeit in Bezug auf Arithmetik hatte Puschkin nicht sehr beunruhigt und ihn nicht daran gehindert, „unser alles“ zu werden. Heute aber kann eine derartige Situation einem Schüler den Weg zu einer Hochschulausbildung bereits in der Mittelschule blockieren. Ohne die Abschlussprüfungen in der 9. oder 11. Klasse in den Fächern Mathematik und Russisch zu bestehen, riskiert das jeweilige Kind, ins Abseits des Lebens zu geraten.

Daher ist es auch nicht überraschend, dass in der letzten Zeit Psychologen begonnen haben, von einem Phänomen der Lebenstüchtigkeit eines Teenagers bei der Unterstützung seiner psychologischen Gesundheit zu sprechen.