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Die führende Rolle der Gaspipelines wird der Vergangenheit anheimfallen


Die Ära der großangelegten Pipeline-Projekte geht zu Ende. An ihre Stelle treten die Lieferungen von verflüssigtem Erdgas (LNG), die für die Verbraucher neue Möglichkeiten eröffnen, wobei sie gleichzeitig erlauben, Druck auf die Gaslieferanten auszuüben, die sich auf Pipelines orientieren. Als ein Beispiel kann die Situation dienen, die sich um die russischen Gaslieferungen in die Türkei und nach China ergeben hat, aber auch das Problem der Fertigstellung der Gaspipeline „Nord Stream 2“.

In der ersten Hälfte dieses Jahres haben sich die russischen Gaslieferungen in die Türkei spürbar verringert. Obgleich, ein Trend zum Rückgang wurde auch im vergangenen Jahr beobachtet, als die Lieferungen unter 15 Milliarden Kubikmeter abrutschten. Im Ergebnis dessen hat Russland die führende Rolle als ein Lieferant von Kohlenwasserstoff-Ressourcen auf dem türkischen Markt eingebüßt, auf dem es bis vor kurzem noch dominierte. Russland haben Aserbaidschan, der Iran, Qatar und Algerien überholt.

Den Rückgang der russischen Gaslieferungen berührte sowohl die im Januar diesen Jahres in Betrieb genommene Gaspipeline „Turk Stream“ als auch die Pipeline „Blue Stream“. Einerseits setzte die türkische Seite auf Gas vom aserbaidschanischen Feld Schah Deniz, das nach Erzurum und weiter nach Griechenland geliefert wird. Die entsprechende Gaspipeline erlaubte, den Import aus Aserbaidschan fast um 2 Milliarden Kubikmeter zu erhöhen. Andererseits hat Ankara die LNG-Einfuhren verstärkt. Im Jahr 2019 näherten sie sich der 12-Milliarden-Kubikmeter-Marke. Zu den Spitzenreitern auf dem Gebiet der LNG-Lieferungen in die Türkei gehören die USA, Algerien, Qatar und Nigeria, aber auch noch eine Reihe anderer Länder. 

Die Vergrößerung des Anteils aserbaidschanischen Gases vor dem Hintergrund der Verstärkung der LNG-Lieferungen führte zu einem Verlust des türkischen Interesses nicht nur an „Turk Stream“, sondern auch an der Gaspipeline „Blue Stream“. Im vergangenen Jahr sind durch sie rund 10,6 Milliarden Kubikmeter Gas geliefert worden, obwohl die Leitung für 16 Milliarden Kubikmeter ausgelegt ist. Im Ergebnis dessen ist die russischen Gaspipeline „Blue Stream“ im Jahr 2019 nicht voll ausgelastet wurden. Und in diesem Jahr wird dies für sie ebenfalls zu konstatieren sein. „Turk Stream“ erfährt ein ähnliches Schicksal. Überdies kann ausgehend von der aktuellen Auslastung beider Leitungen in der Perspektive die Situation entstehen, dass nur eine von beiden gebraucht wird, die dann aber voll ausgelastet wird. 

Der Wechsel der Prioritäten in der Energiepolitik der Türkei steht nicht zuletzt mit der Frage nach den Preisen für die Kohlenwasserstoffe in einem Zusammenhang. Die türkische Seite ist an einer Reduzierung der russischen Gaspreise interessiert. Ihre Rolle spielten die warme Witterung und die Coronavirus-Pandemie, die in vielen Ländern zur Verringerung des Verbrauchs an Kohlenwasserstoff-Ressourcen geführt hat. Gleichzeitig ist die Entscheidung Ankaras bezüglich einer Umorientierung auf die Erhöhung der LNG-Lieferungen nicht frei von einer politischen Komponente. Die feierliche Inbetriebnahme der Gaspipeline „Turk Stream“ erfolgte im Januar 2020, als Ankara bereits die Einkäufe russischen Gases verringert hatte. Ausgewirkt hat sich die Nichtübereinstimmung der Interessen Russlands und der Türkei hinsichtlich einer Reihe von Schlüsselfragen. Die Politik der Türkei ist auf eine Unterstützung der Ukraine in Bezug auf die Krim ausgerichtet. Meinungsverschiedenheiten bestehen zwischen beiden Ländern auch hinsichtlich anderer Regionen. Bis vor kurzem wurden brisante politische Widersprüche durch die Zusammenarbeit in einzelnen Wirtschaftssektoren geglättet. Außerdem wurden die Beziehungen beider Länder durch das Prisma der Perspektiven für russische Gaslieferungen betrachtet. 

Die Frage danach, ob die im ersten Halbjahr des Jahres 2020 entstandene Situation mit den russischen Gaslieferungen in die Türkei ein Zusammentreffen von Umständen oder der Beginn einer neuen Etappe in den Beziehungen beider Staaten im Energiebereich ist, bleibt eine offene. Im letzteren Fall können die in Richtung Türkei verlaufenden russischen Pipelines mit dem Problem der Auslastung konfrontiert werden, was faktisch die Frage nach ihrer Rentabilität aufwirft. Im Falle einer Fortsetzung der Politik, die auf eine Zunahme des Erwerbs aserbaidschanischen Gases ausgerichtet ist, und der Orientierung auf LNG wird die russische Dominanz auf dem türkischen Markt zur Geschichte. 

Die Pipelineprojekte, die bis vor kurzem als Schlüsselfaktoren angesehen wurden, die ein langfristiges Zusammenwirken der Staaten gewährleisten, verlieren in den letzten Jahren ihre Bedeutung. Das verflüssigte Erdgas verwandelte den Gasmarkt in einen weltweiten, nachdem es den Verbrauchern neue Möglichkeiten für eine Diversifizierung der Lieferungen eröffnete. Diese Situation tangierte auch Russland. So wurden sowohl „Turk Stream“ als auch „Nord Stream“ als eine Alternative zum ukrainischen Transit angesehen. Doch mit der Verringerung der Abhängigkeit von der Ukraine geriet Russland in eine Abhängigkeit von Ankara. Die Türkei ihrerseits, die unterschiedliche, darunter auch konkurrierende Gaslieferanten auf sich fokussierte, hat ein mächtiges Instrument zur Einflussnahme erhalten. Dies hat dazu geführt, dass die Rolle der Türkei bei der Gewährleistung von Gaslieferungen nach Europa zugenommen und Ankara erlaubt hat, Russland seine Bedingungen zu stellen, wobei es gleichzeitig die Interessen der USA berücksichtigt. 

Eine problematische Situation hat sich mit dem Bau von „Nord Stream 2“ ergeben. Deutschland ist interessiert, russisches Gas direkt aus Russland zu bekommen, was die Risiken der Unterbrechung dessen Lieferungen verringert. Jedoch sind die USA nicht daran interessiert, für die der europäische Gasmarkt attraktiv bleibt. Die Vereinigten Staaten propagieren LNG-Lieferungen nach Europa, wobei sie von der Europäischen Union fordern, die Einkäufe russischen Gases zu verringern. Außerdem wird der Reduzierung der russischen Gaslieferungen nach Europa eine geopolitische Note verliehen, besonders unter den Bedingungen der anhaltenden Zuspitzung der russisch-amerikanischen Beziehungen. Für die Realisierung ihrer Ziele nutzen die Politik eine Politik von Sanktionen gegen die Unternehmen, die dieses Vorhaben realisierten. Gleichzeitig damit propagiert die US-amerikanische Seite die These von der Notwendigkeit einer Verringerung der Abhängigkeit von den russischen Lieferungen, wobei sie darin angeblich eine Bedrohung für die Energiesicherheit der Europäer sieht. Zu einem Ergebnis der Anstrengungen der USA wurde die Unterbrechung der Verwirklichung des Vorhabens „Nord Stream 2“. Bisher gelingt es Russland nicht, dessen Vollendung zu erreichen. Und dies ungeachtet der Erklärungen über die Möglichkeit einer selbständigen Fertigstellung der Pipeline. 

Nicht weniger schwierig bleibt die Situation mit den russischen Gaslieferungen in Richtung Asien. Im Dezember des Jahres 2019 wurde die Ferngasleitung „Power of Sibiria“ in Betrieb genommen, der große Bedeutung beigemessen wurde. Die Coronavirus-Pandemie führte jedoch zu einer Verringerung der Gasnachfrage in China, was sich wiederum auf die Mengen des Erwerbs russischer Kohlenwasserstoff-Ressourcen auswirkte. Im ersten Halbjahr dieses Jahres lieferte Gazprom 1,57 Milliarden Kubikmeter Gas nach China. Im Juli und August kamen 0,73 Milliarden Kubikmeter Gas dazu. Bei Beibehaltung dieser Tendenz kann Russland wohl kaum die geplante Jahresmenge von 5 Milliarden Kubikmeter erreichen. 

Im laufenden Jahr ist in China zu beobachten, dass das Angebot die Nachfrage übersteigt, was Peking erlaubt, zwischen unterschiedlichen Lieferanten auszuwählen. Neben einer Reduzierung des Erwerbs russischen Erdgases erweitert China die Zahl der Gas-Lieferanten, wobei es auch auf verflüssigtes Erdgas setzt. Die chinesische Seite erhält beispielsweise LNG aus Australien. Insgesamt erhöht Peking die LNG-Einkäufe, wobei es darin eine Alternative zu den Pipeline-Lieferungen sieht. Schließlich forciert China noch die Förderung von Schiefergas, dessen Erschließung und Ausbeutung erhöhte Aufmerksamkeit geschenkt wird. Im vergangenen Jahr konnte es eine Förderung von 175 Milliarden Kubikmeter Schiefergas erreichen. Im Ergebnis der Verringerung des Gasverbrauchs auf dem Binnenmarkt, unter anderem aufgrund des Coronavirus, der Erhöhung der Fördermengen an Schiefergas und der Zunahme der LNG-Lieferungen kam es dazu, dass das Interesse an Pipelinegas aus Russland nachgelassen hat. 

Für Russland, dass die asiatische Export-Richtung als eine Alternative zu den Lieferungen nach Europa ansah und sogar dieser Tage den Beginn von Projektierungsarbeiten für die Pipeline „Power of Sibiria 2“ bekanntgab, führt die Reduzierung der Lieferungen nach China zu wirtschaftlichen Verlusten. Die Schlüsselfrage jedoch tangiert wie auch im Fall mit der Türkei die Perspektiven der Gaslieferungen nach China. Bei Bewahrung der sich in China herausgebildeten Herangehensweisen an die Realisierung der Energiepolitik kann Russland mit einem ständigen Nichterhalt von Mitteln konfrontiert werden.

Das Setzen auf neue politische und wirtschaftliche Vereinbarungen in Bezug auf Gaslieferungen hat bisher keine Grundlagen. Die Forcierung der wirtschaftlichen und politischen Konkurrenz zwischen den USA und China hat zu keinen grundlegenden Veränderungen in den russisch-chinesischen Beziehungen geführt. China ist an der Entwicklung neuer Mechanismen zur Verteidigung seiner Interessen, darunter auch mit Russland, interessiert. Peking wird jedoch wohl kaum bereit sein, seine Interessen im Energiebereich zu opfern.

Somit ergibt sich folgendes Bild: Ende vergangenen/Anfang dieses Jahres hat Russland die Verwirklichung einer Reihe von Pipelineprojekten abgeschlossen, denen eine wichtige ökonomische und geopolitische Bedeutung beigemessen wurde. Den Betrieb haben – wie bereits erwähnt – die Pipelines „Turk Stream“ und „Power of Sibiria“ aufgenommen. Außerdem hat Russland Anstrengungen zur Vollendung des Projekts der Gaspipeline „Nord Stream 2“ unternommen. Doch dessen Abschluss verhinderten die Sanktionen, die durch die USA gegen die Unternehmen verhängt wurden, die das Verlegen der „Röhre“ realisierten.

Unter den Bedingungen der geopolitischen Konkurrenz mit dem Westen sind die neuen Pipelineprojekte in Russland als ein Instrument betrachtet worden, welches erlauben wird, einen Teil des Gasmarktes in Europa, der Türkei und in China zu bewahren. Es wurde die Auffassung vertreten, dass die Infrastruktur für Jahre voraus den Charakter der zwischenstaatlichen Beziehungen bestimmen und zusätzliche Bedingungen für eine Wirtschaftskooperation zwischen den Ländern zu schaffen. Schließlich wurden die Pipelines als ein Mechanismus betrachtet, der erlauben wird, die Abhängigkeit von der EU und den Vereinigten Staaten zu verringern. 

Die Situation auf dem Gasmarkt hat sich jedoch rasant verändert. Die Schiefergas-Revolution, die LNG-Lieferungen und Implementierung neuer Fördertechnologien haben neue Möglichkeiten für die Beförderung des Gases bis zum Verbraucher eröffnet. Ausgewirkt hat sich die Coronavirus-Pandemie, die die Nachfrage nach Kohlenwasserstoff-Ressourcen verringerte. Gleichzeitig hat die Attraktivität der Lieferungen von LNG zugenommen, das den Gasmarkt in einen weltweiten verwandelte. Diese Faktoren veränderten die Rolle der Fernleitungen, die im Verlauf von Jahrzehnten als ein Instrument zur Einflussnahme der Lieferanten auf die Verbraucher und gleichzeitig als ein Faktor, der auf kolossale Weise die Beziehungen zwischen den Staaten beeinflusste, gedient haben. All dies ist am Beispiel der russischen Pipelines anschaulich auszumachen. 

Die Erörterung und den Bau neuer Fernleitungen hatte Russland unter anderen außenpolitischen Bedingungen und bei einer völlig anderen Situation auf dem Gasmarkt begonnen. Heute garantieren die Leitungen „Turk Stream“, „Blue Stream“ und „Power of Sibiria“ Russland keine Stabilität für die Gaslieferungen auf die ausländischen Märkte. Zumal die Türkei und China eine Energiepolitik ausgehend von ihren eigenen Interessen verfolgen. 

Die sich in diesem Jahr herausgebildete Situation für die russischen Gaslieferungen auf die ausländischen Märkte wirft eine Frage hinsichtlich der Effektivität der verfolgten Pipeline-Politik auf. Es ist offensichtlich, dass auf der Tagesordnung die Aufgabe steht, keine weitere Verringerung des Anteils am türkischen Markt zuzulassen und stabile Lieferungen nach China zu gewährleisten. Bleibt die Frage in Bezug auf die Fertigstellung der Pipeline „Nord Stream 2“. All dies erfordert von Russland erhebliche Anstrengungen. Zumal nicht nur die Konkurrenz seitens anderer Lieferanten einen gewaltigen Einfluss auf die russischen Positionen auf den Gasmärkten ausüben wird, sondern auch die Sanktionen seitens der Vereinigten Staaten, die nicht beabsichtigen, ihre Politik in Bezug auf Russland zu revidieren.