Moskau und Minsk bereiten sich auf eine noch größere reale Integration vor, die mit einer Vereinigung im Verteidigungsbereich beginnen wird. Dazu drängen die Spitzenvertreter beider Länder die anhaltenden Proteste eines Teils der Landesbevölkerung gegen das Regime von Alexander Lukaschenko. Den eintreffenden Informationen über die Ereignisse in Weißrussland am Sonntag nach zu urteilen, reichen die Rechtsschutzkräfte schon nicht mehr aus, und zum Prozess zur Stabilisierung der Lage sind in einer Reihe von Städten der Republik Belarus (RB) Militäreinheiten hinzugezogen worden.
Für Moskau kann ein Abtreten Lukaschenkos als ein faktischer Verlust von Weißrussland aufgefasst werden, da es nicht sicher ist, dass ihn Personen ablösen können, die den Gedanken des Unionsstaates unterstützen. Wie man aus der Analyse der Situation verstehen kann, ist kein geringer Teil der Bevölkerung Weißrusslands nicht nur gegen den Präsidenten, sondern auch gegen das gesamte System der Gewalt, das durch ihn geschaffen wurde, eingestellt. Fragen im Zusammenhang mit einer Stabilisierung der Situation in Weißrussland sind bei den Gesprächen in Sotschi behandelt worden, und die Vertreter der bewaffneten Organe können als eine nicht vollends genutzte Reserve bei der Gewährleistung der Stabilität angesehen werden. Für solch eine Erörterung gibt es auch eine reale Basis: Bei der Gestaltung des Unionsstaates sind Moskau und Minsk gerade im militärtechnischen Bereich am weitesten vorangekommen. Ein gemeinsamer Verteidigungsraum ist den Fakten, aber auch den offiziellen Erklärungen von Moskau und Minsk nach zu urteilen, bereits geschaffen worden. Es existiert eine gemeinsame Gruppierung von Streitkräften in einer Stärke von mindestens 300.000 Mann, der Truppen der Streitkräfte der RB und des gesamten Westlichen Militärbezirks der Russischen Föderation angehören. Dazu kommt das Gemeinsame Luftabwehrsystem der beiden Länder, das zu mehr als 80 Prozent durch Russland finanziert und versorgt wird. Die Russische Föderation hat in solch einem Zusammenwirken ein eigenes Interesse. Ihre Militärobjekte – die Hantsavichy Radarstation vom Wolga-Typ und das 43. Sendezentrum der russischen Marine westlich von Wilejka, welches die Nachrichtenverbindungen mit den U-Booten der Seekriegsflotte sichert – sind für die strategische Verteidigung des Unionsstaates sehr wichtig. Gleichfalls schaffen die weißrussischen Rüstungsunternehmen gemeinsame Waffensysteme, darunter auch für die strategischen Nuklearstreitkräfte der Russischen Föderation. Nun gehe es nach Meinung von Experten um die Schaffung einer gemeinsamen Armee.
Und solche Ziele werden durch die bereits getroffenen Entscheidungen beider Länder bestätigt, über die Alexander Lukaschenko Ende August informiert hatte. Aus der Erklärung, die durch ihn am 28. August abgegeben wurde, folgt, dass Moskau und Minsk bereit sind, gemeinsam militärische Stärke nicht nur gegen äußere Feinde anzuwenden, aber auch, wenn die Situation im Land außer Kontrolle gerät. Dabei berichtete Dmitrij Peskow, der Pressesekretär des russischen Präsidenten, dass im Bestand der Reserve von Vertretern der bewaffneten Organe zwecks Hilfe für Belarus Spezialisten seien, die in Sachen Extremismus-Bekämpfung ausgebildet seien. Die russische Armee und andere bewaffnete Formationen, die in postsowjetischen Zeiten im Nordkaukasus agierten, haben da riesige Erfahrungen. Und in Minsk ist man scheinbar bereit, sie zu übernehmen.
In der vergangenen Woche waren aus Pskow bereits 300 russische Fallschirmjäger und rund 70 Fahrzeuge und andere Spezialtechnik (unter anderem modernste Luftlandemaschinen vom Typ BMD-4M und Schützenpanzerwagen „Rakuschka“-„Muschel“) aus der 76. Tschernigow-Garde-Fallschirmjäger- und Sturmdivision, die mit dem Roten Banner ausgezeichnet wurde, in Weißrussland eingetroffen. Wie das Verteidigungsministerium der Russischen Föderation mitteilte, würden sie auf dem Brester Übungsgelände der mit dem Roten Banner ausgezeichneten 38. Wiener Sonder-Garde-Fallschirmjäger- und Sturmbrigade der Sondereinsatzkräfte der Streitkräfte der RB an den am 14. September beginnenden weißrussisch-russischen Manövern „Slawische Bruderschaft“ teilnehmen. Dort ist eine ganze russische taktische Bataillonsgruppe konzentriert worden, in der auch Militärs dienen, die in Tschetschenien und Syrien im Einsatz gewesen waren. Das russische Verteidigungsministerium unterstrich, dass die gemeinsamen Manöver in Weißrussland eine „antiterroristische Ausrichtung haben und nicht gegen andere Länder gerichtet sind“. Obgleich, wie die Erfahrungen Russlands zeigen, Terroristen auch unter den inneren Feinden sein können.
Die Manöver „Slawische Bruderschaft“ finden nur wenige Kilometer von der Grenze mit Polen statt. Die weißrussischen Sondereinsatzkräfte nehmen bereits an der Aufrechterhaltung der Ordnung in einer Reihe von Grenzstädten im Westen des Landes teil, in denen Polen die Bevölkerungsmehrheit ausmachen. Die russischen Fallschirmjäger werden jedoch vorerst nicht an den Konflikten im Innern der RB teilnehmen. Die russisch-weißrussischen Manöver sollen vor dem allgemeinen strategischen Hintergrund im Rahmen von Maßnahmen zur Vorbereitung der Militärmanöver „Kaukasus-2020“ in Russland stattfinden. Und da agiert der weißrussische Generalstab auch entsprechend einem gemeinsamen Plan mit der Russischen Föderation, gemäß dem neben den russisch-weißrussischen Manövern bei Brest eine Verlegung von Panzereinheiten aus zentralen Regionen des Landes in den Westen erfolgt. Wie Weißrusslands Verteidigungsminister Viktor Chrenin erklärte, werde auf dem Übungsgelände „Osipowitschskij“ eine taktische Bataillonsübung durchgeführt. „Auch werden noch fünf Truppenteile eine Mobilmachung vornehmen“, fügte er hinzu.
Aus Quellen wurde bekannt, dass bei den Gesprächen Putins und Lukaschenko in Sotschi auch die Frage nach den russischen Militärstützpunkten auf dem Territorium Weißrusslands zur Sprache kommen werde. „Die Abkommen über die Stationierung der Radarstation vom Wolga-Typ und des 43. Sendezentrums der Seekriegsflotte Russlands „Wilejka“ gelten bis zum 7. Juni 2021. Sie müssen prolongiert werden. Überdies hat die Russische Föderation ein Interesse daran, auch andere Objekte in Weißrussland zu stationieren. Früher hatte Lukaschenko dem nicht zugestimmt. Jetzt versteht er jedoch, dass er sich ohne die militärische Unterstützung Moskaus kaum halten kann“, erklärte gegenüber der „NG“ der Militärexperte und Oberst der Reserve Wladimir Popow. Der Experte ist der Auffassung, dass es Grund zur Annahme gebe, dass Russland Weißrussland vorschlagen wird, gemeinsame Truppenteile und Verbände zu bilden, die aus dem Haushalt des Unionsstaates, faktisch aber zu 70 bis 80 Prozent durch die Russische Föderation finanziert werden. „Einen Vorlauf dafür gibt es – die Bildung gemeinsamer Gruppierungen für die Lösung von Aufgaben der militärischen Sicherheit bei Manövern und Trainings im Rahmen des Gemeinsamen Luftabwehrsystems. Solch eine Form der militärischen Integration wird eine kleine Stufe zur Bildung einer gemeinsamen Armee der Russischen Föderation und der Republik Belarus sein“, meint Popow.