Die Entscheidung der Werchowna Rada (Parlament der Ukraine – Anmerkung der Redaktion), die offiziellen Ergebnisse der Wahlen in Weißrussland nicht anzuerkennen, kann zu einer neuen Runde in der Auseinandersetzung der Ukraine mit Russland führen. Die ukrainischen Abgeordneten hatten einen Monat lang die Frage vertagt. Sie hatten sie aber sofort nach dem Treffen von Alexander Lukaschenko und Wladimir Putin in Sotschi, aber auch vor dem Hintergrund der Zuspitzung der Beziehungen Moskaus mit Berlin und Paris auf die Tagesordnung gesetzt. Letzteres hat das weitere Bestehen des Normandie-Formats in Frage gestellt.
Im Beschluss des ukrainischen Parlaments, der am 15. September verabschiedet wurde, heißt es, dass die Präsidentschaftswahlen in Weißrussland „weder freie noch ehrliche gewesen waren“, dass sie mit zahlreichen Verstößen erfolgten und im Ergebnis dessen „nicht die reale Willensbekundung der weißrussischen Bürger widerspiegeln“. Gesondert wurde auf die mögliche Beteiligung der Russischen Föderation und der Organisation des kollektiven Sicherheitsvertrages (OKSV) an der Regelung der weißrussischen Situation eingegangen. Die Werchowna Rada erklärte, dass Kiew dies „als eine direkte Bedrohung für die gesamteuropäische Sicherheit und die Sicherheit der Ukraine“ auffassen werde.
Derartige Befürchtungen erklangen auch früher. Sie haben sich aber nach den Gesprächen Putins mit Lukaschenko verstärkt. Alexander Sawitnjewitsch, Vorsitzender des Parlamentsausschusses für nationale Sicherheit, sagte in einem Interview von „RBC-Ukraine“, dass man die Wahrscheinlichkeit einer „russischen Militäraggression von Seiten Belarus‘ aus“ nicht vollkommen ausschließen könne. Er erläuterte: „Wir alle wissen, dass Russland und Belarus zur OKSV gehört. Artikel 4 dieses Vertrags erlaubt, im Falle einer äußeren Aggression einem Mitglied der Vereinigung militärische Hilfe zu gewähren. Und solche Hilfe wird innerhalb kurzer Frist gewährt. Dies birgt eine sehr große Gefahr für uns. Daher hat die Ukraine Maßnahmen ergriffen und verfolgt die Situation. Jegliche Versuche einer Destabilisierung der Situation in Belarus wie auch dessen Übernahme durch die Russische Föderation widersprechen den Interessen unseres Staates“.
Die Position der ukrainischen Abgeordneten entspricht den Entscheidungen und Beschlüssen ihrer europäischen Kollegen. Bemerkenswert ist, dass sie zu einem Zeitpunkt artikuliert wurde, als nach Meinung von Experten ein diplomatischer Skandal zwischen der Russischen Föderation und Frankreich heranzureifen begann, aber auch ein möglicher diplomatischer Abbruch in den Beziehungen zwischen Russland und Deutschland reale Umrisse erlangte. Zur Ursache wurde die Situation mit Alexej Nawalny. Die Folgen offenbarten sich bereits auf öffentlicher Ebene: In dieser Woche teilte das russische Außenministerium mit, dass Sergej Lawrow nicht nach Berlin zur Abschlusszeremonie des deutsch-russischen Jahres der Hochschulkooperation und Wissenschaft reisen würde, da der deutsche Minister Heiko Maas nicht an der Veranstaltung teilnehmen werde. „Somit ist das ursprüngliche und Hauptziel der Lawrow-Reise in die Hauptstadt Deutschlands inaktuell geworden, und das vorgeschlagene Format für die bilateralen Gespräche – zu einem stark beschnittenen“, hieß es in einer offiziellen Mitteilung.
Zur gleichen Zeit hat der russische Präsident Wladimir Putin den französischen Kollegen Emmanuel Macron gezügelt, der in Moskau mit einer Frage zu Nawalny angerufen hatte. „Ausführlich ist die entstandene Situation um die „Angelegenheit Nawalnys“ erörtert worden. Wladimir Putin unterstrich die Unangebrachtheit haltloser und auf nichts beruhender Anschuldigungen gegen die russische Seite in diesem Kontext“, zitierte TASS eine Pressemitteilung des Kremls zu den Ergebnissen des Gesprächs. Außerdem hatte der russische Staatschef im Gespräch mit dem französischen Präsidenten die Aufmerksamkeit darauf gelenkt, „dass zwecks Klärung der realen Umstände des Vorgefallenen eine Übergabe von Biomaterialien und eines offiziellen Gutachtens zu den Ergebnissen der von Nawalny genommenen Analysen an Russland, aber auch die Organisierung einer gemeinsamen Arbeit mit russischen Ärzten durch die deutschen Spezialisten erforderlich sind“.
Deutschland und Frankreich gehören zusammen mit Russland und der Ukraine zur Normandie-Vierer-Gruppe. Dieses Format war im Jahr 2014 zur Erörterung und Bestätigung einer Strategie für die Konfliktregelung im Donbass etabliert worden. Mit taktischen Fragen sollte sich die Minsker trilaterale Kontaktgruppe, die aus Vertretern der Ukraine, Russlands und der OSZE besteht, und unter Beteiligung von Delegierten aus der Donezker Volksrepublik (DVR) und der Lugansker Volksrepublik (LVR) befassen. Wladimir Selenskij war mit dem Hauptversprechen an die Macht gekommen, Frieden in den Donbass zu bringen. Zuvor erklärte er ein Interesse an einer Wiederaufnahme der aktiven Arbeit des Normandie-Formats, wobei er Verhandlungen auf solch einer Ebene für den kürzesten Weg zur Lösung des Konflikts hält. Selenskij hat auch jetzt seine Pläne nicht aufgegeben. Nach dem am 11. September in Berlin erfolgten Treffen der Berater der Staatschefs der Vierer-Gruppe erklärte das ukrainische Staatsoberhaupt, dass diese Gespräche den Weg zu einem künftigen Gipfeltreffen der Ukraine, der Russischen Föderation, Deutschlands und Frankreichs bahnen würden. In dieser Woche erinnerte Selenskij im Zusammenhang mit seinem seinem Österreich-Besuch in einem Interview der „Wiener Zeitung“: „Wenn ich etwas verspreche, sind das keine leeren Worte. Den Krieg zu beenden und die ukrainischen Territorien zurückzubekommen — das hat für mich höchste Priorität. Das sind keine romantischen Versprechungen“.
Der politische Experte Vitalij Portnikov betonte in einem Beitrag auf der Internetseite von Radio Liberty: „Im Kreml ist man sich dessen bewusst, dass die Durchführung eines Gipfeltreffens an sich und die Gelegenheit persönlicher Treffen von Wladimir Putin und Wladimir Selenskij ein wichtiges politisches Ziel des ukrainischen Präsidenten ist und dass Selenskij gerade seine Hoffnungen auf das Erreichen von Frieden im Donbass in solche Begegnungen setzt. Und das bedeutet: Mit der Durchführung solcher Treffen kann man ihn erpressen“. Unter dem Wort „erpressen“ versteht Portnikov wie auch viele in der Ukraine die Forderungen nach politischen Zugeständnissen der ukrainischen Seite in der Frage der Konfliktregelung im Donbass.
In erster Linie geht es um die Kommunalwahlen auf dem nicht durch Kiew kontrollierten Territorium. Es sei daran erinnert, dass die Werchowna Rada am 15. Juli einen Beschluss verabschiedet, durch den die regionalen Wahlen für den 25. Oktober anberaumt wurden – auf dem gesamten Territorium des Landes, mit Ausnahme jener Gebiete, die durch die ukrainische Gesetzgebung als „zeitweilig okkupierte“ anerkannt worden sind. Seitdem verlangen die Vertreter der DVR und LVR, aber auch die Mitglieder der russischen Delegation in der Minsker Kontaktgruppe, Änderungen am Beschluss des ukrainischen Parlaments vorzunehmen. Diese Frage ist, wie mitgeteilt wurde, auch im Verlauf des Berliner Treffens der Präsidentenberater erörtert worden. Der stellvertretende Leiter der russischen Präsidialadministration Dmitrij Kosak sagte gegenüber Journalisten, dass die ukrainische Delegation zugestimmt hätte, Korrekturen an dem Beschluss vorzunehmen. Der Chef des ukrainischen Präsidentenoffices Andrej Bogdan versicherte den ukrainischen Medien, dass keiner solche Versprechen gegeben hätte.
Die ukrainische Opposition inkl. der nationalistischen Organisationen, die nicht in der Werchowna Rada vertreten sind, hat die Informationen über Änderungen an dem Beschluss als Forderung aufgefasst, Wahlen in der DVR und LVR in diesem Jahr abzuhalten und deren Ergebnisse anzuerkennen. Und all dies im Interesse eines neuen Treffens im Normandie-Format. Der Abgeordnete der letzten parlamentarischen Legislaturperiode Borislaw Berjosa schrieb in seinem Blog: „Nach Aussagen von Kosak ist die Frage nach der Durchführung eines Gipfeltreffens der Normandie-Vierergruppe in Berlin überhaupt nicht erörtert worden… Dies bedeutet, dass Jermak das Gewünschte für das Reale ausgibt und alle belügt – sowohl uns als auch seinen Chef. Wir verstehen schließlich, dass der Kreml dieses Treffen nicht braucht. Für Selenskij aber ist es nötig. Putin spielt mit Selenskij, indem er ihn mit einem neuen Normandie-Treffen lockt und das Gewünschte erhält, so wie man einen Esel in die nötige Richtung führt, indem man vor ihn eine Mohrrübe hängt“. Ukraine Experten betonen, dass selbst der Versuch der Werchowna Rada, für Wahlen in der DVR und LVR zu stimmen, was eine Legitimierung und Anerkennung der Republiken bedeuten würde, zu Massen-Protestaktion führen würde.
Der Politologe Jurij Romanenko schrieb in seinem Blog: „Der Schlüsselmoment, von dem aus Kiew zu tanzen hat, ist: werden die russischen Truppen das ukrainische Territorium verlassen, wird der Ukraine die Kontrolle über die Grenze mit der Russischen Föderation übergeben. Wenn Russland auf die Abhaltung von Wahlen ohne eine Übergabe der Kontrolle über die Grenze besteht, braucht man sich gar nicht den Kopf zu zerbrechen und nicht an irgendwelchen Verhandlungen zu beteiligen, da dies zu einer gewöhnlichen Falle für die Ukraine wird. Im Ergebnis dessen wird Russland die Kontrolle sowohl über den Prozess der Konfliktregelung als auch über einzelne Regionen des Donezker und des Lugansker Gebietes bewahren. Und diese Region wird sich zu einem „Trojanischen Pferd“ verwandeln, das für die Ukraine gefährlich ist“.
Der Fraktionschef der regierenden Partei „Diener des Volkes“, David Arachamia, sagte bei einer Talkshow auf dem TV-Kanal ICTV, dass die Frage nach den Änderungen am Gesetz über die Kommunalwahlen vorläufig zur Behandlung am Freitag, dem 18. September geplant sei. Er, aber auch Vizepremier Alexej Resnikow (er hatte auch an dieser Sendung teilgenommen und ist Stellvertreter des Leiters der ukrainischen Delegation bei den Minsker Verhandlungen) versicherten, dass in der Ukraine alle das Wesen der Änderungen nicht richtig verstanden hätten. Es gehe nicht darum, dass Kiew bereit sei, in diesem Jahr Wahlen in der DVR du LVR abzuhalten und deren Ergebnisse anzuerkennen. Solche Wahlen könnten nur unter der Bedingung einer Wiederherstellung der Jurisdiktion der Ukraine über die Territorien, die sie für „okkupierte“ hält, stattfinden, erklärten die Beamten.
Das Wesen der Änderungen, die am Freitag behandelt werden können, bestehe aber nach Aussagen von Resnikow in etwas ganz Anderem. Es gehe um eine Änderung der Formulierungen im Punkt 4 des am 15. Juli verabschiedeten Beschlusses. Die ukrainischen Parlamentarier hatten dafür gestimmt, dass die Wahlen auf den nicht von Kiew kontrollierten Territorien gemäß gesonderten Gesetzen und bei Erfüllung einer Reihe von Bedingungen stattfinden. „Die Beendigung der zeitweiligen Okkupation und bewaffneten Aggression durch die Russische Föderation gegen die Ukraine, und zwar der Abzug aller ungesetzlichen bewaffneten Formationen, die durch die Russische Föderation gelenkt, kontrolliert und finanziert werden; der russischen Okkupationstruppen und deren Militärtechnik vom Territorium der Ukraine; Wiederherstellung der vollen Kontrolle der Staatsgrenze durch die Ukraine; Entwaffnung aller ungesetzlichen Formationen und Söldner; Wiederherstellung der Verfassungsordnung und Rechtsordnung auf den gegenwärtig zeitweilig okkupierten Territorien der Ukraine“. Am Ende des Wortlauts ist ausgewiesen worden, dass die Wahlen im Donbass „nach einem vollwertigen Abschluss der Prozeduren zur Entwaffnung, Demilitarisierung und Reintegration gemäß den Standards der UNO und OSZE auf den entsprechenden Territorien“ stattfinden könnten.
Gegen den ersten Teil der Formulierungen legt die russische Delegation Einspruch ein. Ukrainische Beamte betonen, dass gleich nach Beginn des Geltens des Regimes der Stille (seit dem 27. Juli) im Parlament ein Entwurf von Änderungen am verabschiedeten Gesetz registriert worden sei. Als Autor trat Alexander Katschura, Abgeordneter von „Diener des Volkes“, auf. Er schlägt vor, dass ausgewiesen wird, dass die Wahlen auf den Territorien, die die Ukraine heute für „zeitweilig okkupierte“ ansieht, „gemäß den durch die Gesetze bestimmten Modalitäten und Termine unter der Bedingung einer vollwertigen Beendigung der Prozeduren zur Entwaffnung, Demilitarisierung und Reintegration gemäß den Standards der UNO und OSZE auf den entsprechenden Territorien“ anberaumt werden.
Selbst diese Formulierung könne im ukrainischen Parlament keine Unterstützung finden, gestehen Abgeordnete ein. Aber eine Beibehaltung des Beschlusses in der einstigen Form könne ihrer Meinung nach zu einem Scheitern des Waffenstillstands und einer Eskalation des Konfliktes führen. In solch einem Fall verliert die Vorbereitung zu einem Gipfeltreffen der Normandie-Vierergruppe, von dem Selenskij spricht, jeglichen Sinn. Maria Solkina, Analytikerin der I.-Kutscheriv-Stiftung „Demokratische Initiativen“, hatte bereits im August erklärt, dass Russland an den Verhandlungen zu einer Konfliktregelung so lange teilnehmen werde, so lange es hoffe, die erklärten politischen Ziele in Form einer Legitimierung der DVR und LVR sowie der Gewährung eines Sonderstatus für sie zu erreichen. Wenn es von Seiten Kiews keine solche Zugeständnisse geben wird, „wird natürlich auch keinerlei Treffen der Staatschefs im Normandie-Format stattfinden. Und nicht nur im September (wie Selenskij früher gehofft hatte – Anmerkung der Redaktion), sondern überhaupt im Herbst“.
Allerdings kann vor dem Hintergrund der Belastung der Beziehungen der Russischen Föderation mit Deutschland und Frankreich das Bestehen des Normandie-Formats an sich in Frage gestellt werden.
Die Situation beobachten auch Autoren russischer gesellschaftspolitischer Telegram-Kanäle, die den Versuch unternahmen, sich in den Perspektiven für die Verhandlungen zurechtzufinden. „Die Frage nach einem Treffen der „Normandie-Vierergruppe“ hängt weiter in der Luft. Zusammen mit den Perspektiven Selenskijs und seiner politischen Stärke. Ohne Bewegungen hinsichtlich des Erreichens von Frieden können sich die Ratings des Präsidenten und der Partei 2Diener des Volkes“ am Vorabend der Kommunalwahlen einfach in einen Kürbis verwandeln“, schreibt „Temnik“ (https://t.me/polittemnik). Und der Chefredakteur des Hörfunksenders „Echo Moskaus“, Alexej Wenediktow, lenkt auf seinem Kanal (https://t.me/aavst55) die Aufmerksamkeit auf die Worte von Österreichs Kanzler Sebastian Kurz: „Wien ist bereit, anstelle von Minsk zu einem Standort für die Donbass-Verhandlungen zu werden“.