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COVID-19 lässt den von Robert Koch nachgewiesenen Erreger verdrängen


Der Kampf gegen die Coronavirus-Pandemie hat die Aufmerksamkeit für andere Infektionskrankheiten verdrängt. Und die haben sofort die Situation ausgenutzt. Dies gilt unter anderem auch für solch eine Infektionskrankheit wie Tuberkulose. Vor dem Hintergrund der COVID-19-Pandemie nimmt die Gefahr ihrer Ausbreitung zu.

Laut Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist innerhalb von drei Monaten Quarantäne die Tuberkulose-Erkennung um 50 Prozent zurückgegangen. Und die Zahl der Todesfälle durch sie wird bis zum Jahresende weltweit um 1,85 Millionen ansteigen (eine Zunahme um 26 Prozent im Vergleich zu den Werten für 2018) und zum Stand von 2012 zurückkehren. 

Russland ist Rekordhalter hinsichtlich der Anzahl von Tuberkulose-Kranken mit einer ausgeprägten Medikamentenresistenz. Während laut WHO-Angaben unter den weltweit erstmals ermittelten Kranken (das heißt mit einer frischen Tuberkulose) eine mehrfache Medikamentenresistenz bei 3,4 Prozent diagnostiziert wird, so wird sie in Russland bei jedem dritten festgestellt. Und unter allen sich in Behandlung befindlichen Patienten sind über 50 Prozent mit medikamentenresistenten Tuberkulose-Mykobakterien.    

Man kann sagen, dass sich Russland hinsichtlich der Tuberkulose weltweit in der bedrohlichsten Situation befindet. Die Personen mit einer Lungentuberkulose befinden sich bei der Erkrankung an COVID-19 in einer besonderen Risikogruppe. Sie haben großen Chancen auf einen schweren Krankheitsverlauf, die Entwicklung einer Lungeninsuffizienz und eines schnellen letalen Ausgangs. 

In der Nachrichtenagentur TASS fand die Online-Pressekonferenz „Die Lehren aus der COVID-19-Pandemie: Wie kann man in Russland eine Tuberkulose-Epidemie verhindern“ statt. In deren Verlauf wurde betont, dass in der letzten Zeit im Land ein erheblicher Fortschritt bei der Tuberkulose-Bekämpfung erzielt worden sei. Die Erkrankungshäufigkeit sei innerhalb von sechs Jahren um 35 Prozent zurückgegangen. Die Sterberate – um 53 Prozent. Außerdem seien bis zur COVID-19-Pandemie bis zu 99 Prozent der Erkrankungsfälle von der geschätzten Zahl der Kranken diagnostiziert worden, während dieser Wert in der Welt bei rund 69 Prozent liegt. 

„Leider hat die COVID-19-Pandemie die Parameter für die Arbeit zur Bekämpfung der Tuberkulose wesentlich beeinflusst. So können wir beispielsweise erwarten, dass sich aufgrund des Fehlens eines vollwertigen Zugangs zu einer Heilbehandlung wegen der Quarantäne-Maßnahmen bei einer Reihe von Patienten eine Medikamentenresistenz entwickeln wird. Und sie werden aufhören, auf eine Heilbehandlung zu reagieren. Außerdem hat sich aufgrund der Unterbrechung der Screening-Maßnahmen im Land die Erkennung von Tuberkulose in den verschiedenen Altersgruppen signifikant verringert. Dies birgt die Gefahr in sich, dass wir die aktiven Bakterienträger aus den Augen verlieren können, was ebenfalls einen Anstieg der Erkrankungsrate begünstigen wird“, erklärte Prof. Irina Wassiljewa, Direktorin des Nationalen medizinischen Forschungszentrums für Phthisiopulmonologie und Infektionskrankheiten sowie Präsidentin der Russischen Gesellschaft der Lungenfachärzte.

Vor dem Hintergrund der Coronavirus-Pandemie sind die Screening-Maßnahmen bei Kindern und Jugendlichen, bei denen sich die Tuberkulose ohne Symptome entwickelt, eingestellt worden. Die Anzahl der Untersuchungen mit Hilfe von Verfahren der Immundiagnostik ist bis auf 35-40 Prozent zurückgegangen, während vor der Pandemie über 90 Prozent aller Kinder und Jugendlichen erfasst wurden. Dies kann gleichfalls eine Zunahme der Erkrankungshäufigkeit und eine Verringerung der Kontrolle der Erkrankungen fördern. Eine bei Kindern und Jugendlichen rechtzeitig erkannte Tuberkulose erlaubt, bei ihnen eine prophylaktische Behandlung zu beginnen und eine Ausbreitung der Krankheit zu stoppen. 

Prof. Valentina Alexejewa, Leiterin der Abteilung für Kinder- und Jugend-Tuberkulose des Nationalen medizinischen Forschungszentrums für Phthisiopulmonologie und Infektionskrankheiten, betonte: „Mit Besorgnis beobachten wir, wie bei den Kindern und Jugendlichen die Immundiagnostik ausgesetzt wurde. Heute aber sind alle Einschränkungen bereits aufgehoben worden. Und wir rufen alle Einrichtungen für Kinder und Jugendliche sowie die Eltern auf, die diagnostischen Maßnahmen wiederaufzunehmen. Bei denen, die das Coronavirus überstanden haben, ist der Test entsprechend der ELISpot-Methode der aufschlussreichste. Seine Anwendung ist in allen Altersgruppen möglich“.  

Tuberkulose ist unter den Infektionskrankheiten weltweit der Killer Nummer 1, erinnerte Dr. Tereza Kasaeva, Direktorin des WHO-Departments für Tuberkulose-Bekämpfung. Dies ist eine reale Bedrohung, die ihre Offensive fortsetzt. In diesem Jahr sagt die WHO eine Zunahme der Sterblichkeit von bis zu 1,9 Millionen Menschen voraus. Sie hängt unter anderem damit zusammen, dass in vielen Ländern aufgrund der COVID-19-Pandemie die Diagnostik und die Gewährung medizinischer Hilfe für Tuberkulose-Kranke unterbrochen wurden. Die Verringerung der Ermittlung der Infektion variiert in den verschiedenen Ländern im Bereich von 25 bis 90 Prozent. In Russland werden eine Reduzierung der Zahl prophylaktischer Untersuchungen und eine Verringerung des Umfangs der Hilfe unter stationären Bedingungen bei einem unzureichenden Umfang der Gewährung einer ambulanten kontrollierbaren Hilfe beobachtet. 

Man muss eine staatliche Strategie zur Tuberkulose-Bekämpfung unter Berücksichtigung der neuen Realitäten und Gefahren bestätigen und deren Finanzierung gewährleisten. Die Investitionen in die Tuberkulose-Bekämpfung sind Investitionen, die sich schnell rentieren. Jeder dafür eingesetzte Dollar bringt 43 Dollar in den Landeshaushalt zurück. Es ist wichtig, sich dessen zu erinnern, dass Tuberkulose vor allem Menschen im arbeitsfähigen Alter befällt.

Unter den Bedingungen der COVID-19-Pandemie sind die wichtigsten Aufgaben des russischen Dienstes zur Tuberkulose-Bekämpfung eine Prophylaxe der Erkrankung, die Vakzinierung und Chemoprophylaxe in den Risikogruppen, eine Früherkennung der Krankheit und die Durchführung von Screening-Untersuchungen bei Kindern und Jugendlichen, eine frühe Diagnostik mit einer mehrfachen Medikamentenresistenz und Tests mit molekular-genetischen Expressverfahren sowie die Gewährleistung einer effektiven Tuberkulose-Behandlung unter Einsatz moderner Präparate. Denn eine neue Tuberkulose-Epidemie darf nicht zugelassen werden.

Derweil wurde in Russland am Dienstag ein neuer Antirekord in Bezug auf COVID-19 erreicht. Laut offiziellen Angaben wurden erstmals seit dem 11. Mai über 11.000 neue Erkrankungsfälle (11.615) registriert. Vor diesem Hintergrund überrascht noch eine andere Zahl. Im Rahmen einer gesamtrussischen Online-Befragung der Kreml-Partei „Einiges Russland“ stellte sich heraus, dass nach wie vor mehr als 70 Prozent der Russen nicht bereit seien, sich gegen das Coronavirus impfen zu lassen. Dabei ist die absolute Mehrheit der Befragten (93 Prozent) der Auffassung, dass man eine Vakzinierung auf freiwilliger Grundlage durchführen müsse. Sieben Prozent sind sich dessen sicher, dass man diese Impfungen zu obligatorischen machen müsse. Freilich steht für viele die Frage – mit welchem Präparat wird geimpft werden. Trotz massiver Berichterstattung der staatlichen Medien über die registrierten russischen Impfstoffe sind nur 24 Prozent der Befragten bereit, sich mit diesen impfen zu lassen. 13 Prozent würden ausländische Vakzine bevorzugen, während 63 Prozent betonten, dass es für sie unwichtig sei, aus welchem Land der Impfstoff sei. Die Hauptsache sei, dass er effektiv ist.