Ankara beginnt, eine bedeutsamere Rolle bei der Beilegung des Konfliktes in Bergkarabach zu spielen. Aserbaidschans Staatsoberhaupt Ilham Alijew begann, von der Möglichkeit der Aufnahme eines Friedensdialogs zu sprechen, wobei er faktisch die Worte von Recep Tayyip Erdoğan wiederholte, wonach „die Türkei am weiteren Friedensprozess unbedingt teilnehmen muss“. Die aserbaidschanische Führung fordert, die Türkei zu einem der Co-Vorsitzenden der Minsker OSZE-Gruppe zu machen, um die neuen Forderungen hinsichtlich der Beilegung des Konflikts um Bergkarabach deutlich zu machen. „Bloß eine Wiederherstellung des Regimes der Feuereinstellung kann kein Thema der Verhandlungen sein. Wir haben Forderungen. Uns müssen sehr ernste Garantien gewährt werden. Und die internationalen Vermittler müssen sie bestätigen“, erklärte Alijew.
Das Thema des Abzugs der armenischen Truppen aus Bergkarabach als Bedingung für den Beginn eines Friedensprozesses in der Region ist bereits in der internationalen Staatengemeinschaft erörtert worden. Im März des Jahres 2008 verabschiedete die UNO-Vollversammlung eine Resolution mit der Forderung nach „einem unverzüglichen, vollständigen und bedingungslosen Abzug aller armenischen Kräfte von allen okkupierten Territorien der Aserbaidschanischen Republik“ bei 39 Ja- und sieben Nein-Stimmen sowie 100 Enthaltungen. Die den Co-Vorsitz wahrnehmenden Länder der Minsker OSZE-Gruppe (USA, Russland, Frankreich) hatten sich gegen die Annahme dieser Resolution ausgesprochen, da sie ihrer Meinung einen einseitigen Charakter getragen hatte. Die Türkei hatte damals diese These unterstützt. Und jetzt wird diese Frage unter Kriegsdonner erneut zur Diskussion gebracht.
Ob die den Co-Vorsitz wahrnehmenden Länder der Minsker Gruppe den Vorschlag von Baku und Ankara über einen Abzug der armenischen Truppen aus Bergkarabach unterstützen werden, ist unbekannt. Es gibt aber Gründe zur Annahme, dass für die armenische Seite diese Entscheidung eine inakzeptable ist. Am Dienstag erklärte der Vorsitzende der Nationalversammlung von Bergkarabach, Artur Towmasian, dass Karabach nicht beabsichtige, um einen Waffenstillstand zu bitten, und fordere, die Republik in den Verhandlungsprozess als dritte Seite einzubeziehen. Dies bedeutet aber, dass das Blutvergießen in Bergkarabach wahrscheinlich weitergehen wird. Den Kampfhandlungen nach zu urteilen, ist das Militärpotenzial Aserbaidschans bei einer offenkundigen Unterstützung der Türkei erheblich größer als das von Armenien. Die schrittweise, den Gegner zermürbende Offensive der aserbaidschanischen Kräfte in Bergkarabach wird ihnen Erfolg bescheren, wenn der Krieg nicht gestoppt wird. Das Eintreffen von zehntausenden Flüchtlingen aus Bergkarabach kann für den Verbündeten Russlands zu einer humanitären Katastrophe werden.
„Aus geopolitischer Sicht ist solch eine Situation für die Russische Föderation unvorteilhaft. Selbst wenn Jerewan einem Einmarsch russischer Blauhelmsoldaten in die Konfliktzone zustimmt, wird Baku, indem es Ankara unterstützt, eine Präsenz auch von türkischen Blauhelmsoldaten dort vorschlagen“, mit der Militärexperte und Oberst der Reserve Schamil Garejew.
Der Analytiker Andrej Medwedjew ist gleichfalls der Auffassung, dass Ankara im künftigen Friedensprozess um den Bergkarabach-Konflikt eine zunehmende Rolle spielen könne. „Frankreich und die USA haben erklärt, dass sie beabsichtigen würden, auch weiterhin Vermittler im Friedensprozess zu sein. Und die Seiten müssten bedingungslos das Feuer einstellen. Dies ist wohl das Wichtigste. Diese Erklärung ist jedoch nicht nur und nicht ganz eine über den Bergkarabach. Sie ist eine über das Neue Osmanische Reich. Dass die Errichtung solches eines in der einen oder anderen Form ein Plan der Türkei ist, ist für jeden klar. Und wenn Ankara zu einem Vermittler bei den Verhandlungen von Jerewan und Baku wird, so wird dies zu noch einem Stein für das Fundament des Osmanischen Reichs 2.0“. Solch einem Bestreben der Türkei wird, meint der Experte, nicht nur die Russische Föderation entgegenwirken, sondern auch die anderen vermittelnden Länder zur Beilegung des Konflikts in Bergkarabach. Medwedjew lenkt das Augenmerk darauf, dass „die Anwesenheit Russlands in der Region für den Westen auch kein Geschenk ist. Und das ideale Schema ist, die Russen herausdrängen, die Türken nicht reinlassen und alles selbst sich greifen. Oder als ein Minimum dieses Mal – die imperialen Ambitionen Erdogans durchkreuzen. Ist es vergebens, dass Washington soviel in Armenien gesteckt hat? Damit die Türken da alles abgreifen und hergeben? Nun, nein!“, urteilt Medwedjew.
Derweil verweist der Experte für Zentralasien Robert Tian darauf, dass die Idee des „Großen Turans“ durch die Türkei bereits in einigen GUS-Republiken realisiert werde. Und dies beeinflusse Russlands Positionen in der Region nicht auf beste Weise. „Das Projekt wurde in den 1990er Jahren begonnen, nach dem Zusammenbruch der UdSSR“, sagt der Experte. Eine Reihe von Medien, darunter auch russische, zitierten jüngst die Worte des türkischen Autors Kaan Sariaydin, wonach am 29. Oktober, voraussichtlich beim Gipfeltreffen des Kooperationsrates der turksprachigen Staaten, „die Bildung einer vereinigten Armee der turksprachigen Länder – einer Armee des „Großen Turans“ – bekanntgegeben wird“. Tian erinnert daran, dass darüber das angesehene türkische Medium „Uluslarasi Politika Akademisi“ geschrieben hatte. „Dies wurde mit der Perspektive der Entwicklung einer Assoziation der Rechtsschutzorgane Eurasiens mit einem militärischen Status in Verbindung gebracht, in deren Format eine Vereinigung der Rechtsschutzorgane militärischer Art aus der Türkei, aus Aserbaidschan, Kirgisien und der Mongolei vorgesehen wurde. Solch eine „Armee“ werde, wie die Zeitschrift behauptet, 2,8 Millionen Soldaten vereinen“, betonte Tian. Dabei gelte Kirgisien als ein Verbündeter Russlands. Und die Mongolei und Aserbaidschan waren und bleiben vorerst gute, zuverlässige Partner. Der Experte verweist darauf, dass die Telegram-Kanäle, die das Thema des „Großen Turans“ in Zentralasien covern, schreiben würden, dass „seit Beginn der 90er nach Asien türkische Prediger eingefallen seien und Investitionen reichlich fließen würden. Mit dem einzigen Ziel: eine „pantürkische Welt und Bruderschaft“ zu errichten“. Und die Islamisierung der einst weltlichen Region führte zu ihrer Radikalisierung.
Tian lenkt die Aufmerksamkeit darauf, dass sich die Türkei bereits mehrere Jahre in Zentralasien festsetze. Der ehemalige usbekische Staatschef Islam Karimow hatte nach der postsowjetischen Zeit der Freundschaft mit der Türkei vor zehn Jahren entschieden, den kulturellen Einfluss Ankaras einzuschränken, und untersagte sogar im Jahr 2012 türkische TV-Serien im Land. Nach seinem Ableben aber im Juli 2017 wurde unter der neuen Führung in Taschkent ein großes Paket von Abkommen über eine militärische und militär-technische Zusammenarbeit beider Länder unterzeichnet. Darunter sahen die Dokumente „eine Entsendung usbekischer Militärs zur Ausbildung in die Türkei“ vor. Und im Jahr 2019 wurden türkische Einheiten auf dem usbekischen Truppenübungsplatz Forisch gesichtet, wo gemeinsame Militärmanöver mit Pakistan stattfanden. „Wir können anderen Ländern nicht unseren Willen diktieren. Doch die Teilnahme der Türkei und Pakistans an Manövern in Usbekistan veranlasst, sich Gedanken zu machen. Wozu braucht die Türkei Usbekistan, die sich tausende Kilometer von diesem Land entfernt befindet?“, fragt sich der Experte.
Obgleich als Hauptlobbyisten der Interessen eines „Großen Turans“ Ankara, nach Meinung Tians, nicht so sehr Usbekistan als vielmehr Kirgisien ansehe. Robert Tian sagt, dass protürkische Kräfte etwas mit den Unruhen in Bischkek zu tun hätten. „Im Verlauf dieser Ereignisse ist der Führer der Oppositionsgruppierungen, Kirgisiens Ex-Staatsoberhaupt Almasbek Atambajew befreit worden, der als Premier das Landes seine Freundschaft mit Ankara verstärkt hatte. Damals war zwischen beiden Ländern eine Vereinbarung über die Übergabe von einer Million Dollar als finanzielle Hilfe für die Streitkräfte Kirgisiens erzielt worden. Die türkische Seite hatte die Gelder für die Errichtung eines neuen Stützpunktes in der Stadt Osch für das Militärinstitut der Streitkräfte Kirgisiens bereitgestellt. Laut meinen Angaben hat die Türkei allein offiziell Kirgisien militär-technische Hilfe über eine Summe von mehr als 20 Millionen Dollar gewährt. Wieviel von dieser Summe dem Atambajew-Clan zugefallen ist, ist bisher unbekannt. Aber danach wurden die Gespräche über die Einrichtung noch eines russischen Militärstützpunktes in Osch eingestellt“, merkte der Experte an.