Der russische Senator und das Mitglied der Beobachter-Mission der Interparlamentarischen Vollversammlung der GUS-Mitgliedsstaaten, Anatolij Schewtschenko, bezeichnete die Proteste in Kirgisien nach den Parlamentswahlen als „inakzeptable“, und erklärte, dass bei der Abstimmung „allen Parteien gleiche Bedingungen gewährt wurden“. Farit Muchametschin, ein anderer Senator – auch ein Beobachter -, sagte am Montag, dass die Wahlen „auf einem guten Konkurrenzniveau“ stattgefunden hätten. Derweil ist es in Kirgisien faktisch zu einem Machtwechsel gekommen. Und die Ergebnisse der „transparenten und wettbewerbsgerechten Abstimmung“ sind für ungültig erklärt worden.
Dies ist bereits der dritte Umsturz in der Republik innerhalb der letzten 15 Jahre. Sie alle waren durch innere – unlösbare – politische Konflikte, Konflikte zwischen den Eliten und gesellschaftliche Konflikte verursacht worden. Nicht einer der Umstürze trug einen „antirussischen“ Charakter. Jegliche Herrschenden einigten sich ruhig mit Moskau. Daher ist auch nicht ganz verständlich, durch was — neben der grundlegenden Ablehnung jeglicher Proteste – solch eine Eile bei der Beurteilung der Wahlen und das Bestreben, sich auf die verlierende oder bereits geschlagene Seite zu stellen, bestimmt werden können.
Kirgisien ist nicht der einzige Problempunkt. In Karabach ist es zu einem faktischen Krieg gekommen. Russland hatte sich all die letzten Jahre, sogar Jahrzehnte bemüht, eine Position einzunehmen, die in gleicher Weise sowohl von Armenien als auch von Aserbaidschan entfernt war. Dies war wohl richtig. Doch von einem Land, das einen besonderen Status in der GUS beansprucht, konnte man offenkundig mehr erwarten. Beinahe 30 Jahre sind nach dem Zusammenbruch der UdSSR vergangen, aber Moskau hat in dieser Zeit keinerlei Fortschritte in der Bergkarabach-Frage erreicht sowie Jerewan und Baku nicht dazu gebracht, sich zu einigen. Den Konflikt hat man einfach durch pflichtgemäße diplomatische Beschwörungsformeln auf Eis gelegt, wobei man darauf gehofft hatte, dass die Aserbaidschaner und Armenier nicht zu schießen beginnen. Sie haben jedoch zu schießen angefangen. Und Russland kann das Blutvergießen nicht stoppen.
In Weißrussland hat sich Moskau mit dem Präsidenten solidarisiert, der das Vertrauen eines erheblichen Teils der Bürger verloren hat und sich dank dem primitivsten Instrument – dank Polizeigewalt – an der Macht hält. Es hat nicht einmal Versuche gegeben, in einen Dialog mit den Gegnern von Alexander Lukaschenko zu treten, ihn selbst zur Vernunft zu bringen sowie die Rolle eines Vermittlers, eines Friedensstifters zu spielen. Stattdessen erklangen Worte über einen heimtückischen Westen und orangene Revolutionen. Russland setzte auf eine Bewahrung des labilen geopolitischen Gleichgewichts in der Gegenwart, riskiert aber, Weißrussland der Zukunft zu verlieren.
Die Loyalität des russischen Elektorats gegenüber der herrschenden Elite basierte viele Jahre nicht nur auf der Verteilung der Einnahmen aus den Rohstoffen, sondern auch auf dem postsowjetischen Trauma und einer Reproduktion des postimperialen Weltbildes. In diesem war Moskau das Zentrum geblieben, zu dem es die ehemaligen Republiken der UdSSR zog, die nicht in der Lage sind, ohne Russland zu überleben. Jegliche zentrifugalen Prozesse in der Ukraine, in Georgien oder Moldawien wurden als Intrigen und Machenschaften Amerikas und Europas aufgefasst, die die jungen Staaten stören, sich in einer für sie natürlichen – einer prorussischen – Richtung zu entwickeln. Die Stärke von Russland an sich im Bereich dessen geopolitischen Einflusses wurde nicht angezweifelt.
Jetzt ist schwerlich zu verstehen, worin sich diese Stärke und dieser Einfluss offenbaren. Wenn sich die russischen Herrschenden konsequent über bzw. außerhalb dieser Auseinandersetzung halten, so sind sie nicht in der Lage, einen realen Konflikt zu stoppen. Wenn sie sich aber auf irgendeine der Seiten stellen, so stellt sich heraus, dass dies eine perspektivlose Entscheidung zugunsten einer Figur oder Elite mit einer gelinde gesagt problematischen Legitimität ist. Dem russischen Wähler hatte man über Jahre beigebracht, dass die außenpolitische Tagesordnung so wichtig sei, dass es mitunter in deren Interesse Sinn mache, die inneren Probleme zu vergessen. Doch das Terrain für mögliche Erfolge Russland verringert sich rasant.
Das Elektorat, das durch das Coronavirus beunruhigt ist und teilweise das Vertrauen in die Herrschenden aufgrund der Rentenreform verloren hat, findet jetzt auch in der Außenpolitik keine Beruhigung. Das postsowjetische Weltbild, in dem Moskau so viel bedeutete, bricht vor aller Augen zusammen. Und falsche Schritte und Hilflosigkeit in Konfliktsituationen unterstreichen dies nur.