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„Gorbatschow“: Eine Suche nach der verlorenen Zeit


Das Stück „Gorbatschow“ mit Beteiligung des Star-Duetts Jewgenij Mironow in der Gestalt von Michail Gorbatschow und Tschulpan Chamatowa in der Rolle seiner Gattin Raissa Maximowna wurde zu einer der spektakulärsten Premieren der begonnenen Theatersaison in Moskau. Wider den Vermutungen, die beim Anschauen des Spielplans aufkommen, ist das Werk des lettischen Regisseurs Alvis Hermanis bei weitem kein schmerzliches Meditieren über die Schicksale unserer Heimat und das endlose Abwägen der Pro und Kontras bei der Beurteilung der politischen Tätigkeit des Titelhelden. Dies ist die Geschichte einer Liebe – einer amüsanten und zugleich tragischen.

Man kann die erstaunliche fotografische Ähnlichkeit mit den Prototypen loben, die Mironow und Chamatowa erzielten. Der wichtigste Wesenszug von „Gorbatschow“ besteht jedoch in etwas anderem: Den beiden Schauspielern gelingt es, das Stück mit einer unwahrscheinlich komplizierten und mehrschichtigen inneren Organisation zu spielen und psychologisch glaubwürdige Porträts der handelnden Personen zu gestalten. 

Die Szenografie ist minimalistisch. Alle Gegenstände sind streng funktional. Vor uns ist eine richtige Garderobe, in der sich die Akteure umkleiden und zum Auftritt vorbereiten werden – Spiegel mit einer Beleuchtung, Ablagen für Perücken und andere Kleinigkeiten, ein Kleiderständer für die Kostüme, zwei Hocker… An einer Wand sind Fotos des Gorbatschow-Ehepaars angeklebt. Die Schauspieler erzählen mit dem Szenarium in den Händen und festen Sprecherstimmen über die letzten Monate der an Leukämie sterbenden Raissa Maximowna. Als Ausgangspunkt für die Entwicklung des Sujets dient der finale Satz, wonach in der Nacht vor ihrem Ableben die Eheleute einander ihr Leben wiedererzählt haben. Die Schauspieler begeben sich zu den kleinen Garderoben-Tischchen, schminken sich, „lernen“ die Rollen, wobei sie parallel kommentieren, wie man am besten den einen oder anderen Charakterzug wiedergeben könnte… Mironow und Chamatowa spielen sich selbst, denn die Garderobe gehört der künstlerischen Welt des Stücks und dient nicht als ein Theaternebenraum. Dies ist auch die erste Ebene, auf der sich die Handlung entwickelt.

Die Schauspieler tauchen allmählich in die Figuren ein. Aber hier ist auch ein Haken versteckt. Was für ein Alter haben der Mann und die Frau? Auf der Bühne erscheinen für einen kurzen Moment Studenten der Moskauer staatlichen Universität – Mischa in einem übermäßig großen abgetragenen Anzug und die dünne Raja in einem blauen Kleidchen. Aber reden tun sie mit den Stimmen alter Leute. Mironow kopiert glänzend den Akzent des Politikers (allein nur die Bemerkung bezüglich des romantischen Rendez-vous spricht für sich: „Dies war ein Abend, der für uns alles und für immer bedeutete“!). Und Chamatowa imitiert meisterhaft die leicht erstaunte Lehrer-Intonation der First Lady. Der Kontrast zwischen dem Äußeren und der Stimme eröffnet zwei neue Dimensionen. Erstens unterhalten sich doch betagte Eheleute im Krankenhaus. Und das Stück ist ihr langer Dialog. Zweitens wird die Geschichte in der Vorstellung der Erzähler dargestellt: Das Paar erinnert sich an die Jugendzeit in der Universität, später an die Arbeit in Stawropol, den Machtantritt… Als Grenze zwischen den Welten der „Schauspieler“ und der Haupthelden agiert die blinkende Warnlampe „Ruhe bitte! Es ist Aufführung“. Sie leuchtet auf, sobald sich die Handlung der Garderobe in die Vergangenheit der Gorbatschows verlagert. 

Aufgrund der Vielschichtigkeit des Erzählens ist es mitunter schwierig zu erfassen, von wem die Emotionen sind. Wenn über Tschulpans Wangen Tränen fließen, weint da die junge Raissa, die sich aufgrund Mischas Misserfolge Sorgen macht? Und ist dies möglicherweise die First Lady, die sich da an jenen Moment erinnert, oder die Schauspielerin, die der Heldin mitfühlt? Wahrscheinlich alles zusammen. Mironow und Chamatowa haben sehr genau das Wesen der Personen erfasst. Besonders ausdrucksstark sind zwei Gesten, die die Hände von Michail und seiner Frau harmonisch verbinden. Die Eheleute haben die Angewohnheit, den Zeigefinger zu heben, wobei sie die Bedeutsamkeit des Gesagten unterstreichen: Bei dem Politiker ist er nach oben gerichtet, und bei der First Lady – etwas nach rechts. 

Im Verlauf der Aufführung erklingt die Arie von Lenski „Wohin, wohin seid ihr entschwunden, o Jugendzeit, o Liebesglück?“ (aus der Tschaikowskij-Oper „Eugen Onegin“ – Anmerkung der Redaktion), die von Sergej Lemeschew (russischer Tenor, der von 1902 bis 1977 lebte und bis 1965 im Bolschoi-Theater wirkte – Anmerkung der Redaktion) gesungen wird. Sie widerspiegelt die Trauer der sich im Krankenhaus unterhaltenden Eheleute, ihre Sehnsucht nach der Jugendzeit. Wie auch ein romantischer Poet kommt Michail zu einem Duell, aber nur nicht mit einer konkreten Person, sondern mit der Geschichte des Landes. Das Abschlusskapitel ist eines der stärksten im gesamten Werk. Auf der Bühne befindet sich schon nicht mehr der Präsident der UdSSR, sondern ein zutiefst einsamer betagter Mann. Ihm erscheint der Geist einer kleinen Studentin, seiner Braut. Einem Engel gleich läuft sie in einem Hochzeitskleid barfuß kaum hörbar durch das Zimmer. Da auf einmal legt sie ihm die Hand auf die Schulter. Michail spürt die Berührung und erhebt seine zur Antwort. Raissa aber zieht unversehens die Hand zurück und tritt zur Seite, um weiße Pumps zu suchen. Vor dem Tod hatte sie sich zu erinnern versucht, ob sie diese Pumps der Nachbarin aus dem Studentenwohnheim zurückgegeben hatte, bei der sie die vor der Hochzeit ausgeliehen hatte…