Die übermäßige Sterblichkeit vor dem Hintergrund der Coronavirus-Pandemie in Russland liegt im Durchschnitt bei über 16.000 Menschen im Monat. Diese Angaben berücksichtigen aber bisher nicht den begonnenen drastischen Anstieg der Erkrankungsrate dieses Herbstes. Daher ist es recht wahrscheinlich, dass das Land über 200.000 Menschen bis zum kommenden Mai aufgrund der sehr hohen Sterberate unter der Bevölkerung verlieren wird. Diese Zahl entspricht den Verluste Japans bei den Atombombenabwürfen vom August 1945.
Das in Russland geschaffene System zur Bekämpfung des Coronavirus erlaube bei der gegenwärtigen Zunahme der Erkrankungsfälle, zu keinem kompletten Lockdown überzugehen, erklärte am vergangenen Montag der Pressesekretär des russischen Präsidenten Dmitrij Peskow. Dabei versicherte, dass für die Regierenden der Russischen Föderation „das Leben und die Gesundheit der Menschen eine absolute Priorität sind. Und alles Übrige folgt weiter“. Gleichzeitig sei seinen Worten zufolge gegenwärtig eine „größere Stabilitätsreserve“ im Vergleich zum Zeitraum der ersten Epidemie-Welle geschaffen worden. Der Vertreter des Kremls erläuterte, dass „heute weitaus progressivere Behandlungsprotokolle ausgearbeitet worden sind, die erlauben, eine geringere Sterberate zu sichern“.
Die Daten zur Sterberate während der Pandemie sind oft widersprüchlich. Es ist nicht einfach, sich in ihnen zurechtzufinden. Und sicherlich kann man ihnen geeignete Zahlen über eine „geringere Sterblichkeit“ finden, von der Peskow sprach. Tatsächlich aber fixiert selbst die offizielle Statistik eine mehrfache Zunahme der Anzahl der am Coronavirus Sterbenden im Vergleich zu den Sommermonaten. Laut den offiziellen Zahlen des Portals Stopcoronavirus.rf sind in den letzten 24 Stunden 185 Menschen am Coronavirus gestorben (Stand von 10.30 Uhr des 18. Oktober). Darunter in Moskau – 52 Menschen. Diese Werte sind um ein Mehrfaches höher als die, die wir im August beobachteten.
Derweil halten Experten die operativen Daten des föderalen oder Moskauer Stabes nicht für allzu anschauliche. Ein umfassenderes Bild über die gesamten Verluste der Bevölkerung vermittelt ein Vergleich der Monatsstatistiken hinsichtlich der Verstorbenen mit den Durchschnittswerten des vergangenen Jahres oder der letzten fünf Jahre.
„Gegenwärtig gibt es drei Hauptquellen für die Bewertungen der COVID-Sterblichkeit. Die erste Quelle sind die Daten des Operativen Stabs zur Bekämpfung der Coronavirus-Infektion von Roszdravnadzor (russische Aufsichtsbehörde im Bereich des Gesundheitswesens – Anmerkung der Redaktion). Die zweite Quelle sind die Angaben von Rosstat hinsichtlich der Todesursachen im Zusammenhang mit COVID. Die dritte Quelle ist die Bewertung der übermäßigen Sterblichkeit im Jahr 2020 im Vergleich mit der durchschnittlichen Jahressterblichkeit in den vorangegangenen fünf Jahren (2015-2019), die anhand der Daten von Rosstat berechnet wurde. Entsprechend dieser Daten machte im Zeitraum Mai-August des Jahres 2020 die übermäßige Sterblichkeit in Russland 65.260 Menschen aus“, betonte der ehemalige Präsidentenberater Andrej Illarionow.
Somit hat die durchschnittliche übermäßige Sterblichkeit in Russland in den relativ ruhigen Sommermonaten vor dem Hintergrund der Pandemie 16.300 Menschen im Monat überstiegen. Die explosionsartige Zunahme der Ansteckungen im September und Oktober wird wohl kaum zu einer Verringerung der Zahl der Sterbenden führen. Aber selbst wenn man diese Durchschnittswerte der ruhigsten Monate nimmt, kann man leicht berechnen, dass die übermäßige Sterblichkeit bis zum Mai kommenden Jahres rund 200.000 Menschen ausmachen kann. 200.000 Menschen – das ist die Bevölkerung einer großen russischen Stadt, solch einer wie beispielsweise Pskow, Jushno-Sachalinsk oder Armavir. Ein anderer Vergleich: 200.000 Menschen – das sind mehr, als während der zwei Atombombenabwürfe über Japan ums Leben gekommen sind.
Auch in der Regierung verfolgt man mit Besorgnis diese Entwicklung. Laut einer neuen Schätzung werde vor dem Hintergrund der Pandemie die Bevölkerungszahl Russlands in diesem Jahr gar um mehr als 352.000 zurückgehen. Dies sind 10mal mehr als im vergangenen Jahr. Verursacht wird solch eine Entwicklung nicht nur durch die Sterberate, sondern auch die Ausbremsung der Migranten-Ströme, so dass in fünf Jahren die Einwohnerzahl des Landes um 1,2 Millionen zurückgehen kann.
Freilich ist klar, dass nicht nur diejenigen in der übermäßigen Sterblichkeit erfasst werden, bei denen offiziell COVID diagnostiziert wurde. Erfasst werden auch diejenigen, die ohne eine klare Diagnose gestorben sind oder aufgrund der Überlastung des Systems des Gesundheitswesens nicht gerettet werden konnten.
Die offiziellen Daten über die mit oder aufgrund von COVID Verstorbenen liegen in der Tat spürbar unterhalb der generellen übermäßig hohen Sterblichkeit. Laut Angaben des operativen Stabs beim Gesundheitsministerium sind seit März und bis einschließlich 18. Oktober dieses Jahres 24.187 Menschen gestorben. Dies ist etwa nur ein Drittel der offiziell registrierten übermäßig hohen Sterblichkeit. Und viele Experten orientieren sich gerade an diesen verkürzten Daten.
„Zum gegenwärtigen Zeitpunkt sieht die Sterberate auf einem Stand von 200.000 Menschen stark überzogen aus, und dies unter der Bedingung, dass sie zum jetzigen Zeitpunkt 22.722 Menschen ausmacht. Wahrscheinlich wird die Sterberate von 200.000 Menschen aufgrund des Coronavirus in Russland nicht sehr bald erreicht und zeitlich in die Länge gezogen werden. Zumal man bereits begonnen hat, einen Coronavirus-Impfstoff einzusetzen“, meint Iwan Kapustjanskij, führender Analytiker der Firma Forex Optimum. Die wirtschaftlichen Folgen des Verlusts von hunderttausenden Menschen zu berechnen, ist recht schwierig. Den Zustand der Wirtschaft werden diese Verluste über eine Verringerung des Konsums und einen Rückgang des BIP beeinflussen. Im vergangenen Jahr wäre der einmalige Verlust von 200.000 Menschen nicht stark zu spüren gewesen, da der Rückgang des BIP weniger als ein Prozent des BIP ausgemacht hätte, betonte der Experte. Und den Haushalt des Rentenfonds würden die Verluste hunderttausender Betagter eher positiv beeinflussen, indem sie eine Einsparung an Mitteln von rund 0,5 Prozent der laufenden Ausgaben gewährleisten würden.
Die Hoffnungen hinsichtlich einer Vakzinierung sind wirklich große. Und es besteht die Chance, dass die neuen Vakzine die generelle übermäßig hohe Sterblichkeit verringern werden. Den bereits zweiten russischen Impfstoff aus dem Nowosibirsker Zentrum „Vektor“ testen die Leiterin der russischen Verbraucherschutzbehörde Rospotrebnadzor Anna Popowa und Vizeregierungschefin Tatjana Golikowa an sich. Sie haben keinerlei Komplikationen verspürt.
Freilich, diejenigen, die an der Realität des Verlusts hunderttausender Menschen zweifeln, kann man daran erinnern, dass die Zahl der COVID-Toten in den USA heute bereits die Zahl von 219.000 Menschen überschritten hat. „Die übermäßige Sterblichkeit wird signifikante Folgen in jenen Ländern haben, in denen die arbeitsfähige Bevölkerung in größerem Maße betroffen wurde. Die Coronavirus-Pandemie muss die Wirtschaft zur Entwicklung der einheimischen Produktion und das System des Gesundheitswesens stimulieren“, meint Jelena Jegorowa, Leiterin des wissenschaftlichen Labors „Quantitative Methoden zur Untersuchung der regionalen Entwicklung“ der Russischen G.-V.-Plechanow-Wirtschaftsuniversität.
„Die übermäßige Sterblichkeit aufgrund von COVID-19 tangiert in größerem Maße die Menschen höheren Alters. Im Zusammenhang damit hat sich in den entwickelten Ländern der Generationswechsel beschleunigt. Als Folge werden jene Trends in der Wirtschaft und Politik, die mit dem Kommen junger neuer Führungskräfte der Generationen Y und Z entstehen, zu noch spürbareren. Sie stimulieren Reformen auf dem Gebiet des Gesundheitswesens und der Ökologie“, prognostiziert Alexej Tschekhranow, Gründer der Holding „Smart SREDA“.