EXKLUSIV IN DER „NG“
Der sich im Prozess der Bildung befindlichen Administration von Joseph Biden hat man vorgeschlagen, das gegen Russland gerichtete Sanktionsinstrumentarium zu erweitern, indem man die restriktiven Maßnahmen auf den Banken- und Finanzsektor ausweitet. Entsprechende Initiativen sind in dem Report des in Washington ansässigen analytischen Zentrums „Atlantic Council“ enthalten. Sein Autor – der einflussreiche Diplomat und ehemalige Koordinator für die Sanktionspolitik im US-Außenministerium Daniel Fried – erzählte der „NG“, ob Biden nach der Europäischen Union Druck auf den Kreml im Zusammenhang mit der Vergiftung von Alexej Nawalny initiieren könne, und nannte Bedingungen, unter denen russische Banken und Finanzinstitute wirklich riskieren, von Sanktionen betroffen zu werden.
Der Report des „Atlantic Councils” wägt den gegenwärtigen Sanktionsmechanismus der USA ab und zählt „Varianten einer Eskalation“ hinsichtlich einer Reihe von Ländern auf. Das dreiseitige Kapitel, das Russland betrifft, umfasst Optionen gegen die neuen souveränen Schulden oder gegen mehrere Staatsbanken und Finanzinstitute. Die Untersuchung, wie auch viele andere Initiativen, schlägt vor, „mehr korrupte Finanzgeschäfte zu entlarven“, die angeblich mit dem russischen Präsidenten und seiner angenommenen Umgebung zusammenhängen. Fried empfiehlt gleichfalls, in dem Fall „außerordentliche Sanktionen gegen russische Objekte auszuarbeiten“, wenn Russland die Situation um „Nord Stream 2“ missbrauche, indem es die Gaslieferungen in eines der EU-Länder reduziere oder das Gasabkommen mit der Ukraine einer Revision unterziehe.
Der Autor der Untersuchung unterstreicht, dass die kommende Administration des USA-Präsidenten klare Vorgehensweisen im Rahmen ihrer „russischen“ Strategie entwickeln und „Grenzen eines inakzeptablen Verhaltens von Russland“ skizzieren müsse, die mit den Verbündeten abgestimmt werden müssten. Den Sanktionsdruck müsse Washington „im Falle einer Zunahme der Aggression des Kremls beispielsweise gegen die Ukraine oder Weißrussland oder im Falle einer neuen Welle von Attentaten“ verstärken, betont D. Fried.
„Sanktionen können diese Politik voranbringen“, heißt es in dem Report. „Die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten müssen sich auch darauf vorbereiten, die Sanktionen aufzuheben, sollte Russlands Verhalten verantwortungsvoller werden, zum Beispiel hinsichtlich der US-Wahlen oder in dem Fall, dass eine Einigung erzielt wird, die die ukrainische Souveränität über den okkupierten Teilen der Ostukraine wiederherstellt.“ Wie in dem Dokument betont wird, müsse die kommende Administration eng mit dem Kongress zusammenarbeiten, um die Kriterien für eine Aufhebung der Sanktionen festzulegen, und sie einhalten, wenn dies die Umstände erfordern. „Die Halbinsel Krim wird voraussichtlich für einen langen Zeitraum in den Händen Russlands bleiben, und die Krim-Sanktionen sollten beibehalten werden“, nimmt Fried an.
Gesondert behandelt der Autor des Reports die Unterstützung Deutschlands für das „Nord Stream 2“-Projekt, die ein schlechtes politisches Signal seitens der deutschen Regierung sei, zumal, wie Fried erklärt, viele prominente Deutsche für dessen Einstellung nach der Vergiftung Nawalnys plädiert hätten. Einseitige Sanktionen der USA gegen deutsche und andere westliche Objekte seien ein zu kostspieliger Weg, um damit fertig zu werden. Der potenzielle Schaden für die Beziehungen mit Deutschland sei überdies zu hoch, heißt es in dem Report.
Das Vorgehen der Administration von Donald Trump, das in dem Streben bestand, einseitig Berlin „zu bestrafen“, sehe wie ein Kampf des Kampfes willen aus und löse nicht das Problem, ist sich der Diplomat sicher.
Gegenüber der „NG“ kommentierte Fried die Bereitschaft Bidens und seiner Umgebung, die Präsidentschaft mit Sanktionen zu beginnen, und merkte an: „Prognosen sind vorschnell, doch die Biden-Administration wird sich wohl kaum mit der Verhängung neuer umfangreicher Sanktionen beeilen“. Seinen Worten zufolge könne sie der Europäischen Union folgen und ein Maßnahmen-Paket als Antwort auf die Situation mit Nawalny und möglicherweise im Zusammenhang mit der Lage in Weißrussland verabschieden. „Vom Grad der russischen Einmischung in die Wahlen in den USA wird abhängen, ob das Biden-Team in diesem Bereich agieren wird“, sagte Daniel Fried. „Ungeachtet dessen, dass dem ersten Eindruck nach die Einmischung Russlands keine so erhebliche wie im Jahr 2016 war, kann sich dieser Eindruck als ein fehlerhafter erweisen und es können zusätzliche Informationen auftauchen.“
Ein signifikantes Anziehen des Sanktionsmechanismus sei in einzelnen Fällen möglich, meint der einstige Diplomat. So sei eine wesentliche Verstärkung der Sanktionen zum Beispiel im Finanzsektor als Antwort auf eine „weitere russische Aggression“ sei es hinsichtlich der Ukraine, Weißrusslands, der USA oder Staaten der Europäischen Union und der NATO oder als eine Antwort auf die Verletzungen der Menschenrechte möglich. Dazu rechne man Attentate gegen Kritiker der russischen Führung, unterstrich Fried. „Sanktionen sind keine Politik. Sie sind ein politisches Instrumentarium. Und die Biden-Administration wird eine Politik in Bezug auf Russland konzipieren und ihm gegenüber Sanktionen anwenden und sich nicht mit Sanktionen beeilen und dann versuchen, eine politische Begründung zu finden“, resümiert der Diplomat.
Der Kollege von Daniel Fried, der wissenschaftliche Senior Mitarbeiter des „Atlantic Councils“ Anders Åslund, der unter den Experten war, die vor einigen Jahren dem Weißen Haus ihre Kriterien für einen Sanktionsdruck vorgeschlagen hatten, erläuterte gegenüber der „NG“, dass Biden über große Erfahrungen hinsichtlich der Anwendung von Sanktionen seit dem Jahr 2014 verfüge. Zu jener Zeit befasste er sich mit Fragen, die mit der Ukraine zusammenhingen. „Die Biden-Administration wird die Sanktionspolitik besser sowohl mit ihren Verbündeten, vor allem im Rahmen der EU, als auch innerhalb der Regierung koordinieren“, betont Åslund. „Die Verwaltung für Sanktionen im Außenministerium wird wiederhergestellt und sich die führende Rolle in dieser Frage zurückholen, indem sie die dem Finanzministerium abnimmt, was die Sanktionen zu stärker an die Außenpolitik angepassten und voraussagbareren macht.“
Nach Aussagen des Experten werde unter Biden das gesamte System der Sanktionen in Ordnung gebracht. „Die Administration wird noch einmal klar die konkreten Sanktionen an konkrete Probleme binden, damit es für die russischen Herrschenden einen Stimulus gibt, bestimmte Handlungen einzustellen, und begriffen wird, dass die westlichen Sanktionen aufhören können“, meint Åslund. „Das Regime der restriktiven Maßnahmen wird schrittweise verschärft, wenn die russische Regierung keine korrigierenden Handlungen unternimmt.“ Seinen Worten zufolge gehe die Initiative in der Frage nach der Anwendung von Sanktionen gegen Russland nun vom Kongress zur Administration über, da beide Parteien auf dem Kapitolshügel der Biden-Administration in dieser Frage mehr vertrauen werden, was im Fall mit Trump nicht so gewesen war.
Åslund betont: Harte restriktive Maßnahmen hinsichtlich „Nord Stream 2“ werden im Rahmen des Verteidigungsgesetzentwurfs in der ersten Dezemberhälfte verabschiedet. Wenn dies nicht passiert, so sei unklar, wie Biden mit solchen Sanktionen umgehen werde. Sein Team sei weniger als die Trump-Administration geneigt, sekundäre Restriktionen den Verbündeten aufzuerlegen, meint der Experte.