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Russland ist nach Karabach gekommen, um zu bleiben…


Aserbaidschans Armee hat den Kelbadschar-Kreis unter ihre Kontrolle genommen. Das teilte Landespräsident Ilham Alijew in einer Ansprache an die Nation mit, wobei er beiläufig Armenien des Abholzens von Wäldern, des Niederbrennens von Schulen und Abschlachten von Vieh bezichtigte. Der Sieger hat immer Recht. Ihm wird alles verziehen, was immer er auch tun mag. Der Verlierer dagegen wird an allen Sünden Schuld haben. Diese Bürde muss das arme Armenien im Alleingang tragen. 

Die prowestliche Politik von Armeniens Premierminister Nikol Paschinian hat ein Fiasko erlitten. Der Westen hat nicht nur Jerewan nicht im Verlauf des Militärkonflikts unterstützt, sondern hüllt sich jetzt auch in Schweigen, während sich in Bergkarabach eine humanitäre Katastrophe abspielt: Die Armenier verlassen ihre Häuser aus Furcht vor einem Genozid durch die neuen Herrschenden. Die Aserbaidschaner haben dies zu Beginn der 1990er durchgemacht. Damals hatten hunderttausende Flüchtlinge die Region verlassen. 

Wenn man sich der Ereignisse von 1992 in Abchasien und von 2008 in Südossetien erinnert, drängen sich Parallelen zu dem sich heute in Karabach Abspielenden von selbst auf. In beiden zwischennationalen Konflikten war die Verliererseite gezwungen gewesen, ihren Besitz aufzugeben. In Zchinwali gingen wie auch im Kelbadschar-Kreis Häuser in Flammen auf. Mit einer Gruppe von Journalisten hatten wir in einem Armee-Schützenpanzerwagen Zchinwali verlassen. Die Militärs hatten uns in das Fahrzeug gesteckt und kategorisch verboten, die Köpfe herauszustecken. Wobei sie nicht so sehr fürchteten, dass irgendeine verirrte Kugel herumfliegt, sondern dass wir den Schrecken des Exodus der Georgier aus ihren Dörfern sehen. Doch der Brandgeruch und Gestank von verbranntem Fleisch sprachen für sich selbst.

Das Eintreffen der russischen Friedenstruppen in Karabach wurde für die Bevölkerung der Region zur einzigen Überlebenschance. Seit dem 14. November haben die Angehörigen der 15. gesonderten Mot.-Schützen-Friedensbrigade des Zentralen Militärbezirks die Rückkehr von über 17.000 Einwohner gesichert (Stand vom 26. November laut Angaben des russischen Verteidigungsministeriums – Anmerkung der Redaktion). Gegenwärtig befassen sie sich mit der Minenräumung vor Ort und der Wiederherstellung des Straßenverkehrs sowie der Strom-, Wasser- und Wärmeversorgung der sozialen Objekte und Wohngebäude. Militärpatrouillen begleiten die Fahrzeugkolonnen, die Lebensmittel und Materialien des täglichen Bedarfs in die abgelegenen Ortschaften transportieren. Neben der Gewährung von Hilfe für die Verletzten müssen die Mediziner gegen die Coronavirus-Infektion kämpfen.  

Nikol Paschinian spricht schon heute davon, dass der Konflikt in Bergkarabach ein langwieriger bleiben werde. Im Zusammenhang damit nimmt er an, dass sich die aus Russland entsandten Friedenssoldaten mehr als fünf Jahre auf diesem Territorium befinden werden. In dieser Zeit müssten seiner Meinung nach „Garantien für die Sicherheit und Stabilität in der Region geschaffen werden“.

Ist dies möglich? Ilham Alijew feiert den Sieg, polemisiert mit den Oberhäuptern anderer Staaten hinsichtlich einer Bewahrung der christlichen Gotteshäuser und Denkmäler in den Gebieten, die unter die Kontrolle von Baku gekommen sind. Er sagt, dass die in Aserbaidschan lebenden Christen sie nutzen können. Möglicherweise wird er Wort halten. Jedoch ist nicht alles so einfach. Die Türken haben beispielsweise 1935 die byzantinische Hagia Sophia in ein Museum verwandelt, die nach der Eroberung von Konstantinopel durch die Osmanen zu einer Moschee geworden war. Und 85 Jahre nach der Säkularisierung ist das historische Denkmal aus der UNESCO-Welterbeliste erneut zu einer Moschee auf Beschluss von „Sultan“ Recep Tayyip Erdoğan geworden. 

Können die russischen Friedenstruppen solch eine Entwicklung der Ereignisse in Karabach verhindern? Nein. Sie befinden sich nur in einer der Konfliktzonen. Können sie die Prozesse in den Kreisen beeinflussen, die gemäß dem trilateralen Abkommen (vom 10. November) an Aserbaidschan übergeben werden und früher durch Armenien kontrolliert wurden? Nein. Denn alles, was sich dort ereignen wird, wird auf dem Gewissen der neuen Machthaber liegen. Die aber werden wohl kaum sich loyal zu den „armenischen Eroberern“ verhalten. Gerade deshalb spricht Nikol Paschinian von einem „langwierigen Charakter“ des Konflikts und hofft wahrscheinlich insgeheim auf eine Revanche. Baku wird gleichfalls die Träume von einer kompletten Rückkehr von Karabach in den Bestand von Aserbaidschan hegen. 

Aserbaidschan brauchte über 30 Jahre, um einen geeigneten politischen Moment im Zusammenhang mit einer Instabilität in der armenischen Gesellschaft und einer Schwäche ihrer Führung  abzupassen, um die erfolgreiche Militäroperation durchzuführen und sich praktisch vollkommen Karabach zurückzuholen. Die totale Zerschlagung der armenischen Armee und den vollkommenen Verlust der Region hat Moskau – der einzige Garant für eine Nichtwiederaufnahme der Kampfhandlungen – gestoppt.   

Erinnern wir uns an Südossetien. Georgiens Präsident Michail Saakaschwili hatte auch einen geeigneten Moment abgewartet, um die Region in den Bestand seines Landes zurückzuholen. Dies hatte der Verhandlungsprozess nicht gefördert. Und die Georgier hatten sich für eine gewaltsame Aktion entschieden. Ihnen hatte die politische und militärtechnische Unterstützung des Westens geholfen. Doch eines hatten sie nicht berücksichtigt: Wenn Russland seine Friedenstruppen einrücken lässt, so werden sie dieses Territorium nur auf Entscheidung des Kremls verlassen, was dem Wort „niemals“ gleichbedeutend ist. 

Entsprechend den Ergebnissen des Krieges hat Tbilissi vollkommen die Kontrolle über die Territorien Südossetiens und Abchasiens verloren, die durch Moskau als unabhängige Staaten anerkannt wurden Im Grunde genommen droht dieses Szenario auch Ilham Alijew im Falle des Versuches, die Aggression fortzusetzen. Aber auch Nikol Paschinian kann wohl kaum mit einer Rückgabe dieses Territoriums rechnen- Armenien hatte im Verlauf von 30 Jahren sich nicht entschlossen, es als das seinige anzuerkennen.

Übrigens, dies ist auch eine Andeutung für die neue Präsidentin Moldawiens, Maia Sandu: Macht es Sinn, entschiedene Handlungen in Bezug auf Transnistrien zu unternehmen? Diese Lehre im postsowjetischen Raum hat sich scheinbar nur Kiew zu eigen gemacht, das kategorisch gegen einen Einmarsch eines russischen Friedenskontingents in Lugansk und Donbass ist.