Der Jahrestag ist in Deutschland nicht spürbar begangen worden. Selbst solch ein einflussreicher Nachrichtenkanal wie n-tv erinnerte nur einige Tage später daran, freilich in einem recht ausführlichen Kommentar. Es kann wohl kaum von einer Missachtung der Presse gegenüber der amtierenden Kanzlerin die Rede sein. Sie wird eher als eine „lahme Ente“ angesehen, da sie beizeiten ihren Ausstieg aus der Politik bekanntgegeben hat.
Es entstand der Eindruck, dass in der russischen Presse diesem Ereignis mehr Beachtung geschenkt wurde als in der Heimat der noch amtierenden Regierungschefin der BRD. In Russland haben die Beziehungen mit Deutschland stets eine besondere Bedeutung besessen. Hier aber geht es um ein politisches Erbe, obgleich die Erben noch nicht bestimmt worden sind. Um Merkel und die von ihr verfolgte Politik zu verstehen, lohnt es sich, sich ihres politischen Aufstiegs zu erinnern.
Die Geschichte des ostdeutschen Aschenputtels
Erstmals wurde Angela Merkel vom Bundestag am 22. November 2005 zur Bundeskanzlerin gewählt. Die Wahl war in Vielem eine zufällige, da es in der Christlich-Demokratischen Union (CDU) eine starke Opposition hinsichtlich des „Mädels aus Ostdeutschland“ gegeben hatte, die viele als „Kohls Mädchen“ bezeichnet hatten. Dies war eine Anspielung darauf, dass Helmut Kohl, der sich auf den Lorbeeren des Vaters der Wiedervereinigung Deutschlands ausruhte, die junge ostdeutsche Oppositionelle aus Wissenschaftlerkreisen plötzlich in sein Kabinett holte und zur Bundesministerin für Frauen und Jugend machte. Das schnelle Erklimmen der Karriereleiter in der CDU durch die frühere Jugendfunktionärin der Freien Deutschen Jugend, einer analogen Organisation zum sowjetischen Komsomol, war nur dank der Unterstützung von Kohl möglich geworden. Merkel stellte ihrem Wohltäter ein Bein, als im November 1999 in der CDU ein Skandal aufgrund einer nichtlegalen Finanzierung dieser Partei ausbrach (CDU-Spendenaffäre – Anmerkung der Redaktion). Auf dem Höhepunkt dieses Skandals veröffentlichte Merkel, die bereits zur Generalsekretärin der CDU geworden war, in der einflussreichen „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ einen Gastbeitrag (am 22. Dezember 1999 – Anmerkung der Redaktion), in dem sie die Partei aufrief, entschieden mit der korrupten alten Garde zu brechen. Gerade damals vermochte sie keine Beziehungen mit einem der einflussreichen Parteifunktionäre, mit Friedrich Merz, aufzubauen, der heute versucht, eine Revanche für seine Niederlagen in den Auseinandersetzungen mit Merkel Ende der 1990er Jahre zu nehmen.
Im innenpolitischen Leben zeigte sich Merkel als ein Mensch, der es versteht, die gestellten Ziele zu erreichen. Dafür sprechen ihre zahlreichen Wechsel in der Zeit der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten aus einer politischen Struktur in eine andere, solange sie sich nicht endgültig im konservativen Lager etablierte. Die sie kennende Umgebung hatte ihr eher Anschauungen der deutschen Linken zugeschrieben, die zu jener Zeit auf Positionen standen, die stärker links ausgerichtet waren als heute. Möglicherweise hat diese Tatsache den von ihr unternommenen Versuch einer Sozialdemokratisierung der CDU beeinflusst, um die Partei näher zum politischen Zentrum zu rücken. Damit entzog sie den deutschen Sozialdemokraten den Boden unter den Füßen, indem sie eine Reihe deren Ideen und Programmaussagen übernommen hatte. Von diesem Schlag kann sich die SPD bis heute nicht erholen und verwandelte sich in eine zweitrangige politische Kraft.
Eine Anthologie der persönlichen Beziehungen von Merkel und Putin
Es ist klar, dass jeglicher großer Politiker in seiner Beziehung zu einem anderen Land oder zu einem konkreten Politiker dieses Landes nicht so sehr von persönlichen Sympathien oder Antipathien als vielmehr von den Interessen der eigenen Nation abhängt. In dieser Hinsicht ist Merkel keine Ausnahme, obwohl sie die russische Sprache kennt und im Jugendalter im Rahmen von Jugendaustauschen in der UdSSR weilte, wo sie auch ihren ersten Ehemann kennengelernt hatte. Die US-amerikanische Zeitung „New York Times“, die die Beziehungen von Merkel und Putin analysierte, schrieb, dass während der bekannten programmatischen Rede von Wladimir Putin vor dem deutschen Bundestag am 25. September 2001 Merkel, damals noch eine relativ wenig gestandene Oppositionsführerin in der Zeit des Kanzleramtes von Gerhard Schröder, die Begeisterung der deutschen Abgeordneten über den russischen Staatschef und seiner deutschen Sprachkenntnisse nicht geteilt hätte. Angeblich habe sie einem ihrer Kollegen während dieser Ovationen gesagt: „Dafür lohnt es sich, der Stasi zu danken“. Das Blatt unterstreicht, dass Merkel den Geheimdienst Ostdeutschlands im Blick hatte, mit dem Putin zusammengearbeitet hatte, als er ein junger KGB-Offizier in Dresden gewesen war.
Wir wissen nach wie vor nicht genau, wie sich die Beziehungen von Merkel und dem MfS der DDR in der Zeit ihrer Jugend gestaltet hatten. Doch, wie das deutsche Magazin „Focus“ betont, ist Merkel als eine Funktionärin der ostdeutschen Jugendorganisation (sie war Mitglied eines FDJ-Kreiskomitees und Sekretärin für Agitation und Propaganda) und Mitarbeiterin der Akademie der Wissenschaften der DDR (sie verteidigte eine Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades eines Doktors zum Thema „Untersuchung des Mechanismus von Zerfallsreaktionen mit einfachem Bindungsbruch und Berechnung ihrer Geschwindigkeitskonstanten auf der Grundlage quantenchemischer und statistischer Methoden“) wohl kaum außerhalb des Blickfeldes des MfS der DDR geblieben. Schließlich galt sie entsprechend den damaligen Kanons der DDR als Elite des ostdeutschen Staates. Merkel verheimlichte nicht, dass die Stasi seinerzeit erfolglos versucht hatte, sie anzuwerben. Anders gesagt: Ihre Beziehungen mit dem MfS der DDR waren wie auch bei vielen ostdeutschen Intellektuellen keine einfachen und eher feindselige.
Die „New York Times“ schlägt ihren Lesern vor, sich um 15 Jahre voran zu versetzen, in unsere Welt, in der der Kalte Krieg scheinbar erneut an Fahrt gewinnt und in der eine ganze Plejade amerikanischer und europäischer Spitzenpolitiker, die versucht hatten, Beziehungen mit Russland anzubahnen, einen Misserfolg erlitt. In dieser Welt sind nur Merkel und Putin geblieben. Ihre Beziehungen und ihre Konkurrenz sind der Mittelpunkt eines Konflikts von völlig entgegengesetzten Anschauungen, einer Spaltung, die jetzt weitaus ernsthaftere Folgen haben kann. „Kanzlerin Merkel ist die ergebenste Hüterin der Konzeption des liberalen Westens, die bereits 70 Jahre existiert“, meint Strobe Talbott, der ehemalige Russland-Berater von Präsident Bill Clinton.
In all diesen Jahren hat es zwischen Merkel und Putin, fährt das Blatt fort, eine Vielzahl von Treffen und Telefonaten gegeben. Jedoch ist es ihnen nicht gelungen, einen Durchbruch und die Herstellung partnerschaftlicher Beziehungen zu erreichen, die man mit den Beziehungen zwischen Großbritanniens Premierministerin Margareth Thatcher und dem letzten Staatsoberhaupt der Sowjetunion Michail Gorbatschow hätte vergleichen können.
Merkel, die ihnen nie weder Freund noch Feind gewesen war, hat Putin stets zu veranlassen versucht, die Beziehungen auf der Basis von Regeln und nicht von Emotionen zu gestalten, auf der Grundlage gemeinsamer Interessen und nicht persönlicher Sympathien. Seinerseits wollte Putin stets in Europa einen Staatsmann finden, der bereit ist, mit Russland einen grandiosen Deal zu vereinbaren und ihm eine fixierte und privilegierte Rolle im Prozess des Treffens von Entscheidungen zu garantieren. Daher werden die Beziehungen zwischen Putin und Merkel durch eine Wachsamkeit, gegenseitige Verdächtigungen und eventuell eine gegenseitige Achtung bestimmt, resümiert die Zeitung.
Streitgespräche mit Frank
Vor einigen Jahren hatte ich die Gelegenheit gehabt, mit dem einst bekannten Journalisten aus der DDR, mit Frank Schumann, zu diskutieren. Er hatte dadurch Ruhm erlangt, dass er seinerzeit das letzte Interview mit Erich Honecker, dem langjährigen Führer der DDR und SED, publizierte. Jetzt ist er Verleger in Berlin. Meine Gespräche mit ihm erfolgten in Räumen eines alten Hauses am Gendarmenmarkt im Herzen von Ostberlin, wo sich auch damals sein Verlag befand. Das Diskussionsthema tangierte den aktuellen Zustand der Beziehungen der BRD und Russland. Die Unterhaltung war eine freimütige. Ich hatte keine Gründe, ihm nicht zu vertrauen, da wir beide in der Vergangenheit Mitglieder von Bruderparteien waren. Und Frank war überdies auch ein Funktionär der SED gewesen.
Das Hauptmotiv der Diskussion lief darauf hinaus, dass Frank meine Behauptung von „einem Abschiednehmen Russlands von Europa“ in dem Sinne in Abrede gestellt hatte, dass nicht Russland Abschied nehme, sondern sich Europa von Russland trenne. Zur Untermauerung seiner Version führte er auch eines der letzten „Weißbücher“ der deutschen Regierung an (aus dem Jahr 2016 – Anmerkung der Redaktion). Es sei daran erinnert, dass so in Deutschland ein Dokument bezeichnet wird, dass die Hauptrichtungen der militärpolitischen Strategie des Landes enthält.
Das erste deutsche „Weißbuch“ erschien 1969. In den 1970er hatte man es beinahe jedes Jahr aufs Neue verfasst. Und das vorangegangene bzw. vorletzte Mal – nur im Jahr 2006. Die Krise um und in der Ukraine wird im letzten erschienenen „Weißbuch“ als ein Abgehen Russlands von einer engen Partnerschaft mit dem Westen interpretiert. In den Vordergrund rücke eine strategische Konkurrenz zwischen Russland und dem Westen. Aus internationaler Sicht stelle Russland ein eigenständiges Anziehungs- bzw. Gravitationszentrum mit globalen Ansprüchen dar.
Aus der Sicht der deutschen Politiker ergibt sich: Wenn Russland seinen Kurs nicht radikal ändere, werde es in der überschaubaren Zukunft zu einer Herausforderung für die Sicherheit auf dem Kontinent. Im Grunde genommen sind alle Sanktionen und die Verstärkung des bewaffneten NATO-Kontingents an den Grenzen mit Russland auch dazu bestimmt, Russland zu zwingen, seinen Kurs zu ändern. Diesem Ziel dient auch der Versuch einer vollkommenen Isolierung Russlands in der internationalen Arena, wozu auch der Ausschluss Moskaus aus der Gruppe der acht wichtigsten Industriestaaten der Welt – der G8 – zu rechnen ist. Die erbittertsten Verfechter eines Ausschlusses waren bekanntlich der kanadische Premier und die deutsche Kanzlerin.
Es stellt sich die Frage: Kann man denn solch ein großes Land in der heutigen Welt isolieren? In dem bereits erwähnten „Weißbuch“ wurde betont, dass „Europa mit Russland aber nach wie vor ein breites Spektrum gemeinsamer Interessen und Beziehungen“ verbinde. Als größter Nachbar der EU und ständiges Mitglied im Sicherheitsrat der UNO komme Russland regional wie global eine besondere Verantwortung bei der Bewältigung gemeinsamer Herausforderungen und internationaler Krisen zu. Daher wird in dem „Weißbuch“ die Schlussfolgerung gezogen: „Nachhaltige Sicherheit und Prosperität in und für Europa sind daher auch künftig nicht ohne eine belastbare Kooperation mit Russland zu gewährleisten“.
Wichtig in diesem Text ist die Anerkennung der Notwendigkeit einer Lösung des Sicherheitsproblems auf dem europäischen Kontinent. In dem „Weißbuch“ ist jedoch ein Punkt enthalten, der nicht die Schaffung eines neuen kollektiven Sicherheitssystems in Europa fordert, sondern die Einhaltung der bestehenden Regeln und Prinzipien. Dies macht praktisch die wichtigste Bedingung für die Anbahnung einer Zusammenarbeit auf dem Kontinent zunichte und legt vom Wesen der Sache her die Grundlage für eine Konfrontation hinsichtlich einer Nötigung Russlands zur Veränderung des gegenwärtigen außenpolitischen Vektors bis hin zu einem Wechsel der Landesführung.
Die strategische Zusammenarbeit, die im Zuge der Wiedervereinigung Deutschlands angeschoben und während der Kanzlerschaft des Sozialdemokraten Gerhard Schröder fortgesetzt wurde, ist der Vergangenheit anheimgefallen. Diese Wende begann mit dem Machtantritt von Angela Merkel. Erinnert sei an ein Treffen in Tomsk im Frühjahr des Jahres 2006. Damals fanden die 8. Deutsch-russischen Regierungsgespräche statt. Am 27. April hatten Vertreter der Wirtschaftskreise eine Reihe wichtiger Abkommen über eine Handels- und Wirtschaftszusammenarbeit unterzeichnet (es ging dabei um dutzende solcher Dokumente). Schon damals hatte die deutsche staatliche Medienkorporation Deutsche Welle (DW) das Augenmerk auf die Formulierungen gelenkt, die Kanzlerin Merkel und Präsident Putin verwendet hatten. „Während Wladimir Putin von partnerschaftlichen Beziehungen sprach, haben deutsche Journalisten darauf die Aufmerksamkeit gelenkt, dass Angela Merkel anstelle von „strategischer Partnerschaft“ den Ausdruck „strategische Zusammenarbeit“ verwendet. Ob dies eine Herabsetzung des Niveaus der deutsch-russischen Beziehungen bedeutet, wird die Zeit zeigen“, formulierte die DW. Nunmehr kann man sagen, dass der Sender wohl recht gehabt hat.
Das Deutsch-Russische Forum (eine 2001 gegründete gesellschaftliche Organisation) hat eine Serie von Rundtischgesprächen unter dem Titel „Russland im Gespräch“ gestartet. Gewidmet sind sie Diskussionen über die Zukunft der bilateralen Beziehungen. Während der ersten Talkrunde, die Anfang November erfolgte, wurden die Entwicklungsperspektiven dieser Beziehungen nach einer Reihe großer Flops der letzten Monate und gar Jahre diskutiert. Es sei daran erinnert, dass es dabei um die Ermordung ehemaliger tschetschenischer Feldkommandeure in Berlin und Wien, den Attentatsversuch auf den ehemaligen Doppelagenten Skripal in Salsbury und die versuchte Vergiftung des Oppositionspolitikers Nawalny ging, was die Verhängung antirussischer Sanktionen und gegenseitige Ausweisungen von Diplomaten auslöste. Die Diskussionsrunde trug den Titel „Lockdown der Beziehungen. Kann es zu einem Neustart der deutsch-russischen Beziehungen kommen?“.
Moderator der Talkrunde war der einst bekannte ARD-Hörfunkjournalist Hermann Krause, der viele Jahre in Moskau tätig war. Unter den eingeladenen Gästen war der deutsche Politologe Alexander Rahr, die ehemaligen Moskau-Korrespondenten Christiane Hoffmann vom SPIEGEL und Michael Thumann von der ZEIT.
Wichtig zu betonen ist, dass den Beginn der Reibungen in den deutsch-russischen Beziehungen viele Experten mit dem Ende der Ära des sozialdemokratischen Bundeskanzlers Gerhard Schröder verbinden. Wobei einige behaupten, dass seine harte Opposition von 2002 hinsichtlich des US-amerikanischen Einmarschs in den Irak sogar Gerüchte über die Bildung einer Berlin-Moskau-Achse, der sich Frankreich unter Präsident Jacques Chirac anschloss, ausgelöst hätte. Im Jahr 2005 räumte Schröder den Kanzlersessel für Angela Merkel und stieg selbst aus der Politik aus. Im Jahr 2012 übernahm Merkel die Führung der christlich-liberalen Koalitionsregierung von CDU/CSU und FDP.
Über das eine Zäsur für die russisch-deutschen Beziehungen setzende Jahr 2012 sprach während der Diskussionsrunde Michael Thumann. Und in der Tat, dieses Jahr war kein einfaches und gleichzeitig ein inhaltsreiches für die deutsch-russischen Beziehungen. Dies war das Jahr, in dem Berlin auf neue Art und Weise die Akzente in seiner Politik hinsichtlich Moskaus gesetzt hatte. Wie damals in einem Interview der Deutschen Welle Igor Jürgens, der Vorstandsvorsitzende des Instituts für moderne Entwicklung, betonte, „war es schwer gewesen, die Verschlechterung der Beziehungen nicht zu bemerken. Begonnen hatte alles mit dem ersten Deutschland-Besuch von Wladimir Putin nach seiner Wahl zum Präsidenten. Während einer kurzen Begegnung hatte sich Angela Merkel hinsichtlich der Wahlen und der Situation im Land geäußert. Es ging unter anderem um den „Fall von Pussy Riot“. Dabei hatte sie die Worte nicht ausgesucht und klar ihren Standpunkt zum Ausdruck gebracht. Danach gab es einen Gegenbesuch, in dessen Verlauf sich alles wiederholte“.
Man konnte die Vermutung anstellen, dass alles an der Entscheidung Putins gelegen hatte, an die Macht zurückzukehren. Nicht zufällig war damals der heute siegreiche Kandidat von der Demokratischen Partei bei den US-Präsidentschaftswahlen vom November, Joe Biden, nach Moskau gekommen und hatte Putin empfohlen, nicht für das Präsidentenamt zu kandidieren. Dmitrij Medwedjew war sowohl für die USA als auch offensichtlich für die BRD bequemer gewesen.
Es ist verständlich, dass die Ereignisse von 2014, vor allem der Beitritt der Krim zu Russland, in Deutschland zu einer Enttäuschung über Putin führten, wie Christiane Hoffmann meint. Und diese Enttäuschung hat sich im Zuge der Festigung des Autoritarismus in Russland verstärkt, zu dessen Krönung die vermutliche Vergiftung des Oppositionspolitikers Alexej Nawalny geworden ist. Doch diese Enttäuschung dürfe nicht, wie sie meint, zu einem Einbruch in den deutsch-russischen Beziehungen führen.
Positionen der Öffentlichkeit und der Geschäftswelt
Die Frage steht heute so: Werden in Russland Europa und Deutschland gebraucht? Am 17. November fand als ein Online-Forum die Diskussion „Die EU und die Eurasische Wirtschaftsunion“ im Rahmen der 24. Potsdamer Begegnungen statt. Dabei muss betont werden, dass die „Potsdamer Begegnungen“ die gegenwärtig wichtigste Plattform für einen Meinungsaustausch der Öffentlichkeit und von Wirtschaftskreisen beider Länder bleiben. Organisiert wurden sie erstmals 1999. Ihr Initiator war der damalige deutsche Bundespräsident Roman Herzog.
Die Veranstaltung war dem Thema „Russland und die Europäische Union: Räume für Zusammenarbeit in Krisenzeiten“ gewidmet. Das gewählte Thema und das Format der Begegnung hingen mit der drastischen Abkühlung der Beziehungen Russlands mit Europa zusammen. Unter den Bedingungen einer derartigen Abkühlung bleiben schon nicht mehr so viele Plattformen für Kontakte und einen unvoreingenommenen Meinungsaustausch übrig. Das Forum vereint hochrangige Vertreter aus den Bereichen Politik, Wirtschaft und Kultur aus Russland und Deutschland zwecks Entwicklung neuer Formen für ein Zusammenwirken.
Die Wirtschaftskooperation ist eines der wirksamsten Mittel für ein Herauskommen aus den entstandenen politischen Sackgassen. Und gerade jetzt ergeben sich neue Möglichkeiten für ihre Realisierung auf einem höheren Niveau. Worum geht es?
Nach Meinung von Oliver Hermes, Vorsitzender des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft, befinde sich Europa heute zwischen zwei Feuern. Einerseits haben China und 14 Länder der asiatisch-pazifischen Region die Freihandelszone Regional Comprehensive Economic Partnership (RCEP) gebildet, der die Europäer nicht angehören. Das Inkrafttreten dieser Regionalen allseitigen Wirtschaftspartnerschaft bildet die weltweit größte Freihandelszone, auf die 2,2 Milliarden Verbraucher und ein BIP, das 32 Prozent der globalen Wirtschaftsleistung ausmacht, entfallen.
Andererseits bleibt Europa unter dem Druck der in den bilateralen Beziehungen dominierenden USA. Daher müsse die europäische und vor allem die deutsche Wirtschaft einen Partner für ein Überleben finden, wie Hermes annimmt. Und zu solch einem natürlichen Partner werde seiner Meinung nach die Eurasische Wirtschaftsunion (EAWU).
Wie Hermes erklärte, ermögliche „nur ein starker, gemeinsamer Wirtschaftsraum von Lissabon bis Wladiwostok“ der deutschen und folglich auch der europäischen Industrie, das „technologische Know-how und das Marktpotenzial West- und Osteuropas sowie Zentralasiens zusammenzubringen, um weltweit führend bei digitalen und grünen Zukunftstechnologien zu werden“. Gerade die Erfahrungen der RCEP würden die Möglichkeit der Schaffung regionaler Wirtschaftsvereinigungen unabhängig von politischen Widersprüchen demonstrieren.
Ein Bündnis der EU und der EAWU sei aus der Sicht von Oliver Hermes aufgrund der Zuspitzung der Handelsbeziehungen der USA und der Volksrepublik China besonders notwendig. Daher haben die Wirtschaftskreise Deutschlands die Europäische Union (in der die Bundesrepublik Deutschland gegenwärtig den Vorsitz führt), zu einem direkten Dialog mit der EAWU überzugehen. Hermes unterstrich, dass man im Interesse der europäischen Industrie endlich entsprechende Institute für den Beginn von Gesprächen über einen gemeinsamen Markt von EU und EAWU schaffen müsse.
Jedoch sollten die deutschen Unternehmer nicht vergessen, wie Pawel Sawalny, Vorsitzender des Staatsduma-Ausschusses für Energiefragen, in seiner Wortmeldung während der Diskussion betonte, dass der Vertrag über die Bildung der EAWU im Januar 2015 vor dem Hintergrund der ukrainischen Krise in Kraft getreten ist. Die EU hatte die EAWU damals nicht als eine institutionell symmetrische Struktur anerkannt und sich von Anfang an einem offiziellen Zusammenwirken enthalten.
Außerdem hat die EU Sanktionen gegen Russland – die Lokomotive der EAWU – verhängt und Prinzipien bestätigt, die faktisch Initiativen auf dem Gebiet der bilateralen Beziehungen angeblich bis zur Lösung der ukrainischen Krise blockierten.
Ob die Anstrengungen der Öffentlichkeit und der Wirtschaftskreise beider Länder die russisch-deutschen Beziehungen retten werden, ist heute schwer zu prognostizieren. Zumal Russland im kommenden Jahr bereits mit einer neuen Regierung und wahrscheinlich auch mit einem neuen Kanzler zu tun haben wird.