Die Parameter für eine zusätzliche Indexierung der sozialen Beihilfen bekanntzugeben, haben sich die Offiziellen scheinbar nicht beeilt. Das Problem besteht darin, dass selbst die spendabelste von Experten vorgeschlagene Variante für zusätzliche soziale Beihilfen vorgesehen hatte, dass die Armut in der Russischen Föderation in diesem Jahr doch zunehmen wird – bis auf fast 13 Prozent von den elf Prozent des vergangenen Jahres laut Angaben des Instituts für Studien und Expertisen der Vneshekonombank (Außenwirtschaftsbank). Die vom Präsidenten verkündeten Parameter für eine neue Indexierung kommen der generösen Expertenvariante nahe. Es gibt aber auch Ausnahmen. Außen vor bleiben die arbeitenden Rentner.
Am vergangenen Mittwoch hatte bei einer Präsidiumstagung des Staatsrates Präsident Wladimir Putin konkrete Parameter der früher angekündigten zusätzlichen Indexierung der sozialen Beihilfen verkündet. „Ich schlage vor, ab 1. Juni dieses Jahres die Höhe der Renten der nichtarbeitenden Rentner unter Berücksichtigung unserer Gesetzgebung um zehn Prozent anzuheben“, gab Putin bekannt. „Es sei daran erinnert, dass ab dem 1. Januar des laufenden Jahres die Versicherungs- (Sozial-) Renten der nichtarbeitenden Rentner bereits um 8,6 Prozent indexiert wurden. Die Zunahme des Umfangs ihrer Renten gegenüber dem Vorjahr wird 19,5 Prozent betragen“.
Dies sei höher als die Inflationsrate, sagte der Präsident. Er berief sich auf mehrere Parameter – auf die Wochen- und auf die Jahreszahlen. Die seit Jahresbeginn akkumulierte Inflationsrate übersteige elf Prozent. Und entsprechend den Ergebnissen des gesamten Jahres 2022 werde sie mit nicht mehr als 15 Prozent erwartet.
Wie Arbeitsminister Anton Kotjakow mitteilte, werde solch eine Indexierung erlauben, die Renten für 35 Millionen Bürger anzuheben. Die Durchschnittsrente werde 19.360 Rubel (umgerechnet ca. 274 Euro) ausmachen. Obgleich der Minister präzisierte, dass der Umfang des Zuschlages für jede Person berechnet werde.
Auf die Situation um die Inflation ging Putin mehrfach ein, wobei er erstaunliche Details anführte. Das gegenwärtige Jahr sei natürlich „kein einfaches“, betonte er. Aber „dies bedeutet überhaupt nicht, dass all diese Schwierigkeiten mit dieser militärischen Sonderoperation zusammenhängen, da in den Ländern, die keinerlei Operationen durchführen, sagen wir einmal jenseits des Ozeans, in Nordamerika, in Europa die Inflation eine vergleichbare ist“, erklärte Putin. „Und wenn man auf die Struktur ihrer Wirtschaft schaut, ist sie gar höher als bei uns. Und in einigen Nachbarländern ist sie um ein Mehrfaches höhere. Dies ist erstaunlich“, teilte er mit.
Der Präsident gab auch andere Anhebungen bekannt. Ab dem 1. Juni dieses Jahres wird das Existenzminimum um zehn Prozent zunehmen. Im Durchschnitt werde es im Land 13919 Rubel (umgerechnet rund 194 Euro) ausmachen. Und dies werde helfen, die Beihilfen und Zahlungen anzuheben, die ausgehend von dessen Umfang festgelegt werden.
Außerdem werde nach Aussagen des Präsidenten ab dem 1. Juli der Mindestlohn um zehn Prozent angehoben, bis auf 15279 Rubel im Monat (umgerechnet rund 213 Euro). „Insgesamt müssen wir konsequent eine Politik eines schnelleren Wachstums der Löhne und Gehälter hinsichtlich der Zunahme der Lebenshaltungskosten verfolgen“, erläuterte Putin. Die Maßnahme werde erlauben, die Löhne und Gehälter für etwa vier Millionen Bürger Russlands anzuheben, fügte Kotjakow hinzu.
Die vom Staatsoberhaupt bekanntgegeben Eckdaten für die neue Indexierung kommen in etwa einigen Experten-Vorschlägen nahe, beispielsweise der spendabelsten Variante für eine zusätzliche soziale Unterstützung, die von Experten des Instituts für Studien und Expertise von VEB.RF vorgeschlagen wurde. Sie kommen nahe, obgleich sie auch nicht identisch sind.
In dem vom Institut veröffentlichten Mai-Report unter dem Titel „Entwicklungsszenario für die russische Wirtschaft unter den Bedingungen komplexer Sanktionen“ ist ein „moderat optimistisches“ Szenario beschrieben worden, das im Übrigens ein kostspieligeres als das „Basis“-Szenario ist. Und es hatte Folgendes vorgesehen: eine Indexierung des Mindestlohnes, aller Beihilfen, Renten sowie Löhne aller Beschäftigten des aus dem Staatshaushalb finanzierten Bereichs um 10 Prozent ab dem 1. Juli des laufenden Jahres.
Wie zu sehen ist, befindet sich in der Expertenliste das gesamte aus dem Staatshaushalt finanzierte Segment des Arbeitsmarktes. Mehr noch, durch die VEB-Analytiker ist auch solch eine Präzisierung vorgenommen worden: „Eine Indexierung der Renten der arbeitenden Pensionäre erfolgt entsprechend dem Tempo der Indexierung der Renten für die nichtarbeitenden (Rentner)“.
Laut Expertenberechnungen würde all diese soziale Unterstützung aus dem Etat 2022 zusätzliche Ausgaben im Umfang von mehr als 1,4 Billionen Rubel erfordern.
Aber das Wichtigste in den Berechnungen ist anderes. Aus ihnen drängt sich die Schlussfolgerung auf, dass die zusätzliche soziale Unterstützung für die Bürger unter den neuen Bedingungen ganz und gar keine einmalige sein soll. Dies ist eine Geschichte nur des einen Jahres 2022, sondern nunmehr von drei Jahren. Gebraucht werden komplexe Maßnahmen.
Der „moderat optimistischen Variante“ nach zu urteilen, wird man beispielsweise im Falle mit den Renten im Jahr 2023 eine Indexierung für alle Rentner bereits um 15 Prozent vornehmen müssen. Ja, und im Falle mit den Beschäftigten des aus dem Staatshaushalt finanzierten Bereichs wird bereits im Januar kommenden Jahres eine Indexierung um weitere 15 Prozent gebraucht. Die Experten lenkten gleichfalls besonderes Augenmerk auf die Notwendigkeit, die Arbeitslosengelder zusätzlich anzuheben.
Und laut den Berechnungen der VEB-Experten werden die zusätzlichen Kosten für all diese Maßnahmen für den Haushalt im Jahr 2023 bereits fast 3,5 Billionen Rubel ausmachen, und im Jahr 2024 – 4,9 Billionen Rubel.
Wie der Präsident im Verlauf der Präsidiumstagung des Staatsrates mitteilte, „haben wir uns selbst unter solch schwierigen Bedingungen bereits Anfang März die Aufgabe gestellt, entsprechend den Jahresergebnissen eine Verringerung der Armut zu sichern“. „Es muss alles Mögliche getan werden, damit die Aufgabe, die vor uns steht, auch unter den heutigen Bedingungen erfüllt wird. Es ist klar, dass dies nicht einfach zu bewältigen sein wird. Man muss dies aber anstreben“, rief Putin auf.
Derweil nimmt selbst die teuerste Variante für die soziale Unterstützung, die durch die Experten des bereits erwähnten VEB-Instituts beschrieben wurde, an, dass in diesem Jahr die Armutsrate im Land ansteigen wird – bis auf 12,6 Prozent. Wenn eine etwas kostengünstigere Variante ausgewählt wird, so wird die Armutsrate in diesem Jahr 13 Prozent ausmachen. Dieser Anstieg kann nur im Jahr 2024 wettgemacht werden, wenn laut der VEB-Prognose sowohl im Basis- als auch im moderat optimistischen Szenario die Armutsrate in der Russischen Föderation bei 11,4 Prozent liegen wird. Russland werde zu den Werten von 2021 zurückkehren. Laut dem russischen Statistikamt Rosstat machte „die Bevölkerungszahl mit Geldeinkommen unterhalb der Armutsgrenze insgesamt in der Russischen Föderation“ 16,1 Millionen Menschen oder elf Prozent der russischen Bevölkerung aus.
Zwischen dem von Putin abgegebenen Versprechen, im Land eine neue Anhebung der sozialen Beihilfen (16. März) und dieser Präsidiumstagung des Staatsrates sind mehr als zwei Monate vergangen. Die Inflation schaffte es, sich noch mehr zu beschleunigen, danach einen Höhepunkt zu erreichen und wirklich zu einer Verlangsamung überzugehen. Augenscheinlich hatte man in der Regierung bei der Vorbereitung auf die Indexierung eine, wenn auch kurze Pause eingelegt. Und dies ist erklärbar. Wenn der neuen Indexierung die Inflationsrate zugrunde gelegt worden wäre, die es zum Höhepunkt gegeben hatte, so wären diese Summen für den Etat noch weitaus mehr nicht zu bewältigen gewesen.
„Keine Indexierung am Höhepunkt der Inflation vorzunehmen, war ein vernünftiger Schritt, da dies die Inflationsrate noch höhe getrieben hätte“, sagte Artjom Tusow vom Investitionsunternehmen „Univer Capital“. „Man kann der Vermutung beipflichten, dass die Regierung die zusätzliche Indexierung vertagte, solang die Inflationsdynamik zu keiner steuerbaren geworden war“, betonte Natalia Miltschakowa, leitende Analytikerin der Investitionsfirma „Freedom Finance“. Andernfalls, so die Expertin, „hätte die vorbeugende Indexierung der Beihilfen eine umgekehrte Wirkung haben können. Die Spirale der Inflationserwartungen wäre noch stärker in Gang gekommen – besonders am Höhepunkt der panischen Einkäufe von Waren, um Vorräte anzulegen. Jetzt aber soll die Indexierung den Rückgang der Realeinkommen der Bevölkerung zügeln und etwas helfen, die zahlungskräftige Nachfrage der Verbraucher zu verstärken.
Laut Schätzungen von Olga Lebedinskaja, Dozentin am Statistik-Lehrstuhl der Russischen Plechanow-Wirtschaftsuniversität, „wird die Indexierung für den Haushalt mindestens 1,5 Billionen Rubel kosten, da sie viele Kategorien der Bürger tangieren soll: sowohl jene, die Beihilfen und Renten erhalten, als auch die Beschäftigten aus dem Bereich, der aus dem Staatshaushalt finanziert wird“. Dies ist mit jenen Schätzungen vergleichbar, die man im erwähnten VEB-Institut nannte.
Die Experten präzisieren gleichfalls, dass man die von den Offiziellen ausgewählte Variante für eine finanzielle Unterstützung der Bürger wirklich als eine umfassendere bezeichnen könne, als sie hätte ausfallen können. Unter anderem „vergrößert die Indexierung im Unterschied zu einmaligen Auszahlungen die Verbindlichkeiten des Staates hinsichtlich der Ausgaben nicht nur im laufenden Jahr, sondern auch in den weiteren Jahren“, wie die leitende wissenschaftliche Mitarbeiterin des Instituts für Analyse und Prognostizierung von der Russischen Akademie für Volkswirtschaft und Staatsdienst, Jelena Grischina, erläuterte. In diesem Sinne wären nach ihren Aussagen aus der Sicht der Etatausgaben beispielsweise die einmaligen Beihilfen zu einer kostengünstigeren Variante geworden.
Pawel Sigal, 1. Vizepräsident der Unternehmervereinigung „Stütze Russlands“, ist dabei der Auffassung, dass „das sich jetzt herausgebildete Haushaltsplus erlaubt, eine Indexierung der Beihilfen faktisch ohne irgendwelche Konsequenzen für die Wirtschaft und ohne eine Beeinflussung der früher bestätigten Ausgabeposten des Etats inklusive der sozialen Programme vorzunehmen“.