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Ab dem 3. Oktober können in Russland Geistliche verboten werden


Beim Halten von Vorlesungen und der Durchführung von Seminaren über die staatlich-religiösen Beziehungen in ganz Russland habe ich im Verlauf vieler Jahre nicht ohne Stolz erklärt, dass unser föderales Gesetz „Über die Glaubens- und Gewissensfreiheit und über religiöse Vereinigungen“ in der Fassung von 1997 eines der demokratischsten auf dem eurasischen Kontinent sei. Ich hatte die Hörer davon überzeugt, dass es für sie Sinn mache, seine Bestimmungen zu studieren, da es unser Recht verteidige, zu glauben, unsere Überzeugungen zu verbreiten, religiöse Vereinigungen zu bilden usw.

Die postsowjetische Gesetzgebung über Religion war in der Tat die beste in der gesamten Geschichte des russischen Staates auf dem Gebiet der Gesetzgebung, selbst ungeachtet einiger Merkwürdigkeiten der Präambel. Und wir hatten es bereits gelernt, ihr entsprechend in einem interkonfessionellen Frieden und in Eintracht zu leben, mit dem Bewusstsein, dass sich nicht nur die Riten und Zeremonien, sondern selbst unsere religiösen Gefühle unter einem Schutz befinden.

Heute aber bin ich bei eben jenen Seminaren gezwungen zu sagen, dass man das Gesetz studieren müsse, um „den Feind vom Angesicht her zu kennen“. Aufgrund der sogenannten Änderungen von Jarowaja und Oserow (Irina Jarowaja, Mitglied der Kremlpartei „Einiges Russland“; Viktor Oserow, Ex-Senator und Staatsbeamter – Anmerkung der Redaktion) und einer Reihe weitere Änderungen und Ergänzungen verwandelt sich das Gesetz in ein Verbotsgesetz, in eines, dass die Rechte der gläubigen Bürger einschränkt. Und durch Paragrafen des Ordnungsstrafrechts und des Strafgesetzbuches untermauert – praktisch in ein bestrafendes.

Doch gefährlicher sind nicht einmal die Normen des Gesetzes, sondern die Formulierungen, die man so oder so entsprechend der Notwendigkeit oder einem direkten Auftrag (ja, auch so etwas kommt vor) auslegen kann. Übrigens, am 6. Juli 2016 versprach Präsident Wladimir Putin, nachdem er eben diese Änderungen ungeachtet der Proteste religiöser Organisationen und hunderttausender Briefe, die von Gläubigen an die Administration des Präsidenten gesandt worden waren, unterzeichnet hatte, dass er „aufmerksam verfolgen“ werde, „wie das Gesetz umgesetzt wird“, und merkte an, dass „die Gesetzgebung vervollkommnet wird und Änderungen vorgenommen werden. Lassen Sie uns in einem Jahr zu der Frage zurückkommen“.

Vergangen sind fünf Jahre. Zu der Frage ist keiner zurückgekehrt. Und wir sind zu konstatieren gezwungen, dass uns bis zum heutigen Tage keine Beispielfälle bekannt sind, dass dank den neuen Bestimmungen der Religionsgesetzgebung Terrorakte verhindert worden seien. Bekannt sind aber mehrere tausend Fakten für deren unbegründeten Anwendung gegen gesetzestreue religiöse Vereinigungen und einzelne Gläubigen. Keiner lässt sich auf einen Dialog ein. Ja, und die Plattformen für solch einen Dialog sind praktisch alle, wie man heute sagt, dicht gemacht worden.

Bald schon, am 3. Oktober wird noch ein Gesetz in Kraft treten, eines vom 5. April 2021, „Über die Vornahme von Änderungen am Föderalen Gesetz „Über die Glaubensfreiheit und über religiöse Vereinigungen““. In religiösen Kreisen hat eine seiner Normen Resonanz ausgelöst, die für die Geistlichen und das Personal religiöser Organisationen, die eine religiöse (theologische) Ausbildung im Ausland erhalten haben, die Forderung festlegt, ein obligatorisches Überprüfungsexamen in Russland abzulegen. Es erfolgten Konsultationen, die Leiter der protestantischen Konfessionen gerieten gar zu einer Audienz beim Vorsitzenden des entsprechenden Staatsduma-Ausschusses, dem Kommunisten Sergej Gawrilow. Die Gesetzgeber schienen entgegenzukommen, nahmen Änderungen an der Gesetzesvorlage vor. Aber ehrlich gesagt: Besser wäre es gewesen, wenn sie dies nicht getan hätten! Erneut ist das Gesetz durch Konstruktionen überfrachtet worden, die für einen staatlichen Akt solch einer Ebene unzulässig sind. Aufgetaucht sind gewisse „Diener (Ordinierte – die Redaktion) und religiöses Personal, die erstmals die Vornahme von Gottesdiensten, anderen religiösen Riten und Zeremonien sowie die Durchführung einer missionarischen oder Lehrtätigkeit auf dem Territorium der Russischen Föderation beginnen“. Am 3. Oktober beginnt der Staat teilweise, die Tatsache an sich zu kontrollieren und zu reglementieren (sprich: zu erlauben oder nicht zu erlauben), wer ein Recht hat, Gottesdienste vorzunehmen, religiöse Riten und Zeremonien zu zelebrieren und auch einen Glauben zu verbreiten (eine missionarische Tätigkeit vorzunehmen). Das heißt: Bevor irgendwer dem Nächsten den eucharistischen Kelch reicht oder ein Gebet zelebriert, Zeilen aus der Heiligen Schrift von der Kirchenkanzel aus vorliest oder den Mund in einem Kirchenchor aufmacht, muss er einen Bescheid vorlegen, dass er nicht in ausländischen Bildungseinrichtungen (Zentren) ausgebildet wurde oder eine entsprechende Umschulung in einer lizensierten Bildungseinrichtung mit einem akkreditierten staatlichen Programm in Russland absolvierte. Und es muss mir keiner sagen, dass es so etwas nicht geben wird. Eine Waffe kauft man, um aus ihr zu schießen und nicht zum Dekorieren einer Wand. Für die tausenden protestantischen Gemeinden, in deren Theologie die Grenze zwischen dem „Klerus und den Weltlichen“ eine bedingte ist und ein generelles Priestertum aller Gläubigen proklamiert wird, sind diese Bestimmungen mehr als aktuelle.

Eine noch tückischere Norm dieses Gesetzes ist die Ersetzung des Begriffs „Mitglied einer religiösen Organisation“ durch „Teilnehmer“ ohne eine klare Definition, wer solch ein Teilnehmer ist, und mit einer Verstärkung der Verantwortung der jeweiligen Organisation für ihre Teilnehmer. Heute beschwichtigt man uns, dass ein Teilnehmer angeblich kein anderer als ein Gründer einer religiösen Organisation ist. Es besteht aber schon kein Glauben an solchen Auslegungen. Schließlich hatte sich der Präsident zweimal von hohen Tribünen aus und vor Fernsehkameras über die Verfolgung der „Zeugen Jehovas“ (eine entsprechend der offiziellen Lesart in Russland verbotene extremistische Organisation) mit den Worten „das ist irgendein Unsinn“ geäußert. Die Rechtsschutz- und Gerichtsorgane haben aber entschieden, dass dies kein Unsinn sei. Und mehrere hundert Anhänger dieser religiösen Lehre sind entsprechend von Extremismus-Paragrafen verurteilt worden (in den meisten Fällen zu mehrjährigen Haftstrafen – Anmerkung der Redaktion). Wir werden auf kompetente Mitarbeiter in unseren Gotteshäusern warten, die „aufs Neue erläutern werden“, dass derjenige, der gekommen ist und am Gottesdienst teilnimmt, auch eben jener Teilnehmer ist. Und was nicht alles für Menschen in Kirchen, Moscheen, Gebetshäuser und Synagogen kommen. Einige gar, wie es heißt, mit besonderen Aufträgen.

Zu noch einem Ereignis, dass die gegenwärtige Sphäre der Beziehungen von Staat und Kirchen in Russland transformierte, wurde die Entscheidung über die Anerkennung von vier Organisationen aus Lettland und der Ukraine mit dem Namen „Neue Generation“ als unerwünschte und dementsprechend über das Verbot ihrer Tätigkeit und der Arbeit ihrer Vertreter auf dem Territorium der Russischen Föderation. Früher hatte ich bereits für die „NG“ kommentiert, dass dies noch eine Aktion zur Einschüchterung und ein Hebel zur Einflussnahme auf den Block der evangelischen Kirchen, der Kirchen der Pfingstbewegung, die irgendwann einmal irgendeine Zusammenarbeit mit Pastor Alexej Ledjajew haben oder hatten, sei. Am 16. September wurde auf der Internetseite des Zentralen Stadtgerichts der Stadt Kemerowo die Entscheidung über die Anerkennung des Buchs von Ledjajew „Die neue Weltordnung“ als ein extremistisches veröffentlicht. Die Gerichtsverhandlung hatte stattgefunden, und das Urteil wurde bereits am 2. August gefällt. Der Grund für eine solch späte Veröffentlichung der Materialien liegt auf der Hand – den Anwälten nicht zu erlauben, Berufung einzulegen. Ich denke, dass die Berufung um ein Mehrfaches überzeugender als die Gutachten der vom Gericht berufenen Experten und aller Argumente der Anklage gewesen wäre.

Ich war mehrfach bei Gerichtsverhandlungen als Verteidiger oder Experte zugegen gewesen. Die wichtigste Handlung aus der Sicht des Prozederes sind die Anwesenheit des Beklagten oder seiner Vertreter und natürlich dessen ordnungsgemäße Benachrichtigung über die Tatsache der Klageerhebung gegen ihn und der Ansetzung der Gerichtsverhandlung. Ja, und nun lesen wir in dieser Entscheidung (aus Kemerowo): „Der Beklagte A. S. Ledjajew war zur Gerichtsverhandlung nicht erschienen. In den Materialien der Angelegenheit ist ein Bescheid, wonach A. S. Ledjajew in die Liste derjenigen aufgenommen worden ist, denen die Einreise auf das Territorium der Russischen Föderation untersagt worden ist (Blatt 33 der Angelegenheit)“. Was bedeutet dies? Das bedeutet, dass keiner vorsätzlich beabsichtigt hatte, Ledjajew zu benachrichtigen. Und alle Prozeduren wurden im Geheimen abgewickelt.

Überhaupt werden die Körperbewegungen um die Religionspolitik in unserem Land immer mehr zu solchen, die einer Face ähneln. Man könnte sich mit Popcorn eindecken und zuschauen. Die Sache ist aber die, dass die Bürger Russlands in der einen oder anderen Weise gläubige Menschen sind. Und früher oder später werden die Tänze mit dem gesetzgeberischen Tambourin jeden von uns tangieren. Die Situation ähnelt der Beschreibung in der (alttestamentlichen) Bibelschrift des Propheten Daniel: Anfangs war es praktisch verboten gewesen zu beten. Danach wurde allen befohlen, sich nicht vor dem eigenen Gott zu verneigen, sondern nur vor einem vom Staat bestimmten Standbild (gemeint ist das Buch Daniel, Kapitel 3 – Anmerkung der Redaktion). Eben so sieht die Konzeption für die Beziehungen von Staat und Konfessionen (in Russland) aus.