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Ändert sich im Westen die Haltung zum Konflikt in der Ukraine?


In amerikanischen und europäischen Medien sind Veröffentlichungen aufgetaucht, die die russischen Medien – vor allem die staatlichen – unter der angenommenen Rubrik „Der Westen fängt an, die Dinge richtig zu sehen“ zitieren. So schreibt der langjährige Autor der Zeitung „The New York Times“ Ross Douthat in seiner Kolumne „We Can’t Be Ukraine Hawks Forever“ (deutsch: „Wir können nicht für immer Ukraine-Falken sein.“ — https://www.nytimes.com/2022/06/04/opinion/ukraine-russia-putin-war.html) über die Perspektiven für die Entwicklung des Konflikts. Der Autor ist der Auffassung, dass dessen Einfrieren eines der realsten Szenarios direkt jetzt sei. Und dies bedeute nach seiner Auffassung, dass die USA aufhören müssten, einfach einen Scheck nach dem anderen für die Ukraine auszustellen und es mit Waffen zu versorgen. Washington müsse, wie Douthat annimmt, Kiew in Richtung der „realistischsten und nicht ambitioniertesten Militärstrategie“ pushen. Überdies müsse, wie ihm scheint, die Bürde der finanziellen Hilfe für die Ukraine mit den europäischen Partnern geteilt werden.

Die deutsche Tageszeitung „Die Welt“ veröffentlichte ihrerseits ein Interview mit dem US-amerikanischen Historiker und Spezialisten für internationale Beziehungen Edward N. Luttwak (https://www.welt.de/kultur/plus239184309/Strategie-Experte-Luttwak-Der-einzige-Weg-raus-aus-diesem-Krieg.html). Auf russischen Nachrichten-Internetseiten wird er als Berater des Pentagons und State Departments bezeichnet. Augenscheinlich, um den Status seiner Äußerungen zu erhöhen. Wie dem nun auch immer sein mag, Luttwak rief dazu auf, im Donbass neue Referenda unter Kontrolle internationaler Beobachter durchzuführen. „Und auch die Ukraine kann so ein demokratisches Vorgehen nicht ablehnen. Sie kann sich nicht weigern, den Menschen eine Wahl zuzugestehen“, sagt er. Nach seiner Meinung würde dies helfen, den Konflikt zu beenden.

Es ist klar, dass die ausgewiesenen Publikationen keinerlei Paradigma-Wechsel in den Bewertungen des Problems der Ukraine im Westen belegen. Die „Falken“, wie sie Douthat bezeichnet, wobei er sich in der US-amerikanischen politischen Lexik artikuliert, sind bisher doch mehr. Man kann eher davon sprechen, dass sowohl die USA als auch die europäischen Länder zu einer wichtigen Linie gelangen, an der sie sich selbst hinsichtlich der Strategie festlegen müssen. Allmählich geht jene Zeit zu Ende, in der sich die Gesellschaft bei den Herrschenden nicht für den Preis der Unterstützung für Kiew interessiert und bereit ist, jegliche Maßnahmen zu billigen – vor allem aufgrund des Schocks, der durch den eigentlichen Konflikt und die Berichterstattung über ihn ausgelöst wurde.

Ein Einfrieren des Konflikts ist wirklich eine durchaus reale Perspektive. In diesem Fall geraten auch die der Ukraine bereitgestellten Geldern und die gelieferten Waffen in einen Trichter – und kommen nicht zurück. Man bezahlt Kiew einfach für eine „Zügelung Putins“. Kann sich dies die amerikanische Wirtschaft in einer Perspektive von mehreren Jahren erlauben? Dies ist zu bezweifeln. Können sich dazu Berlin, Paris, Rom und selbst London entscheiden? Dies ist gleichfalls zu bezweifeln. Ross Douthat ist vergebens der Annahme, dass die europäischen Hauptstädte keinerlei Bürde auf ihren Schultern tragen würden. Die Länder der EU nehmen ukrainische Flüchtlinge auf, was eine humanitäre Krise heraufbeschwören kann. Und Europa hat auch die Hauptlast der Folgen der Lebensmittelkrise zu tragen und die Einwandererwellen aufzunehmen, wenn das katastrophale Szenario in der einen oder anderen Weise realisiert wird.

Neue Referenda, wobei nicht nur im Donbass, sondern auch in den Verwaltungsgebieten Cherson und Saporoschje, sind ebenfalls real. Ein angenommen, dass solche Plebiszite erfolgten. Und einmal angenommen, dass sich die meisten ihrer Teilnehmer für einen Beitritt der Gebiete zur Russischen Föderation ausgesprochen haben. Im Westen wird man wie auch in Kiew die Ergebnisse solcher Volksabstimmungen wohl nicht anerkennen. Sie wird aber Moskau anerkennen. Und dies wird wahrscheinlich bedeuten, dass es jegliche militärischen Handlungen auf solchen Territorien als eine unmittelbare Bedrohung für Russland, als einen Überfall auf Russland ansehen wird – mit allen Konsequenzen. „Konsequenzen“ für den Westen sind insbesondere ein vollwertiger großer Konflikt mit der Russischen Föderation, dessen Perspektiven sehr schwer abzuschätzen sind. Die Staats- und Regierungschefs der NATO-Länder haben in den letzten Monaten ständig unterstrichen, dass dies jene sogenannte rote Linie sei, die sie nicht zu übertreten bereit seien.

Rund um den Konflikt in der Ukraine hatte es von Anfang an sehr wenig Diplomatie gegeben. Ihre Sprache machte der Sprache der Politik Platz, dem Sammeln von Punkten. Und daher ist es jetzt für ausnahmslos alle schwer, einen Rückzieher zu machen, solch einen „Rückzieher“ als einen Sieg und nicht als eine Niederlage darzustellen. Die Logik der Entwicklung des Konflikts ist jedoch solch eine, dass zu irgendeinem Zeitpunkt einfach kein Raum für eine Vorwärtsbewegung bleiben kann.