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Angstmache in Russland


Die vergangene Woche wird wohl in die Geschichte der russischen Justiz als eine besondere eingehen. Geprägt wurde diese von Entscheidungen, die viele Fragen aufwerfen und solche Wertungen für Richter Russlands wie „gnadenlos“, „kremlhörig“ oder „inhuman“ und „ungerecht“ hervorriefen. Es geht um drei harte Urteile, aber mit verschiedenem Hintergrund.

Begonnen hatte es mit der Berufungsverhandlung im Fall des bekannten Oppositionspolitikers Wladimir Kara-Mursa. Der einstige Fernsehjournalist wurde am 17. April dieses Jahres aufgrund angeblichen Landesverrates und der Verbreitung von Fakes über die russische Armee zu 25 Jahren strenger Lagerhaft verurteilt. In einem unfair geführten Prozess im berüchtigten Moskauer Basmany-Stadtbezirksgericht hatten er und seine Verteidiger keine Chance auf einen Freispruch. Ungeachtet der geringen Erfolgsaussichten wurde Berufung gegen das auch international kritisierten Urteil eingelegt, die jedoch am Montag von den zuständigen Richtern abgeschmettert wurde, wobei das Strafmaß beibehalten wurde (die bisher höchste Haftstrafe gegen einen Regimekritiker in Russland). Ähnlich erging es dem einstigen Pressejournalisten Iwan Safronow. Im letzten möglichen Berufungsverfahren bestätigte das Oberste Gericht Russlands am 2. August, dass die Haftstrafe von 22 Jahren strenger Lagerhaft aufgrund angeblicher Spionage für einen westlichen Geheimdienste (der inzwischen 33jährige Moskauer soll militärische Informationen an tschechische Geheimdienste weitergegeben haben) rechtens sei. Safronow hatte sicherlich auch mit der Vorahnung hinsichtlich solch eines Ausgangs der Verhandlung auf eine persönliche Teilnahme an ihr verzichtet und blieb in seiner Strafkolonie in der Krasnojarsker Verwaltungsregion.

Genauso wie in den ersten beiden Fällen erfolgte der Prozess gegen Oppositionspolitiker und Kremlgegner Alexej Nawalny auch hinter verschlossenen Türen. Freilich unter erschwerten Bedingungen, denn die Verhandlungen zu den insgesamt sieben Punkten der Anklage wegen Extremismus erfolgten direkt in der Strafkolonie Nr. 6 in Melechowo des Verwaltungsgebietes Wladimir (ca. 260 Kilometer von Moskau entfernt), in der der 47jährige eine Haftstrafe nach seinem 2. Prozess verbüßt. Schon der Prozessauftakt am 19. Juni machte deutlich, dass mit dem ungut bekannten Richter Andrej Suworow wenig Chancen auf eine unvoreingenommene Behandlung der Anklageschrift bestehen. Für die Verteidiger war es kein leichtes Arbeiten in dem Prozess, da viele ihrer Zeugen nicht zugelassen wurden und fast alle Anträge abgewiesen wurden. Und am Freitag, kurz vor Abschluss der Arbeitswoche erfolgte nun der Urteilsspruch. 19 Jahre Haft in einem Lager mit besonderen Haftbedingungen. Ein Jahr weniger als die Anklage gefordert hatte. Überdies wurden vier Episoden der Anklage – über eine Rehabilitierung des Nazismus, Involvierung von Minderjährigen in die Verübung gefährlicher Handlungen, Bildung einer NGO, die die Rechte der Bürger antastet, und Extremismus-Aufrufe – ausgeschlossen.

Die Reaktionen auf dieses Nawalny-Urteil sind ein Spiegelbild der heutigen Situation in Russland und waren zu erwartende. Der Friedensnobelpreisträger und Chefredakteur der „Novaya Gazeta“, Dmitrij Muratow, bezeichnete beispielsweise das Urteil als „vollkommenen Irrsinn“. Kira Jarmysch, Pressesekretärin von Alexej Nawalny, erklärte: „Ich habe keine Illusionen hinsichtlich der Gerichte in Russland. Ich habe selbst so etwas durchgemacht. … Dies ist kein Vorführ-Stück wie früher, dies ist eine absolute Fiktion“. Zusammen mit Ruslan Schaweddinow und Georgij Alburow vom Nawalny-Team hatte sie am Freitag einen Live-Stream auf YouTube organisiert, um aktuell über das Urteil gegen den Oppositionspolitiker zu informieren. Auffällig war dabei, dass die Anzahl derjenigen, die die Berichterstattung verfolgten, etwa im Bereich von gerade einmal 8.000 Zuschauern lag. Noch ein deutliches Indiz dafür, dass Alexej Nawalny für die meisten Menschen in Russland heute kein Thema mehr ist. Vergessen ist der 17. Januar 2021, als der Kremlgegner nach Russland zurückkehrte und sofort festgenommen wurde, was zu kurzzeitigen spontanen Protesten führte. Die politische Situation hat sich vor allem mit Beginn der sogenannten militärischen Sonderoperation Russlands in der Ukraine schlagartig verändert. Im Schnellverfahren wurden Gesetze verabschiedet, die viele Verfassungsartikeln komplett aushebeln. Daher auch die Worte des linksradikalen Politikers Sergej Udalzow, der selbst Haftstrafen für seine politischen Aktionen verbüßte: „Es muss eingestanden werden, dass das Urteil ein zu erwartendes war. Nawalny ist heute eine Geißel des existierenden Regimes“. Lapidar und beinahe gleichgültig wirkten die Worte des russischen Ex-Präsidenten und heutigen stellvertretenden Vorsitzenden des russischen Sicherheitsrates, Dmitrij Medwedjew: „Sic fata voluerunt“ („So wollte es das Schicksal“).

Alexej Nawalny weiß sehr wohl um diese Atmosphäre im Land, will sich aber nicht damit abfinden. Daher kommentierte er das Urteil mit folgenden Worten: „19 Jahre in einer Kolonie mit einem besonderen Regime. Die Zahl spielt keine Rolle. Ich verstehe sehr gut, dass ich wie viele politische Gefangene eine lebenslange Haftstrafe verbüße“. Dabei sei das Strafmaß nicht für ihn selbst gedacht, betonte Nawalny, sondern richte sich gegen die Menschen, um ihnen Angst zu machen. „Sie wollen Euch dazu bringen, Euer Russland kampflos dieser Bande von Verrätern, Dieben und Schurken zu überlassen, die die Macht an sich gerissen haben“, sagte er laut dem in sozialen Netzwerken verbreiteten Statement Nawalnys. „Putin sollte seine Ziele nicht erreichen. Verliert nicht den Willen zum Widerstand“.

Nicht nur in Russland wurde das harte Urteil gegen Alexej Nawalny kommentiert und kritisiert. Auch im Ausland. EU-Ratspräsident Charles Michel schrieb auf Twitter, dass das neueste Urteil in einem weiteren Scheinprozess inakzeptabel sei. „ich bekräftige die Forderung der EU nach der sofortigen und bedingungslosen Freilassung von Herrn Nawalny“. Die bundesdeutsche Außenministerin Annalena Baerbock, deren Ansehen in der russischen Öffentlichkeit durch die offiziellen Medien, aber auch durch ihre eigenen Handlungen stark angeschlagen ist, meinte, dass das Nawalny-Urteil „blankes Unrecht“ sei. Putin „wird damit kritische Stimmen nicht zum Schweigen bringen“, schrieb die Ministerin am Freitag auf Twitter. Die Europäische Union verurteile den Schuldspruch scharf, teilte ein Sprecher des EU-Außenbeauftragten Josep Borrell mit. Die EU bedauere außerdem zutiefst, dass die Gerichtsverhandlungen unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattgefunden hätten. „Herr Nawalny ist ein weiteres Beispiel für das anhaltende systematische Vorgehen der russischen Behörden und ihre Missachtung der Menschenrechte ihrer eigenen Bürger“, hieß es aus Brüssel.

Kara-Mursa, Safronow, Nawalny… Die Aufzählung der politisch verfolgten Russen kann man beginnen, doch sie ist extrem umfangreich und findet vorerst kein Ende. Dieser Tage wurde bekannt, dass Igor Baryschnikow aus dem Verwaltungsgebiet Kaliningrad, der am 22. Juni wegen der angeblichen Verbreitung von Fakes über die russische Armee zu siebeneinhalb Jahren Lagerhaft verurteilt worden war, in eine Krankenstation des Föderalen Dienstes für den Strafvollzug verlegt wurde. Sein Gesundheitszustand hatte sich drastisch verschlechtert, zumal der Verdacht besteht, dass er an Krebs leidet. Für die Richterin in seinem Prozess war dies kein Hindernis, eine Haftstrafe zu verhängen. Und in Petersburg muss die 32jährige Künstlerin Alexandra Skotschilenko fast zwei Monate auf die nächste Verhandlung in ihrem Prozess warten, da die zuständige Richterin offenkundig mit anderen Strafverfahren überlastet ist. Skotschilenko hatte nach Beginn der militärischen Sonderoperation in einem Supermarkt der Newa-Metropole vier Preisschilder gegen Sticker mit Informationen über den Verlauf des Ukraine-Krieges ausgetauscht. Dafür wurde sie im April vergangenen Jahres in U-Haft genommen, obgleich sie unter mehreren Krankheiten leidet, die hinter Gittern nicht adäquat behandelt werden können.

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Sicher muss man bei einem genaueren Betrachten der eingangs erwähnten Urteile verstehen, dass es zum Beispiel im Fall von Iwan Safronow um eine Person geht, die militärische Informationen gegen Barzahlung an ein NATO-Land geliefert hatte, wie es in der Anklage hieß. Mit dem Auftraggeber gab es keinen offiziellen Vertrag, und Steuern wurden nicht an den russischen Fiskus abgeführt. Für die Richter war es also ein typischer Spionagefall. Wahrscheinlich hätten dies auch bundesdeutsche Richter so gesehen, obgleich das Urteil eventuell milder ausgefallen wäre. Aber Russland sieht sich gegenwärtig vom Prinzip her in einem Kriegszustand mit dem Westen.

Was Alexej Nawalny angeht, so ist es sicherlich eine Übertreibung, ihn als einen Oppositionsführer zu bezeichnen. Obgleich Anfang des Jahres 2021 seine Popularität stark zugenommen hatte. Umfragen des unabhängigen Meinungsforschungsinstituts Levada-Zentrum zeigten, dass er damals unter russischen Politikern auf dem sechsten Platz hinsichtlich der Popularität lag. Ungeachtet der nach wie vor unklaren Umstände seiner angeblichen Vergiftung, wobei eine Beteiligung westlicher Geheimdienste nicht ausgeschlossen werden kann, sowie sein mit deutschen Geldern produzierter investigativer Report über ein angebliches Putin-Schloss im Süden Russlands billigten 19 bis 20 Prozent der befragten russischen Bürger die Nawalny-Tätigkeit. Im Jahr 2013 waren es nur ganze fünf Prozent. Klar ist, dass der heute 47jährige Oppositionspolitiker für die Herrschenden damals recht gefährlich gewesen war. Ein angeblicher Umsturzversuch von 2012 nach dem neuen Machtantritt Putins war ein deutliches Signal, so dass im Verlauf der nunmehrigen Konfrontation mit dem Westen der Kreml bestrebt ist, eine Wiederholung von Derartigem zu vermeiden. Und vor allem dies ist der Grund der gerichtlichen Verfolgung Nawalnys, um ihn gänzlich aus dem politischen Leben des Landes zu eliminieren. Was heute offenkundig auch Wirkung zeigt.

Hinsichtlich der generellen Härte der Urteile in Russlands Gerichten ist nicht zu übersehen: Sie, diese Härte, hängt vor allem mit den Ereignissen in der Ukraine zusammen. Die gefällten Urteile sollen nicht erzieherisch, sondern abschreckend wirken.