Unabhängige Zeitung

Private Tageszeitung

Armenien hat Angst um die „Trasse des Lebens“ bekommen


Die Offiziellen Armeniens sind über die Beanstandungen Russlands in Bezug auf die Agrar-Erzeugnisse der Republik beunruhigt. Allein in nur drei Tagen haben die (russischen) Inspektoren so viele Verstöße festgestellt, wie sie in den vorangegangenen elf Monaten finden konnten. Am Grenzübergang „Werchnij Lars“ warten hunderte Laster mit armenischen Waren auf Erlaubnisse zur Weiterfahrt. Bis Ende der Woche sollten Vertreter beider Länder das Problem im Rahmen der Eurasischen Wirtschaftskommission erörtern. In Jerewan hegt man den Verdacht, dass dies eine Antwortreaktion Moskaus auf den Verzicht von Vertretern Armeniens auf eine Teilnahme an Veranstaltungen im Rahmen der GUS und der Organisation des Vertrags für kollektive Sicherheit (OVKS) sein könne.

Dmitrij Peskow, der Pressesekretär des russischen Präsidenten, erklärt: „Armenien ist ein befreundetes Land. Dies ist unser Verbündeter. Wir werden weiterhin unsere Bündnisbeziehungen entwickeln“. In der Praxis ist es jedoch um die Angelegenheiten nicht so gut bestellt, wie man dies gerne hätte.

Laut Angaben der russischen Aufsichtsbehörde für den Landwirtschaftsbereich Rosselchosnadzor sind seit Beginn dieses Jahres 72 Fälle eines Auftretens von Quarantäne-Organismen in Blumen sowie Obst- und Gemüseerzeugnissen aus der Republik Armenien festgestellt worden. Dabei haben die Spezialisten allein vom 24. bis einschließlich 26. November 36 Fakten festgestellt. Mitarbeiter der Aufsichtsbehörde haben gleichfalls 5mal ein Überschreiten der maximal zulässigen Werte für Restbestände an Pestiziden in Tomaten, Erdbeeren, Äpfeln und Weintrauben ermittelt. In Rosselchosnadzor ist man der Auffassung, dass dies von einem Verstoß gegen die Regelwerke für den Einsatz von Giftstoffen durch die Erzeuger zeugen könne. Im Zusammenhang damit hat man dort erklärt, dass die armenischen Waren eine Gefahr für das phyto-sanitäre Wohlergehen Russlands schaffen würden.

Die Inspektionsbehörde für die Lebensmittelsicherheit Armeniens hat die drastische Zunahme von Fällen von Verstößen als besorgniserregend angesehen. Dort räumte man ein, dass in den letzten Tagen die Überprüfungen im gewohnten Regime durchgeführt worden seien. Aber die Anzahl der Zwischenfälle hat sich als so eine große, wie insgesamt in den vorangegangenen elf Monate erwiesen. Die armenischen Inspektoren haben versprochen, sich Klarheit über das Problem zu verschaffen, betonten aber, dass sie mit einer konsequenten und unvoreingenommenen Zusammenarbeit seitens der russischen Kollegen rechnen würden.

Armeniens Wirtschaftsminister Vaan Kerobjan schickte sich an, das Problem mit Vertretern Moskaus, darunter im Rahmen der Eurasischen Wirtschaftskommission zu erörtern. Eine entsprechende Beratung soll in der nächsten Zeit stattfinden. Nach Aussagen des Ministers müsse man verstehen, was sich in den Regelungen verändert habe, da die Erzeugnisse nicht schlechter geworden seien. Kerobjan unterstrich, dass Jerewan sich bemühe, qualitativ hochwertige Erzeugnisse zu exportieren, die man in verschiedenen Richtungen ausführen könne. Im Zusammenhang damit erinnerte er daran, dass armenische Hersteller an Ausstellungen in China, der Europäischen Union und in den USA teilnehmen würden, um neue Absatzmärkte zu erschließen. Ihm erscheinen gleichfalls die Länder der Region des Persischen Golfs als attraktive.

Seinerseits erklärte der Chef des Apparats der Regierung Armeniens, Araik Arutjunjan, dass selbst eine komplette Schließung der Grenzübergangsstelle „Werchnij Lars“ die Republik nicht treffen werde, wenn die Armenier in der ganzen Welt beginnen würden, nur nationale Erzeugnisse zu konsumieren. „Eine derartige Unterstützung des Business und der Steuerzahler ist ein lebenswichtiger Schritt für die Verstärkung der Unabhängigkeit und Souveränität“, unterstrich Arutjunjan. „Auf den Silvester- und Weihnachtstischen müssen ausschließlich armenisches Gemüse, Früchte, Wein, Cognac und andere Agrarerzeugnisse sein“.

Derweil nehmen die armenischen Medien an, dass die Handlungen von Rosselchosnadzor mit der Ablehnung von Premierminister Nikol Paschinjan, den jüngsten Summit der OVKS in Minsk zu besuchen, zusammenhängen könnten. Armeniens Parlamentschef Alen Simonjan erwägt auch solch eine Variante, appelliert aber, mit den Schlussfolgerungen nichts zu übereilen. „Ich schließe nicht aus, ich wiederhole: Ich schließe nicht aus, dass es da etwas Politisches geben kann… Haben Sie etwa nicht bemerkt, dass die politischen Beziehungen etwas angespannte sind?“, sagte Simonjan.

Die Vertreter des Agrarsektors von Armenien schlagen Alarm. Wie Gagik Agadschanjan, Direktor des großen armenischen Transport- und Logistik-Unternehmens „Apaven“, berichtete, werde die Schließung der Grenzübergangsstelle „Werchnij Lars“ eine Einstellung der armenisch-russischen Beziehungen bedeuten, da dies der Hauptkanal für den Handel zwischen den Ländern sei. Dabei werde Jerewan nicht nur aufgrund dessen leiden, dass es seine Erzeugnisse nirgendwohin verkaufen werde, sondern auch aufgrund dessen, dass es für die russischen Waren keinen Ersatz finden könne. „Es ist sehr schwierig, auf Märkte zu gelangen, wo niemanden etwas über deine Ware bekannt ist, während Erzeugnisse nach Russland ausgeführt werden, für die keine Werbemittel ausgegeben werden müssen. Allein nur der Markenname „armenische Aprikosen“ oder „armenischer Cognac“ reicht für den Absatz. Probieren Sie aber jetzt einmal, diesen Cognac nach China zu liefern. Dort wird niemals solch ein Umfang wie in Russland verkauft werden, dessen Bevölkerung zehnmal geringer ist“, erläuterter der Unternehmenschef.

Wie der „NG“ der Leiter des Analytischen Zentrums für strategische Studien und Initiativen, Aik Chalatjan, sagte, habe Moskau Jerewan schon lange gewarnt, dass sich dessen politischen Schritte auf die Wirtschaftskontakte auswirken könnten. „Die gegenwärtige Situation wurde zu einer Reaktion der russischen Offiziellen auf den Boykott der Treffen im Rahmen der GUS und der OVKS durch die armenische Führung. Das ernsthafte Wirtschaftswachstum in Armenien, das wir in den letzten Jahren beobachten, ist durch die Mitgliedschaft der Republik in der Eurasischen Wirtschaftsunion bedingt worden. Außerdem haben die Erfahrungen Georgiens gezeigt, dass es recht schwierig ist, sich auf andere Märkte umzuorientieren. Für Armenien wird es schwer werden, Russland zu ersetzen und umso mehr dies innerhalb einer kurzen Zeit zu tun. Ein Andauern der Krise in den armenisch-russischen Beziehungen kann der armenischen Wirtschaft einen spürbaren Schaden zufügen“, meint Chalatjan.

Es sei daran erinnert, dass im Jahr 2021 der Umfang des Handels zwischen Russland und Armenien 2,6 Milliarden Dollar ausmachte. Im Jahr darauf überstieg er fünf Milliarden Dollar, und in den ersten sieben Monaten dieses Jahres erreichte er bereits 3,7 Milliarden Dollar. Dabei ist die russische Richtung für den armenischen Export die vorrangige – 44 Prozent vom Gesamtumfang der Lieferungen ins Ausland. Jerewan liefert vor allem Alkohol und Nahrungsmittel. Bemerkenswert ist, dass im Jahr 2021 das BIP Armeniens um 5,8 Prozent wuchs, im Jahr 2022 – um 14,2 Prozent. Und entsprechend den Ergebnissen dieses Jahres wird eine Zunahme um sieben Prozent erwartet.

Nikolaj Silajew vom Institut für internationale Studien der Moskauer Diplomatenhochschule MGIMO räumt ein, dass die Probleme an der Grenze durch technische und nicht durch politische Schwierigkeiten ausgelöst werden konnten. „Die Lieferumfänge sind große. Es ist durchaus möglich, dass man da etwas nicht richtig kalkulierte“, sagte der Experte der „NG“.

Zur gleichen Zeit versteht er nicht, wie Jerewan vorhabe, seine Beziehungen mit Russland zu gestalten. „Es herrscht da solch eine Empfindung, dass selbst die armenischen Offiziellen nicht begreifen, wie sie vorhaben, den Abbruch der Zusammenarbeit im politischen Bereich mit einer Fortsetzung der Zusammenarbeit im Wirtschaftsbereich zu verbinden. Wenn Armenien dem Beispiel Georgiens folgen möchte, so muss es aus der Eurasischen Wirtschaftsunion austreten“, nimmt Silajew an. „Die eurasische Integration setzt ein großes gegenseitiges Vertrauen der Teilnehmer dieses Prozesses voraus. Wenn die armenische Seite Moskau beispielsweise in Sicherheitsfragen nicht vertrauen kann, kann dies ein Problem sein“.