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Armeniens 5. Präsidenten wird Nikol Paschinjan ernennen


Armeniens Präsident Armen Sarkisjan, der am Sonntagabend seinen Rücktritt erklärte, hat zu verstehen gegeben, was ihn gerade gezwungen hatte, diesen Schritt zu gehen. In der Rücktrittserklärung betonte er, dass „die Verfassung ihm keine Möglichkeit gibt, die politischen Ereignisse im Land zu beeinflussen“. Jedoch kann sich nicht alles tatsächlich so einfach erweisen: Sarkisjan war nicht den ersten Tag lediglich mit repräsentativen Funktionen ausgestattet worden, sondern vom ersten Tag seiner Präsidentschaft an, seit 2018.

„Meine Entscheidung ist keine emotionale, sondern folgt einer bestimmten Logik… Wir leben in einer einmaligen Realität, in der der Präsident die Fragen von Krieg oder Frieden nicht beeinflussen kann, kein Veto gegen Gesetze, die er für den Staat als unzweckmäßige ansieht, einzulegen vermag“, erklärte beim Abschiednehmen der vierte Präsident Armeniens.

Sein Rücktritt war gleichzeitig ein überraschender und gesetzmäßiger. In den ersten Stunden nach der Rücktrittserklärung des Staatsoberhauptes wurden Vermutungen hinsichtlich bevorstehender schwerer Ereignisse laut, für die Armen Sarkisjan keine Verantwortung übernehmen möchte. Unter solchen verstehen die Autoren dieser Version die Notwendigkeit der Unterzeichnung von Dokumenten, die den Interessen Armeniens widersprechen, neue Zugeständnisse, die eine Folge des 44-Tage-Krieges gegen Aserbaidschan sind, oder irgendwelche andere Umstände, die für den Präsidenten inakzeptabel sind. Anlass für die pessimistischen Vermutungen hatte auch der Text selbst gegeben, der die Rücktrittserklärung begleitete und Erwähnungen über eine gesamtnationale Krise enthielt. Seine Rolle hatte auch das zeitliche Zusammentreffen der Entscheidung von Armen Sarkisjan mit dem Beginn armenisch-türkischer Verhandlungen, aber auch mit dem zu erwartenden Prozess der Delimitation und Demarkation der armenisch-aserbaidschanischen Grenze, die zu den wichtigsten Themen für hitzige Diskussionen im Land geworden waren, gespielt. Dabei war in der öffentlichen Reaktion auf den Abtritt die allgemeine Besorgnis mit den Vorwürfen verbunden, wonach dem Präsidenten ein schwacher Charakter und die Unfähigkeit, Entschlossenheit und Willen an den Tag zu legen, vorgeworfen wurde.

Aber jegliche Versuche von Armen Sarkisjan, sich an der Lösung wichtiger staatlicher Probleme zu beteiligen, unter anderem durch das Einbringen der eigenen Erfahrungen auf dem Gebiet der Außenpolitik, wurden tatsächlich von der exekutiven Gewalt ab den ersten Tagen nach den revolutionären Veränderungen vom Frühjahr 2018 kategorisch zurückgewiesen. In den letzten Monaten war eine besondere Aktivität des Präsidenten zu beobachten. Er hatte mehrere konzeptuelle Interviews ausländischen Medien gewährt sowie Länder des arabischen Ostens besucht. Wobei er hinsichtlich der Ergebnisse der letzteren buchstäblich vor wenigen Tagen optimistische Erklärungen über die Perspektiven für eine Zusammenarbeit abgab. Dies veranlasst zu der Schlussfolgerung, dass die von ihm erzielten Vereinbarungen durch die Regierung abgelehnt wurden, faktisch aber durch Premierminister Nikol Paschinjan, der dazu geneigt ist, allein alle Entscheidungen zu treffen. Und der „übermäßige“ Initiativreichtum hatte äußersten Unmut ausgelöst. Solch ein Ergebnis konnte zu einem ernsthaften Schlag bereits gegen das internationale Ansehen und die Kontakte von Sarkisjan werden, die er sehr schätzt.

Aufmerksamkeit erregen noch zwei Fakten: Erstens, die endgültige Entscheidung über den Rücktritt hatte der Präsident in London getroffen, wo seine Söhne leben und geschäftlich aktiv sind und wo er selbst seinerzeit studierte, lehrte und durch die Gewährung von Consulting-Leistungen in breiten Finanz- und Unternehmerkreisen Ansehen erlangte sowie einen Großteil seines Lebens nach der Ernennung zum Botschafter Armeniens in Großbritannien 1992 verbrachte. Und zweitens, kurz vor dem Rücktritt absolvierte Sarkisjan eine planmäßige medizinische Untersuchung. Der „Familienrat“ konnte entscheiden, dass es für einen Mann im 69. Lebensjahr nicht lohne, ohne die nötige Wirkung die Kräfte zu verausgaben, wenn man das (hohe) Alter in einem gewohnten und wohlbehaltenen Umfeld verbringen könne. Angebracht ist es, gleichfalls daran zu erinnern, dass Armen Sarkisjan bereits 1997 zurückgetreten war, damals vom Amt des Premierministers, wobei er sich im bereits erwähnten London zur Behandlung einer schweren Erkrankung befand. Er hatte damals in dieser Funktion mehrere Monate gearbeitet und sie dann dem späteren Präsidenten Robert Kotscharjan abgetreten. Dem Rücktritt war eine brisante politische Krise in Armenien vorausgegangen, in deren Ergebnis Kotscharjan Anfang 1998 an die Macht kam, wobei er den ersten Präsidenten des Landes Levon Ter-Petrosjan ablöste. Die Version über einen Zusammenhang des Rücktritts mit dem Gesundheitszustand kann sich auch auf den Wortlaut der Erklärung vom 23. Januar stützen, in der es heißt, dass Verschwörungstheorien und Mythen rund um seine Person über den Rahmen des Ethischen hinausgehen und letztlich das Wohlbefinden und Selbstgefühl Sarkisjans negativ beeinflussen würden.

Wahrscheinlich haben alle aufgezählten Faktoren die Entscheidung beeinflusst, das Präsidentenamt zu verlassen, obgleich sich damit die Aufzählung der möglichen Ursachen eventuell nicht erschöpft. Schließlich wurden der Amtsantritt und die Amtszeit für den vierten Präsidenten von nicht-trivialen Umständen begleitet. Sie wurden zu einer direkten Folge des Wunsches von Sersh Sargsjan, die Macht nach Ablauf seiner zwei Präsidentenamtszeiten zu bewahren. Mit diesem Ziel war im Jahr 2015 ein aus der Sicht der realen Ergebnisse zweifelhaftes Verfassungsreferendum durchgeführt worden, das Armenien aus einer halbpräsidialen in eine parlamentarische Republik verwandelte und Sargsjan erlaubte, sich im Jahr 2018 auf den Sessel des Premierministers zu setzen, wobei er praktisch alle Vollmachten behielt. Als ein in höchstem Maße bequemer Kandidat für das Amt des Präsidenten, der der Machthebel beraubt wurde, hatte sich Armen Sarkisjan erwiesen. Einerseits konnten seine internationalen Verbindungen und Erfahrungen die Lösung vieler Fragen fördern. Andererseits besaß er in Armenien keine politischen Stützen für einen Konkurrenzkampf um die Macht, zumal er de facto in Großbritannien lebte. Und die wenig überzeugenden Bestätigungen für das Bestehen der erforderlichen Dauer der Ansässigkeit und Staatsbürgerschaft (Sarkisjan war eine geraume Zeit lang Inhaber eines britischen Passes) hatten ihn umso mehr zu einer steuerbaren und angreifbaren Figur gemacht. Dabei hatten sich in dem früheren System, in dem alles total erfasst und kontrolliert worden war und auf dem das „gegenseitige Vertrauen“ beruhte, für den neuen Präsidenten große Möglichkeiten für eine Verbindung der eigenen Interessen im Business (und für Sarkisjan hatte es nie einen Mangel an solchen gegeben) und des Dienens der „gemeinsamen Sache“ der Leitung des Staates ergeben, ohne sich über solche Konventionen wie eine Aufteilung der verfassungsmäßigen Vollmachten Gedanken zu machen. Daher hatte augenscheinlich der Vorschlag von Sersch Sargsjan, im Jahr 2018 das angesehene Präsidentenamt unter Opferung des Lebens in London zu bekleiden, Armen Sarkisjan gefallen.

Der Verlauf der weiteren Ereignisse zerstörte aber auf grundlegende Art und Weise das „schöne“ Szenario. Sargsjan musste unter dem Druck eines mächtigen Massenprotests das Amt des Premiers aufgeben, welches er gerade erst vor zwei Woche erlangt hatte. Und Sarkisjan spielte nicht die letzte Rolle im Prozess der friedlichen Machtübergabe an Nikol Paschinjan, den Führer der damaligen Revolution. Diese Geschichte veranlasste die Liebhaber von Verschwörungstheorien, in allem Vorgefallenen eine besondere Mission des „frischgebackenen“ Präsidenten als eine „Hand der Briten“ auszumachen. Bei aller Absurdität dieser Version hatte auch Armen Sarkisjan selbst das Interesse an den Tag gelegt, eine historische Rolle im Schicksal des Landes zu spielen, indem er einen Beitrag zu dessen Erneuerung leistet. Von ihm stammt die Idee der Gestaltung einer „vierten Republik“, der das 21. Jahrhundert gehören werde. Seine Ambitionen stießen jedoch auf den harten Widerstand seitens Paschinjans, der nicht vorgehabt hatte, die Macht mit irgendwem zu teilen. Der neue Versuch Sarkisjans, seinen Status zu erhöhen, indem er die Überwindung der Staatskrise und der Spaltung in der Gesellschaft nach der Niederlage im 44-Tage-Bergkarabach-Krieg vom Herbst 2020 fördert, wurde gleichfalls von keinem Erfolg gekrönt. Die regierenden politischen Kräfte hatten nach wie vor die Initiativen für eine Kooperation bei der Führung des Landes zurückgewiesen. Und die Opposition in Gestalt der Anhänger der früheren Herrschenden verurteilte weiterhin zornig den Präsidenten wegen dessen versöhnlerischen Haltung gegenüber Paschinjan. Solch eine Atmosphäre veranlasste Armen Sarkisjan zur Rücktrittsentscheidung.

Wen sieht aber Nikol Paschinjan, der gegenwärtig aufgrund einer COVID-19-Ansteckung unter Quarantäne steht, in der Rolle des neuen Präsidenten? Für die parlamentarische Fraktion seiner Partei „Bürgervertrag“ wird es keine Mühe bereiten, dem Auserwählten ihres Führers die erforderlichen 60 Prozent an Stimmen zu sichern. Derweil kursieren in der Hauptstadt Jerewan zwei Namen – Edmon Marukjan, der Führer der Partei „Helles Armenien“ und Ararat Mirsojan, der gegenwärtige Außenminister Armeniens.