Der russische Außenminister Sergej Lawrow hat am 28. Februar bei Gesprächen mit Aserbaidschans Präsident Ilham Alijew in Baku die Hoffnung bekundet, dass das „Jahr 2023 zu einem Durchbruch“ bei der Normalisierung der Beziehungen zwischen Aserbaidschan und Armenien mit Unterstützung Russlands werde. Die Situation wird jedoch durch eine Klage Bakus gegen Jerewans belastet, die beim Internationalen Schiedsgericht mit der Forderung eingereicht wurde, den Schaden durch die widerrechtliche Ausbeutung von Lagerstätten, Energieobjekten und Ressourcen sowie die Zerstörung von Städten, Dörfern und die Infrastruktur in Bergkarabach zu kompensieren. Laut einer vorläufigen Schätzung geht es um 50 Milliarden Dollar.
Aserbaidschan hält die Nutzung von Hydroenergieressourcen Bergkarabachs durch Armenien und der Gebiete, die die armenische Seite als eine Pufferzone bezeichnete, für eine widerrechtliche. Heute hat Baku die Kontrolle über diese Gebiete wiederhergestellt und verlangt eine Wiedergutmachung für jene 30 Jahre, in deren Verlauf es selbst des Zugangs zu ihnen beraubt gewesen war.
Das Außenministerium der Republik hatte im Vorfeld des Besuches des russischen Außenministers Sergej Lawrow mitgeteilt, dass „Aserbaidschan einen zwischenstaatlichen Schiedsgerichtsprozess gegen Armenien entsprechend dem Vertrag zur Energiecharta eingeleitet hat“. In der an Jerewan gesandten Benachrichtigung über das Schiedsgerichtsverfahren „forderte die aserbaidschanische Seite von Armenien eine Wiedergutmachung des Schadens und eine finanzielle Kompensierung“. In Baku behauptet man, dass Armenien im ausgewiesenen Zeitraum gleichfalls mindestens 37 zusätzliche, nichtsanktionierte Hydroenergie-Objekte auf dem Territorium Aserbaidschans errichtet und die vorhandene Energie-Infrastruktur zerstört hätte.
Der Leiter des Politologen-Klubs „Südkaukasus“, Ilgar Velisade, sagte der „NG“, dass dies eine Reaktion der Offiziellen auf das Verlangen der Zivilgesellschaft sei, die nach dem 44-Tage-Krieg die Aufmerksamkeit auf den in diesen Jahren verursachten Schaden gelenkt hätte.
„Der materielle Schaden war sowohl im Ergebnis der Zerstörung von Städten, Dörfern und der Infrastruktur als auch aufgrund der widerrechtlichen Nutzung aserbaidschanischer Bodenschätze, Hydroressourcen u. a. zugefügt worden. Jetzt ist Aserbaidschan gezwungen, das Zerstörte wiederaufzubauen. Das Land, das die Schuld am Zufügen des Schadens trägt, muss haften. In der internationalen Praxis gibt es viele Fälle, in denen die Seite eines Konfliktes, die an einer Okkupation und Zufügung eines Schadens schuldig ist, Reparationen zahlte“, sagt der Experte. Velisade präzisierte, dass die Reparationen auf der Grundlage unterzeichneter Verträge, darunter von Friedensverträgen gezahlt worden seien. „Aserbaidschan hat bisher keinen Friedensvertrag mit Armenien. Daher ist Jerewan der Auffassung: Es gibt keinen Vertrag, folglich gibt es keine Grundlagen, um Reparationen zu zahlen. Für Baku ist dies jedoch eine prinzipielle Frage, da der Krieg auf dem Territorium Aserbaidschans geführt wurde, zerstört wurden aserbaidschanische Städte und Dörfer. Und die aserbaidschanischen Bodenschätze sind im Verlauf von 30 Jahren genutzt bzw. ausgebeutet worden. Für Baku ist es wichtig, dass der Schuldige, und dies ist natürlich Armenien, finanziell haftet“, meint Velisade. Er fügte hinzu, dass die Aktion an der Latschin-Trasse eine Reflexion auf die widerrechtliche Nutzung aserbaidschanischer Bodenschätze sei. Entsprechend einer vorläufigen Schätzung geht es um 50 Milliarden Dollar. „Diese Summe kann sich zweifellos in die eine oder andere Richtung ändern, nachdem der Fall zur Behandlung angenommen wird und internationale Experten eine zusätzliche Beurteilung des Schadens vornehmen“, denkt Velisade. Nach seiner Meinung werde die Situation endgültig klar, sobald ermittelt werde, wohin die Gelder aus der Nutzung der Erzgruben geflossen seien. Der Experte präzisierte, dass es Beweise dafür gebe, dass Jerewan und nicht Stepanakert die Situation kontrollierte.
Der armenische Politologe Armen Khanbabjan bezeichnete das Geschehen als ein zu erwartendes. „Fast gleich nach dem 44-Tage-Krieg von 2020 hatte die aserbaidschanische Seite begonnen, von „Kompensationen“ zu sprechen, heuerte eine gewisse internationale Organisation für die Beurteilung des Schadens an. Es ist klar, dass es dabei um sehr solide Summen gehen wird. Aber bis zur jüngsten Vergangenheit wurde dieses Thema nicht gepusht“, sagte Khanbabjan der „NG“. Nach seiner Meinung sei die Klage Bakus zu einer Antwort auf die jüngste Entscheidung des UN-Schiedsgerichts in Den Haag vom 24. Februar geworden, das entschieden hatte, unverzüglich den Latschin-Korridor zu de-blockieren, und zur gleichen Zeit einstimmig die aserbaidschanische Klage gegen Armenien mit der Forderung, eine „rasche, sichere und effektive Minenräumung in den Städten, Dörfern und anderen Zonen, wohin Bürger Aserbaidschans zurückkehren sollen, durchzuführen“, ablehnte.
Nach Meinung von Khanbabjan hätte Baku zu den gerichtlichen Schritten die Erklärung von Mitgliedern der UN-Arbeitsgruppe zur Bekämpfung von Söldnertum veranlassen können, wonach ihre Struktur die Tatsache einer Entsendung von Söldnern durch die Türkei und Aserbaidschan nach Bergkarabach für den Krieg bestätigte hätte, wobei diese Menschen in Spannungsgebieten angeworben worden seien. Und dies hätte ihnen erlaubt, eine legitime Bestrafung zu umgehen.
„Es versteht sich, die armenische Seite wird nicht untätig herumsitzen. Jerewan und Stepanakert haben gleichfalls ernsthafte Trümpfe. Dies ist die Zerstörung der zivilen Infrastruktur, religiöser Objekte und Friedhöfe, der massive Einsatz nichtkonventioneller Waffen gegen Militärs und die Zivilbevölkerung. Und wenn schon vom Energiebereich die Rede ist, so wie ist da das Blockieren der Gas- und Stromversorgung für Bergkarabach aus Armenien durch die aserbaidschanische Seite zu bewerten? Im Ergebnis dessen wurde den Wasserressourcen von Bergkarabach ein riesiger Schaden zugefügt, da das ganze Wasser aus den Stauseen für den Betrieb von Stromturbinen genutzt wurde. Und jetzt sind die landwirtschaftlichen Frühjahrsarbeiten sehr fraglich. Übrigens, es leiden auch zahlreiche aserbaidschanische Verbraucher. Einer Bewässerung werden zehntausende Hektar von Feldern und Weiden beraubt. Darüber hat Stepanakert Baku bereits gewarnt“, betonte Khanbabjan.
Somit geht die Situation aus der Phase einer rein gewaltsamen Konfrontation in die Phase gegenseitiger juristischer Forderungen über.