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Auf den von der ukrainischen Armee abgenommenen Territorien hat sich ein Machtvakuum herausgebildet


Im Unterschied zu den Ereignissen des eine Euphorie auslösenden „Krim-Frühlings“ von 2014 ist die am 24. Februar begonnene Sonderoperation der russischen Armee in der Ukraine zu keiner schnellverlaufenden geworden. Sie dauert bereits den 12. Tag und bringt beiden Seiten erhebliche Verluste. Wie aus den zusammenfassenden Meldungen des Verteidigungsministeriums der Russischen Föderation ersichtlich wird, ist bisher keine strategische Wende erreicht worden, auch wenn in Moskau jüngst offiziell erklärt wurde, dass man die Lufthoheit über dem ukrainischen Territorium erlangt habe. Das Verteidigungsministerium gesteht ein, dass die Truppen Verluste erleiden würde (wobei seit vergangenem Donnerstag keine offiziellen Zahlen mehr genannt wurden, während die ukrainische Vizeverteidigungsministerin Anna Maljar von mehr als 11.000 russischen Militärs am Montag sprach, die als Verluste zu beklagen seien). Festgestellt wird gleichfalls, dass die Zivilbevölkerung der Ukraine den Bürgern Russlands gegenüber oft vorsichtig eingestellt sei. Moskau versucht, das Vertrauen der Einwohner der Ukraine zu erlangen, indem es die Lieferung von Lebensmitteln und Waren des täglichen Bedarfs organisiert. Eine Woche nach Beginn der Sonderoperation wurde ein Koordinierungsstab für ein humanitäres Reagieren geschaffen. Dabei ist bisher unklar, wer ein normales Leben anbahnen und die Territorien, die unter die Kontrolle der Russischen Föderation gelangt sind, leiten soll.

Die russischen Militärs haben begonnen, auf den ukrainischen Territorien nicht nur eine militärische, sondern auch eine humanitäre Operation durchzuführen. Seit letzten Mittwoch ist die Versorgung der Gebiete mit Lebensmittel angeschoben worden, die jetzt von Russland kontrolliert werden. Am ersten Arbeitstag des Stabs für ein humanitäres Reagieren war die Vorbereitung von mehr als 10.500 Tonnen humanitärer Hilfe für Einwohner der Ukraine bekanntgegeben worden. Es handelte sich dabei vor allem um Lebensmittelpakete, aber auch Gegenstände des täglichen Bedarfs. Mitgeteilt wurde, dass man mit diesen Paketen rund eine Million Familien einmalig unterstützen könne. Lebensmittelpakete wurden in Cherson, Genitschesk und Melitopol verteilt. Auf analoge Art und Weise wollen die russischen Truppen im Verwaltungsgebiet Charkow und im Donbass agieren.

Obgleich die Absicherung von Teilen der ukrainischen Bevölkerung mit humanitärer Hilfe begonnen hat, bleibt die Frage nach der Bildung eines neuen Machtsystems in den unter russische Kontrolle gestellten Gebieten eine offene. Beispielsweise ist bisher unklar, wie die personelle Auswechselung der gegenüber der Russischen Föderation eingestellten einheimischen Führungskräfte erfolgen wird. Derzeit ist ein Teil der bisherigen Beamten geflohen. Und es ist nicht klar, wer sich mit der Anbahnung eines normalen Lebens sowie der Lösung der administrativen und kommunalen Probleme befassen wird. Dabei hat die Russische Föderation Erfahrungen aus dem Vorgehen in Tschetschenien in den Jahren 1999-2006, als gegenüber Moskau loyale Machtorgane auf den von den Rebellen befreiten Territorien installiert wurden. Unter Mitwirkung von Militärkommandanturen. Bisher liegen Informationen über die Bildung derartiger Strukturen in der Ukraine nicht vor.

Überdies können die den 12. Tag anhaltenden Kampfhandlungen die humanitären Aktionen und die Schaffung eines normalen Lebens behindern. Wie das russische Verteidigungsministerium behauptet, sei das militärische Hauptpotenzial der Ukraine untergraben worden. Doch Einheiten der ukrainischen Streitkräfte und Nationalisten-Bataillone leisten in einer Reihe von Richtungen (besonders in Charkow, Mariupol und Kiew) erbitterten Widerstand. Eine schwierige Lage herrscht in Kiew, dass die russischen Truppen bisher nicht vollkommen einkreisen konnten (auch mit dem Ziel Präsident Selenskij habhaft zu werden, wie einige Beobachter meinen, zumal er nicht die ukrainische Hauptstadt in den ersten Tagen der Operation verließ – Anmerkung der Redaktion). Für eine vollständige Blockade sind umfangreiche Kräfte erforderlich. Derzeit sind aber noch erhebliche Kräfte der russischen Armee an Charkow gebunden. Wie im Verteidigungsministerium und Außenministerium der Russischen Föderation erklärt wurde, erlaube man zahlreichen ausländischen Studenten nicht, die Stadt zu verlassen.

Im Donbass setzen die Truppengruppierungen der DVR und LVR mit Unterstützung von Einheiten der russischen Armee die Offensive in nördlicher und südlicher Richtung fort. Auch wenn die Offensive mit einem relativ moderaten Tempo erfolgt, bleibt deren Endziel unverändert: Einnahme der kompletten Verwaltungsgebiete Donezk und Lugansk in den Grenzen der 30er Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Und im Zusammenhang mit dem aktiven Widerstand der Charkow-Gruppierung der ukrainischen Streitkräfte ist es bisher zu keinem Zusammenschluss der Einheiten, die im Donbass handeln, mit den aus dem Norden vorrückenden russischen Truppen gekommen. Dennoch ist der Ring um Mariupol durch die Bürgerwehrkräfte der DVR laut Angaben des russischen Verteidigungsministeriums enger zusammengezogen worden. Und wie der offizielle Sprecher der Volksmiliz der Republik Eduard Basurin erklärte, werde Mariupol faktisch zu einem Konzentrationslager, da es in der Stadt ernsthafte Störungen mit der Wasser- und Stromversorgung gebe und aufgrund der Handlungen der ukrainischen Militärs und Nationalistenbataillone die humanitären Probleme dort nicht gelöst werden könnten.

„Mariupol wird punktuell, schrittweise gesäubert werden“, ist sich Generalleutnant Jurij Netkatschjow sicher, der mehrfach in dieser Stadt gewesen war und nicht vom Hören-Sagen um die Probleme weiß, die im Verlauf von Kampfhandlungen in ihr auftreten können. „Gegen die eingefleischten Kämpfer kann man aus leichten Granatwerfern und Schusswaffen, durch den Einsatz von Spezialmitteln usw. Feuerschläge führen. Das Wichtigste ist, dass dies entsprechende Militärspezialisten organisieren, die Gefechtserfahrungen besitzen. Dies ist aber ein Prozess nicht eines Tages, sondern mindestens von einer Woche, von zwei, drei… Alles wird davon abhängen, wieviel Truppen man zur Säuberung der Stadt entsenden wird“.