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Auf der Suche nach der Wahrheit – Russlands Bürger müssen mit einer neuen Realität und neuen Verboten in Sachen Nachrichten leben


Gleich nach Beginn der militärischen Sonderoperation auf dem Territorium der Ukraine fing die zuständige Aufsichtsbehörde Roskomnadzor, vielen Medien Benachrichtigungen mit der Forderung zuzusenden, den Zugang zu unglaubwürdigen Informationen einzuschränken. Wie in der Institution mitgeteilt wurde, seien auf den Internetseiten dieser Ressourcen Materialien gepostet worden, „in denen die erfolgende Operation als ein Überfall, als ein Einmarsch oder eine Kriegserklärung bezeichnet wird“. Die öffentliche Verwendung dieser Termini bezüglich der militärischen Sonderoperation ist für lange Zeit mit einem Verbot belegt worden.

Die Berichterstattung, das Covern der Sonderoperation war von Anfang an unter einer aufmerksamen Kontrolle der Staatsbeamten. Die Offiziellen hatten bereits am 24. Februar erklärt, dass über glaubwürdige und aktuelle Informationen nur russische offizielle Quellen verfügen würden. Andere Materialien und Meldungen könnten als „vorsätzlich falsche gesellschaftlich relevante Informationen“ ausgelegt werden. Eine Reihe von Medien, die dies für eine Militärzensur halten, wurden blockiert oder gaben die Einstellung der Arbeit bekannt. Unter anderem stellte die „Novaya Gazeta“, deren Chefredakteur im Jahr 2021 mit dem Friedensnobelpreis geehrt wurde, ihr Erscheinen ein. Der Generalstaatsanwalt der Russischen Föderation, Igor Krasnow, berichtete im August, dass seit Beginn der militärischen Sonderoperation über 340 Forderungen von Staatsanwälten nach einer Blockierung unglaubwürdiger gesellschaftlich bedeutsamer Informationen über die militärische Sonderoperation formuliert worden seien. Und denen wurde natürlich stattgegeben. „Entfernt oder blockiert wurden um die 138.000 Internet-Ressourcen.“ (Die Tendenz hält an und nimmt zu. – Anmerkung der Redaktion)

Außerdem besserten die Herrschenden eiligst das Strafgesetzbuch und des Ordnungsstrafrecht auf. Seit dem 4. März 2022 droht für die öffentliche Verbreitung von Fakes – „von vorsätzlich falschen Informationen“ – über den Einsatz der russischen Streitkräfte eine Bestrafung bis zu 15 Jahren Freiheitsentzug. Und eine Diskreditierung der Armee kann mit einem Freiheitsentzug von bis zu fünf Jahren geahndet werden. Für Fakes erfolgt sofort eine strafrechtliche Ahndung, im Falle einer Diskreditierung wird ein erster Verstoß als ein ordnungsrechtlicher angesehen. Ein Strafverfahren wird aber bei einer erneuten Vornahme solcher Taten im Verlauf eines Jahres eingeleitet.

Im Oktober tauchte eine offizielle Statistik über die Anwendung der Neuerungen (die sich mitunter durch wenig Konkretheit auszeichnen und an Gummi-Paragrafen erinnern – Anmerkung der Redaktion). Laut Angaben des Obersten Gerichts sind insgesamt im Verlauf von drei Monaten ab dem Zeitpunkt der Sanktionen im Ordnungsstrafrecht aufgrund einer Diskreditierung der Armee durch die Gerichte gemäß diesem Artikel 2504 Menschen bestraft worden. Urteile gemäß dem analogen StGB-Paragrafen hatte es in diesem Zeitraum nicht gegeben. Aber laut Angaben des Innenministeriums würden zehn Straffälle bearbeitet (der bekannteste gegen Jekaterinburgs Ex-Bürgermeister Jewgenij Roisman, der im Übrigen auch als „ausländischer Agent“ gelabelt wurde). Gemäß dem Paragrafen über Fakes seien laut Polizeistatistik 67 Strafverfahren eingeleitet worden. Die ersten Gerichtsentscheidungen liegen bereits vor. Im Juni verurteilte man den Kommunalpolitiker aus dem Moskauer Krasnoselskij-Stadtbezirk Alexej Gorinow zu sieben Jahren Freiheitsentzug. Am 9. Dezember erhielt der bekannte Oppositionspolitiker Ilja Jaschin (der ebenfalls als ein „ausländischer Agent“ in Russland abgestempelt wurde) acht Jahre und sechs Monate Freiheitsentzug in einem Straflager mit einem allgemeinen Haftregime.

Unter den Bedingungen der strikten Einschränkungen für die Rede- und Informationsfreiheit kam es in den sozialen Netzwerken – vor allem im Messenger-Dienst Telegram – zu einer Blütezeit des Journalismus von Militärkorrespondenten, von Autoren, die die militärische Sonderoperation unterstützen, direkt von der vordersten Frontline berichten oder ein eigenständiges Monitoring und ein Analysieren der Kampfhandlungen vornehmen. Gerade ihre Beiträge befriedigen die Nachfrage von vielen in der Gesellschaft nach qualitativ tiefgründigeren Kenntnissen und einem Verstehen des Verlaufs der militärischen Sonderoperation – im Vergleich zu dem, was die militärischen Offiziellen und die traditionellen Medien berichten. Den Einfluss der Militärkorrespondenten haben auch die Offiziellen Russlands anerkannt, wobei nicht alle mit der neuen Erscheinung glücklich sind. Der Generalstab habe sich angeblich gar angeschickt, einige aufgrund von Kritik an den Handlungen der Feldherren vor Gerichte zu zerren. Wladimir Putin aber trifft sich mit Militärkorrespondenten und hat einen von ihnen, den Korrespondenten Alexander Koz aus der kremltreuen hauptstädtischen Zeitung „Komsomolskaja Prawda“, gar in den Präsidialrat für Menschenrechtsfragen aufgenommen (während liberale Menschenrechtler, die kritisch der Sonderoperation gegenüberstehen, aus diesem Gremium ausgeschlossen wurden – Anmerkung der Redaktion).

 

Föderale TV- und Hörfunksender veränderten radikal ihren Sendebetrieb

Mit dem Beginn der militärischen Sonderoperation haben die wichtigsten Fernsehkanäle des Landes praktisch auf Unterhaltungsprogramme verzichtet, deren Ausstrahlung gestoppt wurde. Laut Angaben des russischen Marktführers auf dem Gebiet der Medienforschung, der Firma „Mediascope“, entfielen früher auf dem 1. Kanal an Arbeitstagen etwa 50 bis 60 Prozent der Sendezeit auf Filme und Unterhaltungsprogramme. Im März aber brach diese Zahl beinahe bis auf zehn Prozent ein.

An die Stelle der Unterhaltungssendungen kamen sozial-politische und Nachrichtensendungen. Bereits am 25. Februar war auf dem 1. Kanal die Spielshow „Feld der Wunder“, eine russische Version der US-Show „Wheel of Fortune“, aus dem Programm genommen worden. Nicht ausgestrahlt wurde die Freitagsausgabe der Show „Abendlicher Urgant“. Und weiter nahm man die Sendungen „Wer möchte Millionär werden“, „Punkt genau“ (die russische Version der Endemol-Show „Your Face Sounds Familiar“), „Heute Abend“, „Zwei Stars. Väter und Kinder“, und die Humorsendung „Klub der Lustigen und Findigen“ aus dem Programm. Bald wurden auch die Sendungen „Es ist toll zu leben“, „Pozner“, die Kuppelshow „Lass uns heiraten!“ und „Das Modeurteil“ nicht mehr ausgestrahlt. Auf dem staatlichen Fernsehkanal „Rossia 1“ wurden nach Beginn der militärischen Sonderoperation die Ausgaben der Show „Tänze mit Stars“ durch die Talkshow „Ein Abend mit Wladimir Solowjow“ ersetzt. Und die Ausstrahlung der Talkshow „Malachow“ wurde auf unbestimmte Zeit verschoben und erst im Dezember einige Male zu erleben.

Im März und April nahm die gesamte Sendezeit der Nachrichten- und sozial-politischen Programme auf dem 1. Kanal und bei „Rossia 1“ bis auf 59 Prozent von der Zeit der Ausstrahlung von Programmen aller Genres im Vergleich zu den 31 Prozent im Vergleichszeitraum des Vorjahres.

Anfang März erfolgte auf dem 1. Kanal die Premiere der Sendung „Anti-Fake“ über Technologien zur Schaffung von falschen Nachrichten. Ständig waren die Politshows „Das große Spiel“ (live – mit Reports, Zeugenaussagen und letzten offiziellen (!) Angaben über das Geschehen in der Ukraine), „Die Zeit wird es zeigen“ und „Der Wachhabende“ (eine Sendung über die Armee) zu sehen. Im Dezember wurde mehrfach am Tag der sogenannte Informationskanal (über den Verlauf der militärischen Sonderoperation in der Ukraine) gestartet. Auf „Rossia 1“ wurden ab Februar werktags zweimal am Tag die Sonderausgaben der Talk-Show „60 Minuten“ (etwa jeweils drei Stunden mit Olga Skabejewa und ihrem Gatten, dem Duma-Abgeordneten Oleg Popow – Anmerkung der Redaktion). Zwischen den scheinbar nicht enden wollenden Gesprächsrunden gab es Ausgaben der Nachrichtensendung „Vesti“ und die Informations- und Politik-Show „Wer ist dagegen?“. Abgeschlossen und beendet wird der Tag mit dem bereits erwähnten „Ein Abend mit Wladimir Solowjow“, der sich im Staatsfernsehen mehrfach beleidigende und unter die Gürtellinie gehende Statements erlaubte und beinahe mit ein und denselben Gesprächsgästen vom Leder zieht – Innenpolitik ist dabei freilich komplett ausgeschlossen. Ja, und da gibt es noch die Nikita-Michalkow-Sendung „Besogon-TV“ (deutsch: „Teufelsaustreiber-TV“), in der gleichfalls mitunter massiv persönliche Angriffe gegen Oppositionelle erfolgen. Der Sender NTW wartet mit den politischen Shows „Treffpunk“ und „Die eigene Wahrheit“, „Sonderreportage“ und „Ein Recht zu wissen“ werden auf dem hauptstädtischen Kanal „TV Zentr“ ausgestrahlt, auf dem TV-Kanal des russischen Verteidigungsministeriums „Swesda“ gibt es die Sendung „Offene Livesendung“. Die Liste der Propaganda-Shows könnte man noch fortsetzen.

Mit der Zeit begannen jedoch einige Unterhaltungssendungen in die Programme der föderalen Kanäle zurückzukehren. Anfangs an den Wochenenden. Im Mai kehrten auf dem 1. Kanal die Shows „Haben Sie das Video gesehen?“, „Tatsächlich“ und „Mag man doch reden“ (obgleich ab dem 13. August die Ausstrahlung letzterer wieder eingestellt wurde) zurück.

Dass der 1. Kanal plane, Unterhaltungsprogramme ins Programm zurückzuholen, teilte am 2. September der Generaldirektor des Kanals, Konstantin Ernst, mit. Und Ende November erlebte eine „Wiedergeburt“ die Nachmittagstalkshow „Maskulines und Feminines“, Anfang Dezember – die abendliche Talkshow „Mag man doch reden“. Insgesamt aber bleiben die TV-Programme der föderalen Kanäle ideologische und Informationsplattformen. Außerdem fällt auf, dass viele, einst bekannte Gesichter nicht mehr zu sehen. Eine Folge ihrer Haltung zum Ukraine-Konflikt und der Entscheidung, das Land zu verlassen.

Die derzeit ausgestrahlten populären Unterhaltungssendungen – „The Voice“, „Tänze mit Stars“, „Die Maske“ und andere internationale Hits – sind entsprechend westlichen Lizenzen produziert worden. Werden aber auch deren Lizenzen entzogen, da sich solch eine Sanktionsspirale dreht, überstehen die Fernsehzuschauer.

 

Ohne den Messenger-Dienst Telegram will keiner mehr auskommen

Der Messenger Telegram ist nach Beginn der Sonderoperation in der Ukraine für Russlands Bürger zu einem überaus wichtigen Instrument für den Erhalt von Informationen geworden. Während die Massenmedien sorgfältig die Worte auswählten, Bestätigungen für Angaben suchten und sich einer Selbstzensur unterzogen, schalteten Russlands Bürger die Smartphones ein und lasen Nachrichten über Explosionen, den Beschuss oder über Zwischenfälle bereits wenige Minuten später, nachdem dies alles geschehen war. Der Messenger hat sich sowohl auf der einen als auch der anderen Seite der Konfrontationslinie in der Ukraine als populärer erwiesen. Ihn nutzten aktiv sowohl Offizielle der Russischen Föderation als auch deren Opponenten. Der Messenger-Dienst demonstrierte im Jahr 2022 eine Rekordzunahme hinsichtlich der aktiven Autoren und der veröffentlichten Inhalte im Vergleich zu anderen sozialen Netzwerken.

In der Anfangszeit des Projektes hatte sein Urheber Pawel Durow den Nutzern Anonymität und Sicherheit garantiert. Bis zum Jahr 2022 hatte sich bereits wenige an diese Zusagen erinnert, besonders, nachdem die Vertreter der russischen Sicherheits- und Rechtsschutzstrukturen plötzlich die Beanstandungen gegenüber dem Messenger fallen ließen und Mitarbeiter der Rechtsschutzorgane mehrfach Administratoren „anonymer Kanäle“ verhafteten. Unter den Bedingungen der Kampfhandlungen in der Ukraine hat sich jedoch Telegram als ein sehr bequemer erwiesen. Die Nutzer, für die Nachrichten wichtig sind, haben nach dem Abonnieren gleich mehrerer Informationskanäle operativ die aktuellsten Meldungen erhalten – mit Fotos und Videos. Diejenigen, für die eine Interpretierung wichtig war, wurden noch zu Followern von analytischen Kanälen. Im Ergebnis eines Gegenüberstellens der Daten konnten die Nutzer selbst, ohne die Vermittlung von Journalisten, den Versuch unternehmen, sich ein mehr oder weniger vollständiges Bild vom Geschehen zu machen.

Den Messenger machten nicht nur die Massenmedien, die operativ zu ihm übergegangen waren, sondern auch anonyme Kanäle, aber auch Aggregatoren zu einem populären. Viele von letzteren ignorierten einfach die Forderungen der Gesetzgebung bei der Verbreitung von Informationen, womit sie die laut Gesetz registrierten Medien aus dem Konkurrenzkampf verdrängten. Die Möglichkeit, sich Videos anzuschauen und Audioaufnahmen anzuhören, hat das jeweilige Gadget mit Telegramm in eine Art Fernsehgerät verwandelt, dessen Programm der Nutzer selbst zusammenstellt. Da konnte man scheinbar alles finden – von Videos einer Vernichtung feindlicher Technik bis zu Dementis von Fakes, von patriotischen Appellen von Stars und Sternchen bis zu Rezepten dafür, wie man sich vor der Mobilmachung verbergen kann. Analytiker des Systems zum Monitoring und zur Analyse der sozialen Medien und der Massenmedien „Brand Analytics“ haben betont, dass seit Beginn der Sonderoperation bis zum Oktober die Zunahme 1,1 Millionen Autoren und 8,7 Millionen Content-Einheiten ausmachte. Schon im März hatte Telegram WhatsApp (gehört zum Unternehmen Meta, das in der Russischen Föderation als extremistisches gelabelt und verboten wurde) hinsichtlich des Umfangs des Traffics in Russland hinter sich gelassen.

Natürlich, das System hat sich nicht als ideal erwiesen. In Telegram existierten bereits zum Jahr 2022 „Netzwerke“ verschiedener Einflussgruppen. Und oft konnte selbst der sich bei dutzenden Kanälen angemeldete Nutzer Informationen vom Wesen her aus einer Quelle erhalten, wobei er sich dessen sicher war, dass er die Zensur umgangen habe. Nach Beginn der Sonderoperation und des Starts eines harten propagandistischen Kampfes wurden viele Nutzer unangenehm überrascht, als mehrere Kanäle innerhalb eines Tages nicht nur die Tonart der Veröffentlichungen, sondern auch das Objekt der Kritik änderten und anfingen, im Rahmen einer früher nichtakzeptieren Agenda zu arbeiten – indem sie beispielsweise die Handlungen des Kremls oder der ukrainischen Offiziellen radikal unterstützten. Letztlich ist Telegram zum Jahresende zu einer wichtigen Front des Informationskrieges geworden.