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Auf einer neuen Sanktionsliste – ein Rabbi, ein Mufti und ein Lama-Priester


Der Präsident der Föderation jüdischer Gemeinden Russlands, Alexander Boroda, ist in die Sanktionsliste der Stiftung für Korruptionsbekämpfung (in Russland als NGO in der Rolle eines ausländischen Agenten eingestuft, aber auch als eine extremistische Organisation verboten), die durch Alexej Nawalny (auf der Internetseite der Aufsichtsbehörde Rosfinmonitoring in der Liste von Terroristen und Extremisten ausgewiesen) gegründet worden war, aufgenommen worden, meldeten israelische Telegram-Kanäle. Der Rabbiner Boroda ist zum ersten und vorerst einzigen Vertreter der jüdischen Community des Landes geworden, der auf schwarze Listen von aus offizieller Moskauer Sicht radikalen Oppositionellen geraten ist. Nach Meinung der Nawalny-Vertreter unterstütze der Präsident der Föderation jüdischer Gemeinden Russlands „die Aggression* Russlands gegen die Ukraine und die Handlungen der russischen Offiziellen“. „Dies brachte ihn auf der Liste in die Kategorie „Käufliche Führungskräfte der öffentlichen Meinung und öffentliche Anhänger Putins““, heißt es in den Mitteilungen. Unterstrichen wird, dass „der Name und die Angaben eines der bekanntesten russischen jüdischen Funktionäre in der letzten Aktualisierung der „Sanktionsliste“ des Nawalny-Teams aufgetaucht sind“.

Eine Liste der „Korrupten und Schürer des Krieges*“ begannen Aktivisten der Stiftung für Korruptionsbekämpfung im April im Zusammenhang mit der militärischen Sonderoperation der Russischen Föderation in der Ukraine zu erstellen. Anfangs befanden sich 6.000 Personen in dem Register – vor allem Politiker und Vertreter des öffentlichen Lebens Russlands, die die politische Führung nach dem 24. Februar unterstützten. Jedoch wird das Verzeichnis alle zwei Wochen aktualisiert. Und nunmehr befinden sich um die 6.500 Personen in diesem. Die letzte Ergänzung mit Namen von 73 Personen erfolgte Ende Juli. Unter ihnen sind 34 Führungskräfte unterschiedlicher religiöser Vereinigungen und Gemeinschaften Russlands. Neben Alexander Boroda stehen die Namen des Patriarchen von Moskau und Ganz Russland Kirill (freilich mit dessen weltlichen Namen Wladimir Michailowitsch Gundjajew), des Oberhaupts der Russischen orthodoxen Altgläubigen Kirche, Metropolit Kornilij (ausgewiesen als Konstantin Iwanowitsch Titow) und des Oberhaupts der Buddhistischen traditionellen Sangha Russlands, Damba Ajuschejew, auf der Liste.

In dem Verzeichnis sind gleichfalls der Vorsitzende der Geistlichen Verwaltung der Moslems von Russland, Mufti Rawil Gainutdin, der Leiter der zentralisierten religiösen Organisation „Geistliche Versammlung der Moslems von Russland“, Mufti Albir Krganow, der Vorsitzende der Zentralen geistlichen Verwaltung der Moslems von Russland, Obermufti Talgat Tadschuddin und weitere 16 regionale Muftis und Führungskräfte geistlicher Verwaltungen aus verschiedenen Regionen Russlands erwähnt worden.

Etwas weniger – elf Positionen – nehmen in dem aktualisierten Register die Namen von Hierarchen der Russischen orthodoxen Kirche ein. Unter ihnen sind Erzbischof Pitirim (Wolotschkow) von Syktywkar und Komi-Syransk, Metropolit Tichon (Jemeljanow) von Wladimir und Susdal, Metropolit Merkurij (Iwanow) von Rostow und Nowotscherkassk, Metropolit Jewgenij (Kulberg) von Jekaterinburg und Werchoturje, Metropolit Panteleimon (Poworosnjuk) von Lugansk und Altschewsk und andere. Sie alle sind als jene festgehalten worden, die „die Aggression* Russlands gegen die Ukraine und die Handlungen der russischen Offiziellen unterstützten“.

Bemerkenswert ist, dass gemäß dem vollständigen Verzeichnis der Stiftung bereits im April die Namen von Metropolit Tichon (Schewkunow) von Pskow und des einstigen Leiters der Abteilungfür auswärtige Kirchenbeziehungen des Moskauer Patriarchats, Metropolit Hilarion (Alfejew) in dieses aufgenommen worden waren. Wobei ersterer als „Ideologe des Krieges*“ und der zweite als „russischer Propagandist“ aufgrund seiner TV-Sendung „Kirche und Welt“, die er bis zu seiner Ablösung im Juni dieses Jahres auf dem staatlichen russischen Fernsehkanal „Rossia 24“ moderiert hatte, bezeichnet wurden. Dagegen sind keine Vertreter protestantischer Konfessionen und des Klerus der katholischen Kirche in dieser sogenannten schwarzen Liste.

Möglicherweise löst in Russland dieses Verzeichnis keine besondere Aufmerksamkeit aus, da sich alle an die scharfen Erklärungen der außerparlamentarischen Oppositionellen gewöhnt haben, von denen die überwiegende Mehrheit inzwischen ins Ausland gegangen ist. Aber man kann es auch nicht leichtfertig ignorieren. Schließlich haben sich bereits im Mai neun US-Senatoren von der Republikaner-Partei und den Demokraten an Finanzministerin Janet Yellen mit der Bitte gewandt, Sanktionen gegen die Vertreter aus dem Nawalny-Katalog zu verhängen. Die Senatoren bestanden darauf, dass sich auf alle von der Stiftung für Korruptionsbekämpfung erwähnten Namen nicht nur das Verbot für eine Einreise in die USA, sondern auch ein Einfrieren ihrer Vermögen erstrecken sollten. Und die „Sanktionen sollen sie nötigen, ihre Posten zu verlassen“.

Es sei daran erinnert, dass dies für Patriarch Kirill die vierte Sanktionsliste ist. Zu einer Persona non grata hatte man ihn bereits im Juni in Großbritannien und Litauen ernannt, und Anfang Juli – in Kanada. Im Moskauer Patriarchat bezeichnete man die Restriktionen gegen sein geistliches Oberhaupt als „sinnlose, perspektivlose und absurde“, verglich aber auch das, was der Westen gegenwärtig tue, „mit den Jahren der gottlosen Verfolgungen“ der Kirche.

Das Oberhaupt der Russischen orthodoxen Kirche hatte man lange Zeit nicht angetastet. Ja, und nach wie vor fürchten respektable Kräfte in den USA und in Europa, irgendwelche Bestrafungen für geistliche Persönlichkeiten zu verhängen. Schließlich kann dies Vorwürfe hinsichtlich einer Verletzung der Glaubensfreiheit bedeuten, einer der Grundlagen der westlichen Demokratien. Viele Jahrzehnte lang hatten Europa und Amerika gegen den sowjetischen Atheismus gekämpft und nicht die Servilität der Russischen orthodoxen Kirche zu Zeiten der Sowjetmacht kritisiert. Nunmehr ergibt sich, dass man in Washington und Brüssel die letzten Prinzipien aufgeben muss, die im neuen kalten Krieg noch unzerstörbare bleiben.

Umso mehr ist es beschämend, Organisationen und Führungskräfte anzutasten, die religiöse Minderheiten vertreten. Allerdings helfen hier einige Handlungen der Juden und Moslems im Westen. Die Föderation jüdischer Gemeinden Russlands kritisieren beispielsweise viele Funktionäre in Israel. Und Vertreter der Chabad-Lubawitsch-Gruppierung (bzw. Bewegung), zu der Rabbiner Boroda gehört, haben jüngst erneut die Frage nach der Schneersohn-Bibliothek aufgeworfen, mit deren Aufbewahrung sich die Föderation befasst. Damit sichern sie sozusagen diejenigen, die die jüdische Gemeinde Russlands attackieren, vor Antisemitismus-Vorwürfen ab, die unweigerlich von russischen Fernsehbildschirmen erklingen werden. Genau das gleiche betrifft das Nivellieren von Vorwürfen hinsichtlich einer Islamophobie. Schließlich werfen außer den Nawalny-Vertretern auch noch moslemische und nationalistischen Emigrantenorganisationen der Wolga- und Kaukasus-Völker unterschiedlichen Muftis Russlands eine Unterstützung der Sonderoperation vor. Solch eine Legitimierung der Verfolgungen geistlicher Führungskräfte eröffnet ein neues Niveau für ein „Canceln“ des multinationalen Russlands im Westen. Ersten Schwachstellen sind bereits aufgetreten. Sie werden durch die radikalsten politischen Bewegungen geschaffen. In dem Fall, dass die öffentliche Meinung im Westen diese Vorschläge nicht unterstützt, kann man sie als marginale bezeichnen und ad acta legen. Wenn aber die Sache losgetreten wird, in Gang kommt, so kann sich der Prozess bereits mit einem ganz anderen Tempo entwickeln.

 

* Die russische Aufsichtsbehörde für das Internet, die Presse und das Fernmeldewesen Roskomnadzor hält diese Bezeichnung des Konflikts für eine falsche Information und schreibt den Medien vor, das Geschehen in der Ukraine als „militärische Sonderoperation“ zu bezeichnen.