Unabhängige Zeitung

Private Tageszeitung

Aufgrund des Mangels an Geschossen schlägt Kiew Alarm


Die ukrainische Führung hat sich scheinbar ernsthaft um den Mangel an Gefechtsressourcen Sorgen gemacht, die in der Lage sind, die Sicherheit des Landes im Winter zu gewährleisten. Von einer neuen Offensive der ukrainischen Truppen ist derzeit in keiner Weise die Rede. Und Kiew bittet für den Schutz der Truppen an der Front sowie für die Objekte der Energiewirtschaft und den Getreidekorridor vom Westen um erhebliche Lieferungen an Artilleriegeschossen und Mitteln für die Luftabwehr. Offiziell hat man Kiew sowohl in Europa als auch in den USA wie stets Hilfe versprochen. Real aber ist die Situation gegenwärtig so, dass es bei der Lösung dieser Fragen erhebliche Probleme gibt.

Die Herstellung von Munition für die Artillerie der Streitkräfte der Ukraine bis zum 1. März 2024 bis auf eine Million Stück zu steigern, hatte am 13. November erneut der Chef der EU-Diplomatie, Josep Borrell, versprochen. Aber eine ausreichende Menge an Artilleriegeschossen hat Kiew bisher nicht zu sehen bekommen. Der ukrainische Außenminister Dmitrij Kuleba kritisierte in einer TV-Sendung in der ersten Novemberhälfte die Europäische Union. Er erklärte, dass die Europäische Union den politischen Willen habe, die Ukraine zu unterstützen, aber „der beklagenswerte Zustand der Rüstungsindustrie und Depots, die Bürokratie und die große Anzahl nichtabgestimmter Sachen“ würden sie daran hindern, die Zusage in Bezug auf die Geschosse zu erfüllen. Dass es die EU nicht schaffen könne, wie sie zugesagt hatte, der Ukraine bis zum Frühjahr kommenden Jahres eine Million Geschosse zu übergeben, meldete zuvor die Nachrichtenagentur Bloomberg. Und Kuleba pflichtete deren Schlussfolgerungen bei. „Leider sagt die Nachrichtenagentur Bloomberg die Wahrheit. Es gibt Frage. Und viele. Wir schlagen, sagen wir es einmal so, viel und laut Alarm“, erklärte er im ukrainischen Fernsehen.

Laut Angaben der EU sind Kiew zum gegenwärtigen Moment, im Verlauf von mehr als einem halben Jahr, seitdem die Entscheidung gefällt wurde, die ukrainischen Streitkräfte mit Munition zu versorgen, durch die Länder der Europäischen Union nur 300.000 Geschosse bereitgestellt worden. Diese Menge reiche laut Expertenschätzungen nicht länger als für einen Monat Gefechte. Mit dem einen oder anderen, und zwar mit Streumunition, haben die USA der Ukraine geholfen. Aber der Mangel an Geschossen ist unübersehbar. Und darüber hatte in einem Telefonat mit Charles Brown, Vorsitzender der Joint Chiefs of Staff der Vereinigten Staaten, der Oberkommandierende der Streitkräfte der Ukraine, Valerij Saluschnij, informiert, wie Medien schreiben. Er hatte gleichfalls auf seinem Telegram-Kanal den Mangel an Mitteln für die Luftverteidigung und an Drohnen skizziert.

„Die Probleme der Versorgung der ukrainischen Streitkräfte mit Geschossen aus Ländern Europas belegen, dass sich das Gefechtspotenzial Kiews erschöpft. Es kann scheinbar von nirgendwoher Hilfe erwarten. Die USA sind derzeit hinsichtlich einer militärischen Versorgung mit der Unterstützung für Israel beschäftigt. Und es setzt dort die Geschosse für Schläge gegen den Gaza-Sektor ein. Ungeachtet dessen, dass die Ukraine für militärische Bedürfnisse im Jahr 2024 einen Rekord markierende mehr als 15 Prozent des Bruttoinlandsprodukts geplant hat, wird eine neue großangelegte Offensive, ähnlich der im Sommer des Jahres 2023 unternommenen, im kommenden Jahr wohl kaum gelingen“, erklärte der „NG“ der Militärexperte und Oberst im Ruhestand Nikolaj Schulgin.

Er lenkt auch das Augenmerk darauf, dass Kiew in Bezug auf die strategische Verteidigung, besonders im Luftraum, erhebliche Probleme haben werde. Eigentlich hatte US-Außenminister Antony Blinken dem nach Washington gekommenen Chef des ukrainischen Präsidenten-Office Andrej Jermak zugesagt, die Luftverteidigung der ukrainischen Streitkräfte zu verstärken. Am 14. November hatten aber, wie sich herausstellte, die Treffen einer in den USA weilenden ukrainischen Delegation mit amerikanischen Kongress-Vertretern zur Frage nach der Bereitstellung neuer finanzieller Hilfe für die Ukraine im Interesse militärischer Bedürfnisse als erfolglose herausgestellt. Nunmehr nutzen das Pentagon und die amerikanische Regierung die verbliebenen geringen finanziellen Möglichkeiten, um gerade der Ukraine zu helfen.

Wie in einer Sendung des ukrainischen Rundfunks der offizielle Vertreter der Luftstreitkräfte der Ukraine, Jurij Ignat, betonte, seien auf einem Testgelände in den USA gute Ergebnisse hinsichtlich der Modifizierung von noch zu Zeiten der UdSSR hergestellten Luftabwehr-Raketenkomplexe „Buk-M1“ erreicht worden, die angeblich Ziele des Gegners mit amerikanischen Luftabwehrraketen vernichten können. Zuvor hatten Medien berichtet, dass dies in den 1950er-1960er Jahren hergestellte und nunmehr in Pentagon-Depots verstaubende veraltete Luftverteidigungsmittel sein werden. Inwieweit sie gegen die modernen russischen Mittel der Luftstreitkräfte – die Flugzeuge, Hubschrauber und Drohnen – effektiv sein werden, wird nicht vermeldet.

Außerdem hatte das Blatt „De Telegraf“ geschrieben, dass die USA von Jordanien für 110 Millionen Euro 60 deutsche Gepard-Panzer für eine Entsendung in die Ukraine aufgekauft hätten (diese Panzer waren durch die Niederlande im Jahr 2016 an Jordanien verkauft worden). Diese Gefechtsmittel der Luftabwehr, die für Handlungen in der taktischen Tiefe (mit einer Reichweite von bis zu vier Kilometern) bestimmt sind, werden aber Kiew wohl kaum bei der Verteidigung strategischer Objekte auf dem Territorium des Landes helfen. Und diese braucht aber gerade Kiew jetzt. Jermak schrieb im Netzwerk Telegram, dass bei seiner Begegnung mit Blinken unter anderem „über eine zu erwartende Verstärkung des russischen Beschusses von Objekten der Energieinfrastruktur der Ukraine in diesem Winter“ gesprochen worden sei. Und im Zusammenhand damit „braucht die Ukraine Luftabwehr- und Raketenabwehrsysteme, die die ukrainischen Städte, Schlüsselobjekte der kritischen Infrastruktur, aber auch Routen des Getreide-Korridors schützen werden“, unterstrich Jermak. Doch solche Systeme vom Typ „Patriot“ oder „Iris“ bieten die USA der Ukraine nicht an und versprechen sie nicht einmal.

„Tatsächlich haben die USA für die Streitkräfte der Ukraine im Nahen Osten ganze zwei Luftverteidigungsdivisionen erworben, die entsprechend den Bundeswehr-Standards den Landstreitkräften zugeordnet werden. Jede von ihnen besteht aus drei Batterien. In den ukrainischen Streitkräften können entsprechend der Analogie der bundesdeutschen Armee solche Batterien, die zehn bis zwölf Gepard-Panzer haben, den mechanisierten Brigaden zugeordnete werden, die in einem Streifen von acht bis 15 Kilometer handeln können. Aber für die gesamte Berührungslinie mit einer Länge von über 900 Kilometern werden sie wohl kaum ausreichen“, meint Schulgin.

Er betont, dass laut offenen Quellen bei einem Gefechtssatz von 310 Einheitsgeschossen ein Gepard-Panzer im Verlauf eines „idealen Gefechts“ bezüglich der Ziele von der Art eines Hubschraubers oder einer großen „Geranie“-Drohne sie mit einer Wahrscheinlichkeit von 0,95 bei einer Entfernung von einem Kilometer vernichten kann, wobei mindestens innerhalb von zwei Sekunden 36 Geschosse abgefeuert werden. „Dies ist sehr viel für die Vernichtung eines Ziels“, unterstrich Schulgin. „Und da ergeben sich Fragen. Erstens, gibt es in dem Gefechtssatz der selbstfahrenden Luftabwehr-Anlagen, die die ukrainischen Streitkräfte erhalten haben, eine ausreichende Menge an Munition für eine Bekämpfung von Luftzielen? Und zweitens: Sind die ukrainischen Spezialisten in der Lage, sie klug einzusetzen?“. Der Expert ist der Auffassung, dass „aus globaler Sicht die Ukraine aufgrund des Mangels an Gefechtsressourcen – Geschosse, Luftabwehrmittel, ausgebildete Militärs usw. – bereits den Streitkräften der Russischen Föderation erheblich verliert. Und für Moskau nehmen die Chancen zu, die Sonderoperation so schnell wie möglich zu beenden“.