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Aufgrund von Armut hat die Zahl der Scheidungen in Russland zugenommen


Regelmäßige Umfragen zu den Gründen für ein Auseinanderfallen russischer Familien haben eine besorgniserregende Tendenz aufgezeigt: Der Anteil der Scheidungen aufgrund von Armut hat sich in den letzten acht Jahren von 20 bis auf 33 Prozent erhöht. Es ist klar, dass materieller Wohlstand nicht die einzige und gar nicht die wichtigste Ursache für die Stabilität einer Familie ist. Den Umfragen nach zu urteilen, halten jedoch immer weniger Familien den Prüfungen durch eine zunehmende Armut nicht stand.

In den ersten fünf Monaten dieses Jahres sind in Russland 267.000 Ehen geschlossen worden. Und beinahe genauso viele Scheidungen – 252.000 – sind fixiert worden. Auf 1000 Menschen der russischen Bevölkerung kommen 4,4 geschlossene Ehen und 4,2 Scheidungen. Dabei nimmt die Zahl der Scheidungen in der Russischen Föderation rasant zu. Hier ein Vergleich: Im gesamten vergangenen Jahr kamen auf 1000 Menschen der Landesbevölkerung 3,9 Scheidungen und 5,3 geschlossene Ehen.

Der hauptsächliche deklarierte Grund für eine Scheidung ist die Armut. Im Rahmen einer Befragung des staatlichen Meinungsforschungsinstituts Allrussischen Meinungsforschungszentrum (VTsIOM) gab finanzielle Insolvenz als Anlass für die Scheidung ein Drittel der Befragten an. Zum Vergleich: gegenseitiges Nichtverstehen (15 Prozent), Untreue eines der Partner (14 Prozent), Haushaltsprobleme (10 Prozent), aber auch ein Nichtzusammenpassen der Charaktere und Trunksucht (jeweils acht Prozent) sind weitaus weniger genannt worden.

In der bereits acht Jahre währenden Zeit des Rückgangs der Einkommen der russischen Bevölkerung hat man Armut als Ursache für eine Scheidung erheblich häufiger zu nennen begonnen. Im Jahr 2013 hatte Armut und Arbeitslosigkeit als Hauptursache für die Scheidung jeder fünfte genannt, und bereits im Jahr 2015 – jeder vierte. Heute hat sich deren Anteil bis auf 33 Prozent erhöht.

Bei weitem nicht jede Scheidung kann den Druck der Armut verringern. Für die einstigen Familien mit Kindern verschlimmert die Scheidung oft nur die materiellen Probleme.

„Die Hauptursache der finanziellen Insolvenz der Bürger ist das Fehlen von Fertigkeiten zur Planung und Erfassung des Familienetats, aber auch finanziellen Unwissen. Oft nehmen junge Familien riesige Kredite für die Hochzeit auf. Und die müssen mehrere Jahre lang getilgt werden. Wenn ein Paar kein finanzielles „Sicherheitskissen“ hat, werde der Arbeitsverlust und die Geburt eines Kindes nicht nur zu einem Stress, sondern auch zu einer Krisensituation. Die in den Mitteln eingeschränkten Eheleute lassen sich entweder sofort scheiden oder nehmen neue Kredite auf. Danach aber lassen sie sich scheiden und können die Kredite nicht aufteilen“, sagt Pawel Sigal, 1. Vizepräsident der Mittelstandsvereinigung „Stütze Russlands“. Noch ein Risikofaktor seien nach seiner Meinung das Fehlen eigenen Wohnraums und die Unmöglichkeit, die Anzahlungssumme für eine Wohnung zu akkumulieren.

Bezeichnend ist, dass nach dem Jahr 2013 der Anteil der Scheidungen aufgrund von Armut aktiv zunimmt, unterstreicht der Chefanalytiker der Investmentfirma „TeleTrade“ Mark Goichman. „Gerade dieses Jahr war das letzte im laufenden Jahrtausend, in dem sich die realen, zur Verfügung stehenden Einkommen der Bürger Russlands erhöht haben. Seit 2014 gehen sie unablässig zurück. (Die geringe, statistisch unerhebliche Zunahme um 0,1 Prozent im Jahr 2018 und um ein Prozent im Jahr 2019 kann man unberücksichtigt lassen.) Im Ergebnis dessen war der Umfang der Einkommen der Bevölkerung im Jahr 2020 um elf Prozent geringer als im Jahr 2013. Im ersten Quartal dieses Jahres verringerten sie sich noch einmal um 3,7 Prozent“, betont er, wobei er darauf hinweist, dass es für viele schwierig werde, unter solchen Bedingungen ein Familienleben zu führen.

Die Zunahme des Anteils der Bürger Russlands, die der Auffassung sind, dass zur Ursache für eine Scheidung die Armut oder das Fehlen von Arbeit werden könne, hängt in erster Linie mit dem Rückgang der Einkommen und dementsprechend des Lebensniveaus der meisten einheimischen Haushalte zusammen, pflichtet Alexej Korenjew, Analytiker des Investitionsunternehmens „Finam“, bei. Nach seiner Meinung sei die Abhängigkeit der Anzahl der Scheidungen aufgrund materieller Schwierigkeiten in der Familie von der Wirtschaftssituation im Staat praktisch eine direkte. „Es ergibt sich, dass, solange in der Wirtschaft des Landes alles gut verlief, der Ehemann der Versorger war und eine Karriere aufbaute, und die Ehefrau saß als eine bescheidene Mitarbeiterin herum. Sobald sich aber in der Wirtschaft Probleme abzeichneten, stellt sich heraus, dass der gesamte Familienhaushalt auf den Schultern der Frau liegt, während der Mann einen Job sucht“, urteilt der Experte.

Das Problem der Armut und wirtschaftlichen Instabilität unterscheidet die Bürger Russlands von den Einwohnern anderer Länder. Grenzüberschreitende Meinungserhebungen zeigten, dass in der Russischen Föderation die Besorgnis der Bürger über die wirtschaftliche Ungleichheit und materiellen Probleme über dem weltweiten Durchschnitt liegt. In der letzten Zeit nehmen in der Welt die Befürchtungen im Zusammenhang mit dem Coronavirus zu. In Russland aber machen den Bürgern vor allem die Arbeitslosigkeit, die geringe Entlohnung und die Armut Sorgen. Während beispielsweise unter den Einwohnern von 28 Ländern das Thema „COVID-19“ das dominierende ist, so hat die Pandemie in der Russischen Föderation lediglich 13 Prozent der Befragten beunruhigt, zeigen Umfragen des international tätigen Marktforschungsunternehmen Ipsos. Die Bürger Russlands sorgt weitaus mehr als im weltweiten Durchschnitt das Problem der Armut und der sozialen Ungleichheit. Wie die Ipsos-Untersuchung zeigte, machen sich 56 Prozent der Einwohner der Russischen Föderation Sorgen um diese Frage. Und hinsichtlich dieses Parameters belegt das Land den 1. Rang in der Welt.

Gerade die Ungewissheit hinsichtlich des morgigen Tages und der eigenen finanziellen Möglichkeiten wird zu einem Anlass, auch die Geburt von Kindern zu vertagen. „In allen Ländern, zu denen es statistische Angaben gibt, geht die Geburtenrate zusammen mit der Zunahme der Arbeitslosigkeit oder der Verringerung der Einkommen zurück“, sagte der unabhängige Demograf Alexej Rakscha. Die Wirtschaftsfaktoren hätten sich zwar nicht als die wichtigsten unter jenen, die die Geburtenrate während der Pandemie beeinflussen, erwiesen, doch die damit verbundene Besorgnis der Menschen, darunter über die Zukunft ihrer Kinder, sei an die erste Stelle gerückt, erinnert Larissa Popowitsch, Direktorin des Instituts für die Ökonomie des Gesundheitswesens in der Hochschule für Wirtschaftswissenschaften.

Betont sei, dass in Russland in den ersten fünf Monaten dieses Jahres 554.000 Kinder geboren wurden, was um 8.200 weniger als im analogen Zeitraum des Vorjahres ist. Dabei ist die Zahl der im Jahr 2020 geborenen bis auf 1,435 Millionen Menschen von 1,484 Millionen Menschen im Jahr 2019 gesunken. Dieser Wert wurde zum geringsten seit dem Jahr 2002 (damals wurden 1,397 Millionen Kinder zur Welt gebracht).

Prinzipiell die Situation im Land ändern wollen die Staatsbeamten nicht. Vor diesem Hintergrund versucht der Staat, planmäßig die soziale Unterstützung für einzelne Bevölkerungsgruppen zu verstärken. Beispielsweise hatte die Regierung Ende Juni bekanntgegeben, dass sie über 10 Milliarden Rubel für Beihilfen für schwangere Frauen bereitstellen werde. Die Beihilfe wird seit dem 1. Juli gezahlt. Bis zur Geburt des Babys erhält die entsprechende Frau jeden Monat etwa 6300 Rubel (umgerechnet rund 73 Euro). Präzisiert wurde, dass die konkrete Summe von der Region abhänge, in dem die jeweilige Schwangere lebe. „Im laufenden Jahr werden solch eine Unterstützung über 400.000 Frauen erhalten, die sich auf eine Mutterschaft vorbereiten“, sagte der russische Regierungschef Michail Mischustin.

Nach Meinung vieler Experten aber würde die materielle Unterstützung für die Bevölkerung oft keinerlei Wirkung weder auf die demografischen Parameter noch auf die Verringerung der Armut erzielen. „Die neuen Beihilfen für Familien mit Kindern oder eine vergünstige Familien-Hypothek können zur Geburt eines Kindes veranlassen. Die Beihilfen für Familien mit Kindern sind jedoch nicht so groß, um eine stabile Grundlage für das finanzielle Wohlergehen einer Familie zu schaffen. Daher üben in der Zeit der Pandemie die Zunahme der Arbeitslosigkeit und der Rückgang der Einkommen einen negativen Einfluss auf die Geburtenrate aus“, betonte Jelena Kiseljowa, Analytikerin des Instituts für komplexe strategische Forschungen.

„Die Geld-Komponente spielt bei weitem nicht die Hauptrolle. Und die Beihilfen – die allerletzte. Wichtiger sind die Möglichkeiten für die Organisierung der Lebenszeit und des Lebensraumes sowie der Entwicklungsgrad der Infrastruktur-Institute. Danach eine stabile Beschäftigung und ein stabiler Verdienst durch sie sowie stabile Einkommen des Haushalts, die mindestens die Basisbedürfnisse beim Konsum für die Familien mit zwei Kindern absichern und unter anderem erlauben, die Wohnraumprobleme unter Berücksichtigung der Struktur der Familie zu lösen“, fügte der stellvertretende Direktor des Demografie-Instituts der Hochschule für Wirtschaftswissenschaften, Sergej Sacharow, hinzu.

Die Verteilung von Haushaltsgeldern an einzelne Bevölkerungskategorien löst auch nicht das Problem der Armut im Land. So haben Auditoren des russischen Rechnungshofes, die die Umsetzung der staatlichen Programme analysierten, betont, dass die Maßnahmen der Programme beispielsweise wenig die Aufgabe zur Verringerung der Armut in der Russischen Föderation beeinflussen würden. Der fünfte Teil der sozial schwachen Haushalte hatte sich ohnehin außerhalb des Rahmens der staatlichen Sozialpolitik befunden, da diese keinerlei soziale Zahlungen erhalten.

Unabhängige Wirtschaftsexperten haben gleichfalls eingestanden, dass die staatliche Unterstützung für die Bevölkerung nur teilweise den Schlag durch das Coronavirus abgeschwächt hätte. Ihre Berechnungen zeigten, dass die Hilfe für Familien mit Kindern und für Arbeitslose lediglich ein Siebtel der weggefallenen finanziellen Einkünfte und mehr als ein Drittel der Zunahme der Armut kompensiert habe. Zur gleichen Zeit hat in den Familien ohne Kinder, die von den Maßnahmen zur staatlichen Unterstützung ausgeklammert wurden, die Armut in der Krise um mehr als das 2fache zugenommen.

Das zunehmende Problem der Armut im Land scheinen die Offiziellen ebenfalls nicht zur Kenntnis nehmen zu wollen. Beispielsweise wurde bei der letzten TV-Bürgersprechstunde des russischen Präsidenten Wladimir Putin das Armutsthema nicht angesprochen. Und die Probleme der zurückgehenden Einkommen wurden im Zusammenhang mit den Pandemiefolgen erwähnt. Finanzminister Anton Siluanow betonte, dass das Wachstum der Wirtschaft zu einer Zunahme der Bevölkerungseinkommen führen und das Erreichen der nationalen Entwicklungsziele des Landes helfen werde. „Die entscheidende bleibt die Aufgabe zur Unterstützung des Erreichens der nationalen Entwicklungsziele des Landes. Unter den Hauptprioritäten sind die Gewährleistung einer qualitätsgerechten medizinischen Hilfe, die Wiederherstellung und eine Zunahme der Einkommen der Bürger (vor allem die Verringerung der Armut und die Unterstützung der anfälligsten Bevölkerungsschichten), das Angleichen der Möglichkeiten beim Erhalt einer Ausbildung sowie die Schaffung eines komfortablen Umfelds für das Leben und die Wirtschaftstätigkeit. Auf die Absicherung dieser Aufgaben sind die strukturellen Veränderungen der russischen Haushaltspolitik ausgerichtet“, unterstrich der Minister.

Und dies vor dem Hintergrund dessen, dass die Staatsbeamten früher erklärten, dass gerade die Realisierung der nationalen Projekte erlauben werde, sowohl ein Wirtschaftswachstum anzuschieben als auch das Lebensniveau der Bürger der Russischen Föderation zu verbessern. Eines der nationalen Entwicklungsziele des Landes bestehe in der Verringerung der Armut um die Hälfte bis zum Jahr 2030.

Anstatt einer Bekämpfung der Armut ziehen es die Staatsbeamten wahrscheinlich vor, sie zu maskieren. Augenscheinlich hat das staatliche Statistikamt Rosstat dafür auch die Methodik zur Berechnung der Armut verändert. Jetzt soll der Parameter unter Berücksichtigung des Existenzminimums berechnet werden, das einmal im Jahr festgelegt wird. Aber mit einer Anbindung an das Medianeinkommen und nicht an den Verbraucherkorb. Und während im ersten Quartal dieses Jahres 21,1 Millionen Bürger Russlands unter der Armutsgrenze oder 14,4 Prozent der Landesbevölkerung lebten, waren es bereits im zweiten Quartal „überraschenderweise“ 17,7 Millionen Menschen oder 12,1 Prozent, folgte aus den Angaben des von Pawel Malkow geleiteten Statistikamtes. Dabei hat sich aber, wie eine Analyse zeigte, die Armut in Russland im Verlauf von sieben Jahren nicht verändert und lag bei etwa 14 Prozent.