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Baerbock hat nach Kiew Kurs auf Moskau genommen


 

Deutschlands Außenministerin Annalena Baerbock hat am Dienstagmorgen offiziell ihren Arbeitsbesuch in Moskau begonnen, der freilich bereits am Montagabend begann und von einem Treffen mit Vertretern der deutschen Wirtschaft u. a. auch zu Fragen des Einsatzes von Wasserstoff in der Energiewirtschaft bestimmt wurde. Unter den Themen der Gespräche mit dem russischen Amtskollegen Sergej Lawrow steht die Situation im Osten der Ukraine an erster Stelle. Die Lage an der russisch-ukrainischen Grenze wird im Auswärtigen Amt als eine Bedrohung seitens Moskaus interpretiert.

Baerbock ist der Auffassung, dass das Wichtigste bei ihrem Moskau-Besuch allein schon dessen Tatsache sei: „Wir werden an einem Tisch sitzen und Gespräche führen“. Dies erklärte sie laut der Tageszeitung „Die Welt“ beim EU-Außenministertreffen im französischen Brest in der vergangenen Woche. Baerbock hatte Empfehlungen seitens der Außenminister*Innen der EU-Partnerländer Deutschlands und seitens ihres Partners in der Regierungskoalition – der FDP – erhalten. Sowohl die einen als auch die anderen plädierten für einen harten Verhandlungsstil mit der russischen Seite. Die „Welt“ betont, dass die Vertreter solcher Länder wie Dänemark, Schweden, Litauen und Polen Baerbock empfohlen hätten, in Moskau „klare rote Linien“ aufzuzeigen, die der russische Präsident Wladimir Putin nicht überschreiten dürfe. Und sie betreffen in erster Linie ein Veto hinsichtlich der Moskauer Forderung nach einer Nichterweiterung der NATO.

Baerbocks Koalitionsverbündete, die Militärexpertin der Freien Demokraten Marie-Agnes Strack-Zimmermann, die Vorsitzende des Bundestagsausschusses für Verteidigung ist, rief Baerbock zu einer Demonstration von Härte in Moskau auf. Nach ihren Worten, die AFP zitiert, „hat Putin Großmacht-Phantasien. Er beabsichtigt, zu den Zeiten des Kalten Krieges zurückzukehren, und verstehe daher nur klare Antworten, die mögliche Konsequenzen einschließen“.

Vor dem Moskau-Besuch veröffentlichte „Die Zeit“ am 14. Januar einen „Brief der 73“, der vom Wesen her eine Anleitung dafür ist, wie man mit Russland umgehen müsse. Dieser Brief war durch den deutschen Historiker Andreas Umland initiiert worden und ist an den Bundestag und die Bundesregierung gerichtet. In dem Dokument ziehen Umland und die anderen Unterzeichner*Innen eine Bilanz der in der vergangenen Woche erfolgten Verhandlungen von Vertretern Moskaus mit den USA, der NATO und der OSZE zu Sicherheitsgarantien. Den Brief haben 73 Expert*Innen auf den Gebieten Osteuropa- und Sicherheitspolitik unterzeichnet. Darin werden die jüngsten Schritte des Kremls analysiert, der nach Meinung der Autoren faktisch für sich „eine Befugnis … zur Aussetzung des Völkerrechts in Europa“ fordere. Die Unterzeichner des Dokuments erinnern an die konsequente Zunahme der „Ansprüche“ der Offiziellen der Russischen Föderation in der Vergangenheit und weisen auf „ernste Fehler“ in der Politik Deutschlands in Bezug auf Russland hin. An der Politik der Bundesrepublik in Bezug auf Russland müssten grundlegende Korrekturen vorgenommen werden.

Aus der Sicht der Autoren des Dokuments ergebe sich derzeit folgende Situation: „Massive, bedrohliche Truppenkonzentrationen an der Ost- und Südgrenze der Ukraine, verschärfte antiwestliche, vor Lügen nicht zurückschreckende Propagandaattacken sowie offenkundig unannehmbare Forderungen an die Nato und ihre Mitgliedstaaten: Russland stellt in den vergangenen Wochen die seit Ende des Kalten Krieges in Europa geltende Sicherheitsordnung von Grund auf infrage“.

Die Unterzeichner zählen Russlands Sünden auf. Sie weisen unter anderem aus, dass Russland über eine größere Anzahl von Nuklearsprengköpfen als die USA, Großbritannien und Frankreich zusammen hätte, vergessen aber zu präzisieren, dass sich die Kernwaffenarsenale der Vereinigten Staaten und Russlands in den Grenzen befinden, die durch den START-3-Vertrag festgelegt wurden. Und da geht es nicht um Kernsprengköpfe in den Lagern, sondern um entfaltete, das heißt um die, die sich Gefechtsdienst befinden. Bekanntlich wurde dieser Vertrag im Februar vergangenen Jahres um weitere fünf Jahre verlängert. Und er legt eine Kernwaffenparität zwischen Russland und den USA fest. Natürlich ist die Auflistung der Sünden Moskaus für Menschen bestimmt, die wenig informiert und wenig kenntnisreich sind, und trägt einen propagandistischen Charakter.

Die Behauptung der Autoren des Briefes, dass Russland weltweit die stärkste Armee habe, ist ebenfalls weit von der Wahrheit entfernt. Laut internationalen Einschätzungen befindet sich die russische Armee hinsichtlich des Personalbestands weltweit an 5. Stelle und steht etwa um 50 Prozent der US-Army nach. Ganz zu schweigen von den chinesischen Streitkräften, die übrigens auch über Kernwaffen verfügen. Im internationalen Kräfteverhältnis werden sie aber durch die Unterzeichner nicht berücksichtigt. Man könnte noch weiter alle Ungereimtheiten des Dokuments aufzählen. Das Wichtigste besteht aber in den Schlussfolgerungen. Und die kamen gerade passend zur Reise von Annalena Baerbock und ihrem Treffen mit Lawrow. Die Autoren des Briefes verdächtigen Russland revanchistischer Abenteuer und werfen Berlin vor, dass es mit seiner Außen- und Handelspolitik zu einer Schwächung der osteuropäischen Staaten und einer geoökonomischen Stärkung einer zunehmend expansiven Atomsupermacht, für die sie Russland halten, beigetragen habe. Es versteht sich, dass sie auch gegen „Nord Stream 2“ auftreten, wie auch einst gegen „Nord Stream 1“, wobei sie die Auffassung vertreten, dass diese Gaspipelines der Ukraine Hebel für eine wirtschaftliche Einflussnahme auf Russland nehmen würden. Letzten Endes nehmen die Autoren dieses Papiers an: „Es ist zu einer geografischen Annäherung des russischen Herrschaftsbereichs an die Grenzen der EU gekommen“.

Warum hatte es Sinn, Fragmente aus diesem mehrseitigen Dokument in einem Zeitungsbeitrag anzuführen? Dies hängt nicht nur mit dem für Dilettanten bestimmten Inhalt zusammen, sondern auch damit, dass solch eine einflussreiche Zeitung wie die Hamburger „Zeit“, die man in eine Reihe mit dem analytischen Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ stellt, beschlossen hatte, es zu veröffentlichen. Allerdings titelte am Montag, dem 17. Januar der „Spiegel“ einen Redaktionsbeitrag mit den Worten „Putin als Gegner behandeln – nicht als Partner“. Darin wird zu einer Konfrontation der NATO-Länder mit dem Kreml und zu Waffenlieferungen für die Ukraine aufgerufen. Dies deckt sich mit der Forderung von Kiew an Berlin. Was für einen Weg die neue Bundesaußenministerin wählen wird und wird er durch den Bundeskanzler korrigiert, wird die Zeit zeigen.