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Bei den Wahlen in Georgien kollidierten zwei Realitäten


Die Parlamentswahlen in Georgien erfolgten am 26. Oktober in fast voller Übereinstimmung mit dem, was die Vertreter der regierenden Partei „Georgischer Traum“ und die ihr loyalen Soziologen vorausgesagt hatten. Die regierende Partei vereinte etwa 54 Prozent (53,93 Prozent bzw. 54,08 Prozent lt. unterschiedlichen Angaben) der Stimmen auf sich, und die Oppositionskräfte (vier Parteien), die die 5-Prozent-Hürde nehmen konnten, 37,76 Prozent. Laut vorläufigen Schätzungen erhält „Georgischer Traum“ 89 Mandate von 150. Und dies ist nicht die angestrebte Verfassungsmehrheit. Die Opposition ist dennoch aber unzufrieden und hat zu Protesten in den Abendstunden des Montags aufgerufen. Die Gegner der Regierung werfen ihr einen Verfassungsumsturz vor.
Die Atmosphäre während der Abstimmung konnte man nicht als eine ungetrübte bezeichnen. Während die Mehrheit der Wahlberechtigten ruhig ihre Bürgerpflicht erfüllte, gingen bei den politischen Aktivisten mitunter die Nerven durch. In Wahllokalen sind unter anderem mindestens zehn handgreifliche Auseinandersetzungen registriert wurden.
Wie dem nun auch gewesen sein mag, die Führungskräfte von „Georgischer Traum“ erklärten ihren Sieg bereits wenige Stunden nach Öffnung der Wahllokale. Wie der Bürgermeister von Tbilissi, der Ex-Fußball-Profi Kacha Kaladse, sagte, sei der Vorsprung seiner Partei vor den Oppositionskräften ein schon recht großer, aber man müsse noch ein wenig Druck machen, um die Verfassungsmehrheit zu erlangen. Woher er solche Informationen hatte, erläuterte der Bürgermeister nicht. Doch seine Worte erwiesen sich als prophetische. Seinerseits hatte Bidzina Ivanishvili, den die Anhänger und Gegner als den „Herrn“ von Georgien bezeichnen, erinnerte noch einmal daran, dass, wenn seine Partei verliere, mit Russland unverzüglich ein Krieg beginnen werde.
Kurz vor der Schließung der Wahllokale hatte die Opposition gleichfalls entschieden, ihren Sieg zu erklären. So hatte einer der Anführer der „Koalition für Veränderungen“, Nika Gvaramia, Ivanishvili aufgefordert, sich mit einer Niederlage abzufinden und keine Konsequenzen zu fürchten.
„Man hatte uns gesagt, dass Ivanishvili gehofft hätte, dass nicht allzu viele Wähler in die Wahllokale kommen werden, denn dann könne die Regierung unsere Stimmen nicht fälschen… Nehmen Sie acht Prozent und schreiben Sie für uns vier Prozent. Wenn aber über zwei Millionen Wähler in den Wahllokalen auftauchen, können und werden sie diese Angaben nicht fälschen. Dies wurde mit den Aktivitäten von 2012 verglichen“, freute sich der Gvaramia-Mitstreiter Nika Melia.
Die Wahlbeteiligung erwies sich wirklich als eine der höchsten in der Geschichte Georgiens – 58,94 Prozent. Zum Vergleich: Im Jahr 2021 belief sie sich auf 59,76 Prozent. Damals hatte die Nationale Einheitsbewegung von Michail Saakaschwili eine Niederlage durch die Partei „Georgischer Traum“ von Ivanishvili einstecken müssen. Dementsprechend hatte nun die Opposition gehofft, jene Situation umzukehren.
Laut Angaben der Zentralen Wahlkommission der Republik erhielt die regierende Partei jedoch um die 54 Prozent der Wählerstimmen, die Koalition für Veränderungen – 11,03 Prozent, die Nationale Einheitsbewegung – 10,16 Prozent, die Partei „Starkes Georgien“ – 8,81 Prozent und die Partei „Gakharia – Für Georgien“ – 7,76 Prozent. Dabei musste „Georgischer Traum“ in den großen Städten ihre Hoffnungen auf einen überlegenen Sieg zu Grabe tragen. In Tbilissi, Batumi, Rustawi, Kutaissi, Sugdidi und Zalendschicha schaffte sie 40 bis 49 Prozent. Andererseits votierten für sie in Bolnissi, Achalkalaki und Ninozminda laut offiziellen Angaben 80 bis 89 Prozent der Wähler.
Im Ausland hat „Georgischer Traum“ verloren, nachdem die Partei insgesamt 15 Prozent der Stimmen auf sich vereinte. Darunter in Frankreich und in den USA, dort votierten für „Georgischer Traum“ rund zehn Prozent der Wähler. Insgesamt waren im Ausland 67 Wahllokale für 95.910 Wähler in 53 Städten von 42 Ländern eingerichtet worden.
„Ivanishvili hatte ein Szenario ausgewählt, in dem er die Situation verkompliziert. Er gerät in einen noch größeren Konflikt mit dem Volk, agiert gegen die Interessen unseres Landes… Heute wollten wir der Öffentlichkeit klar sagen, dass die Wahlen gefälscht wurden. Wir werden kämpfen. Dieser Kampf wird zweifellos auf den Straßen erfolgen“, sagte Elena Choschtaria, eine Vertreterin der Koalition für Veränderungen.
Westliche Beobachter stehen den erfolgten Wahlen kritisch gegenüber. Was allerdings zu erwarten war. Beispielsweise hat Marko Mihkelson, der Vorsitzende des außenpolitischen Ausschusses im estnischen Parlament, eine „offenkundige Fälschung“ der Abstimmungsergebnisse ausgemacht. Nach seinen Worten würde Georgien so nie in die Europäische Union gelangen.
Zur gleichen Zeit gratulierte Ungarns Premierminister Viktor Orban als erster der georgischen Regierung zum Sieg bei den Wahlen. „Ich gratuliere Premierminister Irakli Kobachidse und der Partei „Georgischer Traum“ zum Sieg bei den heutigen Parlamentswahlen mit einem großen Vorsprung. Das Volk Georgiens weiß, was besser für sein Land ist. Und heute ist seine Stimme vernommen worden“, erklärte er fast gleich nach der Schließung der Wahllokale.
Georgiens Nachbarn gratulierten ebenfalls Kobachidse zum Sieg. „Ich hoffe aufrichtig, dass sich die Zusammenarbeit zwischen unseren Ländern in den nächsten Jahren Ihrer Führung in Georgien, aber auch dank unserer gemeinsamen Anstrengungen stabil entwickeln und erweitern wird“, betonte der armenische Kabinetsschef Nikol Paschinjan. Den Premier Georgiens beglückwünschte Aserbaidschans Staatsoberhaupt Ilham Alijew, wobei er betonte, dass „Georgischer Traum“ die führende politische Kraft in Georgien sei.
„Unser Sieg ist ein beeindruckender und offensichtlicher, und jeglicher Versuch der Opposition, von einem Manipulieren der Stimmen unter den Bedingungen elektronischer Wahlen und einer beispiellosen Wahlkampfsituationen zu sprechen, ist zum Scheitern verurteil. Natürlich, all solche ihre Versuche sind zum Scheitern verdammt“, ist sich Kobachidse sicher. Nach der Bekanntgabe der Endergebnisse muss das Parlament innerhalb von zehn Tagen zusammentreten. Und selbst wenn Präsidentin Salome Zurabishvili die (1.) Tagung nicht anberaumt, werden die Abgeordneten selbst zusammenkommen.
Der Leiter des Zentrums Geocase, Viktor Kipiani, erläuterte in einem Gespräch mit der „NG“, dass hinsichtlich der Wahlergebnisse zwei Realitäten kollidierten, die noch vor der Abstimmung bekannt gewesen waren. Die eine von ihnen war von der Annahme ausgegangen, dass die Mehrheit der Georgier „Georgischer Traum“ unterstützt, die andere – die Opposition.
Der Politologe Gia Abaschidse konstatierte, dass „Georgischer Traum“ auf jeden Fall nicht die Verfassungsmehrheit im Parlament erlangen konnte. Im Endergebnis werde die Partei maximal auf 95 der 150 Mandate kommen. Für die alleinige Bildung der Regierung sind 76 Stimmen erforderlich. Der Experte bezweifelt nicht, dass der Westen gezwungen sein wird, die offizielle Ergebnisse anzuerkennen und die Beziehungen mit Tbilissi zu resetten. „Zur gleichen Zeit wird das Land zur abschließenden Etappe der politischen Polarisierung übergehen. Entsprechend den Wahlkampfversprechen von „Georgischer Traum“ wird im Parlament eine Sonderkommission zu den Ereignissen vom August des Jahres 2008 gebildet. Durch die Kräfte der parlamentarischen Mehrheit können die Nationale Einheitsbewegung und die ihr nahen politischen Gruppen den Status „Ko-Okkupant Georgiens“ erhalten“, meint Abaschidse.