Die Schach-Weltpokal-Turniere der Männer und Frauen, die vor drei Wochen in Krasnaja Poljana (Wintersportzentrum bei Sotschi – Anmerkung der Redaktion) begannen, befinden sich sozusagen auf der Zielgeraden. Dabei nehmen – entsprechend der Zunahme der sportlichen Bedeutsamkeit eines jeden Matches – rasant die Schärfe und Attraktivität des sportlichen Wettkampfs zu. Ja, und überhaupt, wenn man das Geschehen aus der Sicht der Fans bewertet, kann man konstatieren, dass die diesjährigen Weltpokal-Spiele die interessantesten in der gesamten Geschichte der Austragung derartiger Wettbewerbe sind.
Möglicherweise ist zur Hauptursache dieses Phänomens ein gewisser „Spielhunger“ des Hauptteils der Großmeister-Community, die sich so lange nach großen Wettbewerben im Präsenzregime gesehnt hatte, geworden, und der durchaus durch das beinahe vollständige Ausbleiben solcher im Verlauf der vorangegangenen 15 Monate zu erklären ist. Schließlich hatte eine „normale“ Spielpraxis (wobei fast ausschließlich im Format von Blitz- und Schnell- bzw. Rapid-Schachpartien) lediglich eine kleine Gruppe führender Schachspieler der Welt bewahrt, wobei sie im Internet um recht hohe Preisgelder kämpfte. Im Zusammenhang damit müssen alle doch konstatieren, ohne die rein sportliche Motivation der nicht in diese Elite geratenen „normal Sterblichen“ zu überschätzen, dass einige von ihnen beim Pokalturnier unwahrscheinlich stark spielten und zu Autoren (oder, wenn Sie wollen, zu Co-Autoren) einer ganzen Reihe von Sensationen wurden. Allerdings vermochte bis zum Viertelfinale des Männerturniers nur einer von ihnen kommen – der Iraner Mohammad Amin Tabatabaei, zu dessen Kontrahent in dieser Etappe der Petersburger Wladimir Fedosejew wurde (und letzten Endes auch Gewinner).
Wenn vom Abschneiden unserer, sprich: der russischen Großmeister die Rede ist, so kann die Tatsache nicht umgangen werden, dass sich im Turnierverlauf (und besonders bei den Matchs der 1/16-Finals) die Vertreter Russlands oft am Schachbrett gegenübersaßen. Und bei diesen Auseinandersetzungen kickte Andrej Jesipenko Daniil Dubow aus dem Turnier, Peter Swidler – Nikita Witjugow und Sergej Karjakin – Wladislaw Artemjew. Beim letzten der genannten Duelle hatte anfangs Wladislaw die Führung beim Tie-Break übernommen, doch Sergej demonstrierte die ihm eigene Beständigkeit und Kaltblütigkeit, glich zuerst den Spielstand aus und riss dann den Sieg an sich.
In der folgenden Etappe hatte sich Karjakin mit Maxime Vachier-Lagrave, einem der weltweit besten Blitz-Schachspieler und Favoriten des Turniers, auseinanderzusetzen. Dieses Match verlief in einem angespannten ausgeglichenen Kampf und endete in einer zweiten Serie von Tie-Breaks (bei einem Spielen mit einer Kontrollzeit von 10+10-10 Minuten mit einer automatischen Hinzufügung von zehn Sekunden nach jedem vorgenommenen Zug), als der französische Großmeister in der für ihn insgesamt sechsten Partie des Turniers dem Trugschluss unterlag, einen erheblichen Vorteil zu erringen, dabei aber nicht das überaus schöne Figurenopfer bemerkte, das dem Russen erlaubte, das Blatt zu wenden und sich nicht nur zu verteidigen, sondern auch den Sieg zu erringen.
Von den anderen Partien dieser Etappe lohnt es, das Duell von Alexander Gristschuk gegen Jan-Krzysztof Duda aus Polen hervorzuheben, in dem unser Großmeister durchaus mit einem Sieg rechnen konnte, aber ständig in die für ihn charakteristischen akuten Zeitnöte geriet, mehrmals Fehler beging und der Nummer 1 der polnischen Auswahl unterlag. Zum markantesten und dramatischsten Match des 1/16-Finals wurde außer jeglichem Zweifel die hochbrisante Auseinandersetzung von Magnus Carlsen und Andrej Jesipenko. Es sei daran erinnert, dass bei einem der seltenen und in diesem COVID-Jahr beibehaltenen traditionellen Wettbewerben – beim Januar-Superturnier in Wijk aan Zee – der 18jährige Russe den Champion niederschmetterte und sich in den Augen der Fan-Gemeinde sofort zu einem der potenziellen Anwärter auf die FIDE-Schachkrone verwandelte. Und jetzt, um ein Jahr älter geworden, duellierte sich Andrej erneut mit der Nummer 1 des internationalen Schachsports.
Im Nachhinein bezeichneten einige Kommentatoren dieses Duell sogar als ein „vorgezogenes Finale des Weltcups. Für diese Behauptung hatte es auch wirklich einige Gründe gegeben. Auf jeden Fall verliefen beide „langsamen“ Partien des Matches und dann die ersten zwei „nicht zu schnellen“ Partien des Tie-Breaks in einem gleichen soliden Kampf und endeten mit einem Remis. Nach dem Übergang zum Spielen mit den Kontrollzeiten „10+10“ errang jedoch der Weltmeister mit den weißen Figuren spielend den Sieg. Was war das da für ein generelles Erstaunen, als im insgesamt sechsten Duell Jesipenko Carlsen glattweg ausspielte und eine überzeugende Revanche nahm! Allerdings machte sich bei der weiteren Reduzierung der Zeit für ein Nachdenken und beim Übergang zum Blitz-Modus die Überlegenheit von Magnus bemerkbar. Er gewann die erste Blitzpartie und bestrafte dann Andrej für den verwegenen Versuch, sich in der zweiten zu revanchieren.
Am nächsten Tag erwies sich der Weltmeister erneut im Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit. Zur Ursache dafür wurde bei weitem nicht sein Status, sondern wahrhaft unglaubliche Ereignisse, die sich in der Partie von Carlsen mit Etienne Bacrot abspielten. Allem nach zu urteilen hatte der französische Großmeister angenommen, dass seine einzige Chance, den Favoriten zu bezwingen, darin besteht, den ermüdeten Champion mit den weißen Figuren zu schlagen. Und Etienne gelang es, den ersten Teil dieser Aufgabe, in der Partie einen angespannten Kampf zu entfesseln, zu lösen. Aber nachdem Magnus aus positioneller Sicht eine Bauernfigur hergegeben und danach seine Dame als Gegenleistung für einen Läufer und einen Turm des Gegners „geopfert“ (genauer gesagt – eingetauscht) hatte, entfesselten die schwarzen Figuren eine Wahnsinnsaktivität, der man nur durch ein absolut tadelloses Spiel Paroli bieten konnte. Unter den Bedingungen eines Zeitmangels ist dies jedoch außerordentlich schwierig. Und in der Extremsituation – beim intuitiven Treffen äußerst schwieriger Entscheidungen machte Bacrot Fehler. Im Ergebnis dessen siegte Carlsen und führte in der Wertung.
Leider hatte Sergej Karjakin in der ersten Partie dieser Etappe keinen Erfolg. Sein Widersacher – Sam Shankland, der US-Champion von 2018 – hatte bis dahin den achtfachen Champion Russlands Peter Swidler bezwungen, spielte mit Sergej im Startduell mit den weißen Figuren und entfesselte einen zähen Positionskampf. Es ist gut bekannt, dass dies für Karjakin ein natürliches Umfeld ist. Daher kamen keine besonderen Zweifel auf, dass es ihm gelingen werde, die gleich nach dem Debüt etwas schlechtere entstandene Endstellung zu verteidigen. Es ist schwer zu verstehen, durch was gerade der grobe Fehler ausgelöst wurde, den Sergej beim 38. Zug beging. Sich über seine schicksalsschwere Entscheidung Gedanken machend, verbrauchte er beinahe die gesamte zwölfminütige Reserve an verbliebener Zeit und fürchtete sich — allem nach zu urteilen – vor dem Trugbild einer alternativen „richtigen“ Variante. Am Ende dieser Partie konnten wir zu Zeugen eines Gewinns der weißen Figuren werden, der dank einem geschickten Lavieren ihres Königs im Bauernendspiel erzielt wurde. Karjakin ging jedoch einen anderen Weg und gestand – ohne derartige Schönheiten abzuwarten – sofort seine Niederlage ein. Allerdings waren für ihn Chancen geblieben, um sich zu revanchieren. Und die vermochte er letztlich auch zu realisieren, gewann und zog ins Halbfinale ein, wo er auf seinen Landsmann Wladimir Fedosejew trifft.
Zu einer Zierde der Viertelfinal-Duelle des Frauen-Weltpokals wurde fraglos die hochbrisante Auseinandersetzung der beiden Russinnen Alexandra Kostenjuk und Valentina Gunina. In der ersten Partie spielte Gunina mit den schwarzen Figuren und opferte fein eine Bauernfigur, womit sie die Initiative an sich riss. Sie konnte mehrmals das Duell zu ihrem Gunsten beenden, doch lief sie an genauen gewinnbringenden Zügen vorbei. Die Positionen glichen sich aus. Und die verdrossene Valentina beschloss, anstatt ein ewiges Schach zu erklären, „noch zu spielen“. Es ist erstaunlich, doch danach ging die Initiative an die weißen Figuren über. Und die Ex-Weltmeisterin hat sie tadellos ausgenutzt. Aber noch beeindruckender waren die Aktionen von Kostenjuk in der zweiten Partei dieses Matches, in der von Alexandra absolute Exaktheit bei der Abwehr der vehementen Attacke von Valentina gefordert wurde. Im Ergebnis dessen endete das Match mit 2:0 zugunsten Kostenjuk, und sie zog damit als erste ins Halbfinale ein, in dem sie ihre Kräfte mit Zhongyi Tan — einer der interessantesten Schachspielerinnen Chinas – messen musste. Und dies tat sie erfolgreich. Ihre außergewöhnliche Stärke demonstrierte Tan in vollem Maße in der zweiten entscheidenden Partie gegen Katerina Lagno, in der die mit den weißen Figuren spielende Russin lange Zeit die Initiative besaß, sich aber beim 29. Zug einen Fauxpas leistete, indem sie in der Hauptvariante das glänzende Opfer durch die Rivalin in Gestalt eines Bauern unterschätzte, das der Chinesin erlaubte, die Initiative zu übernehmen und den Sieg zu erringen.
Im anderen Halbfinale trafen sich Vizeweltmeisterin Alexandra Gorjatschkina und die Ukrainerin Anna Musytschuk, die ältere Schwester von Maria, der Ex-Weltmeisterin, die im 1/8-Finale Alexandra Kostenjuk unterlag. Unbestreitbar war die Hauptfavoritin des Turniers Gorjatschkina und bleibt es auch, so dass im Finale klar wird: Kann sie diesen Status bestätigen oder wird sie durch Alexandra Kostenjuk.
- S. der Redaktion „NG Deutschland“
Beste deutsche Spielerin beim Schach-Weltpokal in Krasnaja Poljana war Elisabeth Pähtz, die es bis ins 1/8-Finale geschafft hatte, wo sie Anna Musytschuk unterlag. Bester unter den drei deutschen Spielern wurde Matthias Blübaum, der es bis ins 1/32-Finale geschafft hatte.