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Betagte Bürger Russlands sterben in einem beschleunigten Tempo


In Russland verlangsamt sich vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie das jährliche Wachstum der Bevölkerungszahl unter den Bürgern im Alter von 60 Jahren und mehr, obgleich es sich im Verlauf der letzten drei Jahre vor der Pandemie beschleunigt hatte. Während im Jahr 2019 die Anzahl dieser Altersgruppe etwa um 800.000 Menschen zugenommen hatte, so lag sie im Jahr 2020 bei 650.000. Und entsprechend den Ergebnissen dieses Jahres kann in Abhängigkeit von der Situation mit der Sterberate aufgrund von COVID-19 das Wachstum bereits lediglich 100.000 bis 400.000 Menschen ausmachen, wie Berechnungen ausweisen. Gegenwärtig übersteigt die Zahl der am Coronavirus verstorbenen Menschen um ein Mehrfaches die Werte des letzten Jahres. Und unter ihnen sind nach wie vor rund 85 Prozent Betagte. All dies, aber auch die handgemachte Erhöhung des Rentenalters führen zu einer Freisetzung von Mitteln im Rentensystem der Russischen Föderation.

Die Lage der betagten Bürger in Russland verschlechtert sich. Zu einem Problem wurden nicht nur die finanziellen Widrigkeiten, die die Offiziellen im Wahljahr punktuell durch unterschiedliche einmalige Beihilfen zu kaschieren suchten, sondern auch die Pandemie. Im Land verlangsamt sich das Tempo der Zunahme der Anzahl der Bürger, die 60 Jahre und älter sind, folgt aus Zahlen des russischen Statistikamtes Rosstat. Auf der Grundlage der in der Statistik ausgemachten Tendenzen kann man erwarten, dass insgesamt im Jahr 2021 diese Verlangsamung noch deutlicher wird.

So sind bis zum Jahr 2021 in der Russischen Föderation rund 33,5 Millionen Bürger im Alter von 60 Jahren und älter gezählt worden, was etwa um 650.000 mehr ist als im Jahr zuvor. Solch eine Zunahme erwies sich als geringste seit der Rückkehr der Krim in den russischen Staatsverband. Wobei sich bis zum Pandemie-Jahr 2020 die Zunahme der Anzahl der Betagten im Verlauf von drei Jahren beschleunigt hatte.

Eine Trendwende erfolgte zeitgleich mit der Zunahme der Zahl der im Land verstorbenen Menschen im Alter von 60 Jahren und mehr um ca. 22 Prozent im Jahr 2020 (bis auf fast 1,7 Millionen Menschen) im Vergleich zu 2019 mit 1,4 Millionen Menschen. Womit kann solch ein Hochschnellen zusammenhängen?

Wie Jelena Jegorowa, Leiterin des wissenschaftlichen Labors der Russischen G.-V.-Plechanow-Wirtschaftsuniversität erklärte, führe die Zunahme der Anzahl in der älteren Altersgruppe unweigerlich zu einer Sterblichkeit in eben dieser Gruppe entsprechend den absoluten Werten. Je größer die Anzahl der Betagten, desto höher die Zahl der verstorbenen älteren Bürger. Hier mache es Sinn zu betonen, dass zu Beginn des vergangenen Jahres im Land 2,3 Millionen Bürger im Alter von 59 Jahren gezählt wurden. Im Jahr zuvor – 2,2 Millionen, die zu Beginn des Jahres 2019 gezählt wurden. Das heißt: In die Gruppe der 60jährigen mussten mehr Menschen wechseln.

Aber allein diese Erklärung ist unzureichend. Während der Pandemie hat sich noch ein Todesgrund ergeben – COVID-19. Laut offiziellen Angaben kostete er im vergangenen Jahr mehr als 120.000 betagten Menschen im Alter von 60 Jahren und mehr das Leben. Auf sie entfielen etwa 80 Prozent aller im Land aufgrund des Coronavirus verstorbenen Bürger. Wenn es nicht zur Pandemie gekommen wäre, hätten sie die Chance gehabt, länger zu leben.

Zusammen damit kam es im Land zu einer drastischen Zunahme der Sterblichkeit der Betagten auch aufgrund anderer Erkrankungen. So erhöhte sich die Zahl der aufgrund von Krankheiten des Herz-Kreislauf-Systems Verstorbenen im letzten Jahr um 12 Prozent, obgleich sie sich im Verlauf von drei Jahren vor der Pandemie verringert hatte. Aufgrund von Erkrankungen der Atmungsorgane sind um 73 Prozent mehr Menschen gestorben, während im Verlauf von drei Jahren vor der Pandemie diese Zahl gleichfalls abgenommen hatte. Als eine Leistung kann man da die Zunahme der Anzahl der aufgrund von Neubildungen (Krebs) verstorbenen betagten Bürger im Nullbereich ansehen.

Was passiert aber in diesem Jahr? Rosstat veröffentlicht monatlich Angaben über die am Coronavirus Verstorbenen, wobei sie in vier Gruppe unterteilt werden – COVID-19 als hauptsächliche Todesursache, COVID-19 als vermutliche hauptsächliche Todesursache (notwendig sind aber zusätzliche bestätigende Untersuchungen), COVID-19 als eine Begleiterkrankung, die die Entwicklung anderer Krankheiten beeinflusste und letale Komplikationen förderte; COVID-19 als eine Begleiterkrankung, die jedoch nicht den Tod beeinflusste.

Wenn man den Parameter in seiner Gesamtheit nimmt, der alle vier Kategorien erfasst, so sind in den ersten sieben Monaten dieses Jahres bereits über 204.000 Menschen mit COVID-19 im Land gestorben, was etwa um 30 Prozent mehr ist im Vergleich zum analogen Zeitraum des Vorjahres. Es sei daran erinnert, dass das Coronavirus im letzten Jahr nicht sofort ins Land gekommen war. Und Rosstat hatte ab April begonnen, eine entsprechende Statistik zu führen. Wenn wir aber die Angaben nur bezüglich der ersten beiden Kategorien nehmen, bei denen COVID-19 zur hauptsächlichen Todesursache wurde, so machte in diesem Jahr die Zahl der Verstorbenen innerhalb von sieben Monaten fast 162.000 Menschen aus, was um 60 Prozent mehr ist als im gesamten Jahr 2020.

Man kann auch einen anderen Zeitraum nehmen, beispielsweise April-juli: In diesem Fall gibt es eine vergleichbare Statistik für beide Jahre. Bei solch einer Gegenüberstellung hat sich die Zahl der Verstorbenen innerhalb des Jahres um das 3fache erhöht, wenn man den Gesamtwert bezüglich aller Kategorien zur Erfassung von COVID-19 nimmt, oder um das 4fache, wenn man nur die Daten bezüglich jener Todesfälle nimmt, zu deren Hauptursache gerade COVID-19 geworden war. Wenn man da annimmt, dass diese Differenz auch weiter im Jahresverlauf anhalten wird, so können wir hinsichtlich der Ergebnisse des gesamten Jahres 2021 zwischen 400.000 und 500.000 Verstorbene mit einer diagnostizierten COVID-19-Infektion erhalten.

Dabei sind im Jahr 2021 wie auch im Jahr zuvor die meisten am Coronavirus Verstorbenen nach wie vor gerade betagte Menschen. Dies folgt aus unterschiedlichen Erklärungen, unter anderem vom Gesundheitsminister Michail Muraschko. „Wir sehen, dass in der Struktur, darunter der letalen Ausgänge, 85 Prozent Menschen über 60 Jahre sind“, teilte der Minister mit. Daraus kann man die Schlussfolgerung ziehen, dass in diesem Jahr das Risiko einer Zunahme der Zahl der an COVID-19 verstorbenen Bürger im Alter von 60 Jahren und mehr bis auf mehrere Hunderttausend besteht. Es kann dabei um 300.000 bis 400.000 Menschen gehen.

Dies ist aber, was noch einmal angemerkt sei, eine Schätzung auf der Grundlage jener Tendenzen, die derzeit die Statistik deutlich macht. Sagen wir es einmal so – unter Berücksichtigung anderer gleichwertiger Bedingungen. Solch einen drastischen Anstieg sollen die Vakzinierung und Revakzinierung verhindern. Derweil besteht eine bestimmte Zeitspanne zwischen der Impfung und dem Beginn jener Immunität, dank der sich die Risiken für einen schweren Verlauf der Krankheit verringern sollten. Vor dem Hintergrund solch einer Entwicklung der Ereignisse im Zusammenhang mit der Coronavirus-Sterblichkeit kann man eine weitere Verlangsamung der Zunahme der Gesamtzahl der Bürger im Alter von 60 Jahren und mehr erwarten.

Es sei präzisiert: Die zu beobachtende Verlangsamung hat mehrere Ursachen. Aber eine von ihnen wird in diesem Jahr nicht mit COVID-19 in einem Zusammenhang stehen. So wurden bereits zu Beginn dieses Jahres im Land rund 2,1 Millionen Bürger im Alter von 59 Jahren gezählt, während es ein Jahr zuvor – wie bereits erwähnt – 2,3 Millionen waren. Dies bedeutet, dass im Jahr 2022 weniger Menschen in die Gruppe der 60jährigen kommen werden. Wenn man einmal annimmt, dass es die Pandemie nicht gibt, so könnte man damit rechnen, dass die Zahl der Verstorbenen im Alter von 60 Jahren und älter etwa 1,4 Millionen ausmacht – wie die in den Jahren 2017, 2018 und 2019 der Fall gewesen war. Folglich würde sich die Gesamtzahl der Personen im Alter von über 60 Jahren zu Beginn des kommenden Jahres um etwa 700.000 Menschen erhöhen (im Jahr 2019 erreichte die Zunahme 800.000).

„Russlands Bevölkerungsstruktur wird von den Folgen historischer Ereignisse der vergangenen Jahrzehnte geprägt. Und wenn wir über die Bevölkerung über 60 Jahre sprechen, so wurde sie im letzten Jahrzehnt durch die Nachkriegskinder aufgefüllt, deren Anzahl erheblich größer als die der „Kriegskinder“ war. Und folglich war ein Zustrom zur älteren Altersgruppe auszumachen“, erläuterte Jegorowa. „Danach aber wird der Zustrom zur älteren Altersgruppe zurückgehen, da sie durch die zahlenmäßig geringere Generation der 60er Geburtsjahre – „die Kinder der Kriegskinder“ – aufgefüllt wird. Und ohne die Coronavirus-Pandemie wird sich die ältere Bevölkerung durch die Verringerung des Zustroms derjenigen, die diese Altersgrenze überschritten haben, verringern“.

Wir leben aber unter den Bedingungen der Pandemie. Dennoch muss angenommen werden, dass, selbst wenn die Zahl der an COVID-19 verstorbenen Betagten in diesem Jahr auf dem Stand von 2020 bleibt, die Zahl der Bürger ab 60 Jahre im Jahr 2022 nur um ca. 400.000 Menschen zunehmen wird. Die pessimistischere Prognose weist gar nur eine Zunahme von 100.000 aus, da die aktuelle Statistik demonstriert, dass die Zahl der COVID-19-Todesfälle erheblich stärker zunimmt.

Jeder derartige Fall ist unter anderem auch ein „Herausfallen“ aus dem Rentensystem Russlands. Legt man einmal eine Monatsrente von 15.000 Rubel zugrunde, so sind für einen Rentner im Jahr 180.000 Rubel aus dem Rentenfonds des Landes erforderlich. Und wenn nicht 700.000 Bürger Russlands in diesem Jahr, sondern nur 400.000 das Rentenalter erreichen, so bedeutet dies, dass das Rentensystem 50 bis 110 Milliarden Rubel weniger Alters- und Sozialrenten auszahlen muss.

Zu dem sei die handgemachte Verringerung der Anzahl der Rentner im Land im Verlauf der Anhebung des Rentenalters hinzugefügt. Als ein Ergebnis dieser beiden Tendenzen verringert sich die Anzahl der Altersrentner in Russland: Im vergangenen Jahr ist sie um beinahe 600.000 Menschen zurückgegangen. Danach wird dieser Prozess allem nach zu urteilen zunehmen.