Noch bis zum 20. Dezember erfolgt in den schwer zugänglichen Regionen Russlands eine Bevölkerungszählung, deren Hauptetappe am Sonntag, dem 14. November abgeschlossen wurde. Kurz davor hatte das offizielle Statistikamt Rosstat eine viele schockierende Erklärung verbreitet, wonach bereits wenige Tage vor Abschluss der Hauptetappe beinahe alle Bürger des Landes an ihr teilgenommen hätten. Die Experten der „NG“, die selbst weder von Mitarbeitern der Bevölkerungszählung aufgesucht worden noch online die 33 vorgesehenen Fragen beantworten konnten, sind der Auffassung, dass die bekanntgegebenen Zahlen in Vielem die Bevölkerungszählung diskreditieren würden, denn solch eine Erfassung der Bürger des Landes konnte bei allen vorangegangenen Bevölkerungszählungen nicht erreicht werden.
Über 99 Prozent der gesamten geschätzten Einwohnerzahl Russlands hätten an der Bevölkerungszählung teilgenommen, erklärte der stellvertretende Leiter von Rosstat Pawel Smelow wenige Tage vor Abschluss ihrer Hauptetappe. „Wir sehen, dass sich das Volk recht aktiv im ganzen Land erfassen lässt. Bereits zum gegenwärtigen Zeitpunkt haben wir praktisch die gesamte Bevölkerung gezählt“, sagte Smelow in einem Interview des staatlichen TV-Kanals „Rossia 24“.
Die Hauptetappe der Gesamrussischen Bevölkerungszählung erfolgte vom 15. Oktober bis einschließlich 14. November. Die populärste der drei möglichen Formen für eine Weitergabe der Daten wurde das traditionelle Gespräch mit dem jeweiligen (Bevölkerungs-) Zähler, meldete die russische staatliche Nachrichtenagentur TASS unter Berufung auf Smelow. „Die einfachste und bequemste war das Ausfüllen des entsprechenden Fragebogens auf dem Internetportal www.gosuslugi.ru (Staatliche Dienstleistungen). Die zweite, zum Punkt für die Bevölkerungszählung, von denen sich ein Teil in den Multifunktionalen Zentren befanden. Und die dritte – unsere Standard- und traditionelle Form – war, den Bevölkerungszähler zu Hause zu erwarten. Und diese hatte gerade die größte Anzahl der Menschen genutzt. Die Menschen haben sich doch daran gewöhnt, im Gespräch Informationen über sich mitzuteilen“, sagte der hochrangige Vertreter von Rosstat. Nach Aussagen Smelows hätten das Internetportal für die staatlichen Dienstleistungen um die 25 Millionen Menschen im Verlauf der Bevölkerungszählung genutzt. „Dies sind etwas weniger als 20 Prozent der Bevölkerung“, präzisierte er.
Smelow teilte mit, dass man die erste Bilanz im Januar ziehen werde. Rosstat werde Angaben über die gesamte Bevölkerungszahl des Landes vorlegen. Und danach würden im Verlauf des ganzen Jahres zusätzliche Daten vorgelegt werden. Und Ende des Jahres 2022 werde man Angaben über die nationale Zusammensetzung und die Beherrschung von Sprachen publizieren.
„Viele meiner Bekannten konnten nicht an der Bevölkerungszählung teilnehmen. Die Internetseite www.gosuslugi.ru hatte sie einfach nach dem Ausfüllen mehrere Seiten „herausgekickt“. Und ihnen reichte es nicht an Geduld, um alles von Neuem zu beginnen. Aber die Sache besteht nicht einmal darin“, sagte der „NG“ der Direktor des Zentrums für Konjunkturforschungen der Moskauer Hochschule für Wirtschaftsforschungen Georgij Ostapkowitsch. „Nicht eine einzige Bevölkerungszählung hat in der gesamten Menschheitsgeschichte seit den Zeiten Christi selbst unter Androhung riesiger Strafen und unter Gewehrläufen einfach 99 Prozent erreicht, über die Rosstat Meldung erstattete. Dies ist technisch unmöglich und löst deshalb Fragen aus. Wozu macht man dies, schließlich haben jetzt nicht das Jahr 1937, als Stalin nicht die Ergebnisse der Bevölkerungszählung gefallen hatten und er befahl, Statistiker zu erschießen. Da ging es aber um eine festgestellte Verringerung der Bevölkerungszahl. Und die ein paar Jahre später wiederholte Bevölkerungszählung demonstrierte einen Zuwachs von sechs Millionen Menschen“.
Nach Meinung des Experten sei selbst eine Erfassung von 82 bis 85 Prozent der Menschen durch die Bevölkerungszählung bereits eine große Leistung. „Die statistische Fehlerrate wird in jeglicher derartigen Untersuchung weitaus größer als einige Prozent ausmachen“, sagt Ostapkowitsch. „Meinte vielleicht Herr Smelow 99 Prozent der möglichen und notwendigen Anzahl von Teilnehmern an der Erfassung der Menschen, die praktisch eine zulässige statistische Fehlerrate und eine relative Repräsentativität der Beobachtung garantieren?“
Jurij Krupnow, Vorsitzender des Aufsichtsrates des Instituts für Demografie, Migration und regionale Entwicklung, zweifelt ebenfalls an den von Rosstat genannten Zahlen. „Die Zahl ist offenkündig eine überhöhte. Das Wichtigste besteht aber darin, dass es einfach unmöglich ist, ihre Glaubwürdigkeit zu beurteilen. Diese Veranstaltung ist in eine konzeptuelle Krise geraten. Man hatte die Bevölkerungszählung verlegt, ihre Durchführung fiel mit der vierten Welle der Coronavirus-Ansteckungen zusammen, ihr mangelte es an Werbung und an einer Finanzierung. Vergleichen Sie die für sie bereitgestellten 32 Milliarden Rubel (und dies für alle 85 Regionen und für die gesamte Bevölkerung) beispielsweise mit der FIFA-Fußball-Weltmeisterschaft (von 2018), die nur ein Dutzend der Regionen und zehn Prozent der Bevölkerung tangierte. Ausgegeben wurden aber für diese rund eine Billion Rubel. Das heißt: Der Status der Bevölkerungszählung, einer kritisch relevanten staatlichen Maßnahme, ist komplett eingebrochen. Gleichfalls ist nach wie vor die Frage einer obligatorischen Teilnahme an der Bevölkerungszählung nicht gesetzgeberisch geklärt worden, obgleich Rosstat solch eine Aufgabe all die letzten 20 Jahre gestellt hatte“.
„Fügen Sie dazu die negativen sozialen Veränderungen hinzu, die sich in den letzten Jahrzehnten in der Gesellschaft vollzogen haben: Vor 40 Jahren erlebte der Bevölkerungszähler keine verschlossenen Hauseingänge, Türsprechanlagen, massive Türen auf den Etagen, bewaffnete inadäquate Bürger unter Drogeneinfluss, Wohnungen, in denen dutzende Migranten hausten“, sagt Krupnow.
Früher hatte Smelow gegenüber Medienvertretern berichtet, dass im Jahr 2017, als das Amt nur begonnen hatte, sich auf die Durchführung der Bevölkerungszählung in der „traditionellen“ Art und Weise vorzubereiten, dass ihr ursprünglicher Kostenvoranschlag 65 Milliarden Rubel ausgemacht hätte. Im Endergebnis hat sie aber weniger als 32 Milliarden Rubel gekostet.
Anfang Oktober hatte eine Umfrage des Internetportals www.superjob.ru ausgewiesen, dass jeder fünfte wirtschaftlich aktive Bürger Russlands den Bevölkerungszählern nicht die Tür öffnen werde. Jetzt, nach Abschluss der Hauptetappe der Bevölkerungszählung, äußern Russlands Bürger in den sozialen Netzwerken massenhaft Zweifel an der von den Offiziellen genannten Reichweite und Erfassungsrate. Einerseits erzählen die Offiziellen, dass die Bevölkerungszählung im Interesse der Bevölkerung erfolge. Dies betreffe besonders die Einwohner der Dörfer, von denen man erfahren wollte, ob sie eine warme Toilette (also nicht auf dem Hof – Anmerkung der Redaktion) haben und was für eine Stärke die Mauern ihres Hauses aufweisen. Andererseits entwickelte man in den Regionen stürmische Kreativität, um die Bevölkerung für die Aktion zu gewinnen. So hatte man Preise für die Teilnahme ausgelobt, beispielsweise im Kuban-Gebiet, wo die Stadtverwaltung von Krasnodar und die einheimische Basketball-Top-Mannschaft den Gewinnern einer entsprechenden Lotterie unter den an der Bevölkerungszählung teilgenommenen Bürgern Bälle mit Autogrammen der Spieler versprochen hatte.
Medien berichteten von Bevölkerungszählern, die erzählten, wie sich auf ihren Planchet-Computern (Tablets) ohne ihr Wissen die Anzahl der von ihnen zugeordneten und erfassten Wohnungen aus realen 30 Prozent mit einem Schlage zu 99 Prozent verwandelt hätten. Und Leser des jakutischen Nachrichtenportals www.news.ykt.ru waren darüber erstaunt, wie Rosstat so viele Fragebögen erhielt, wenn weder sie selbst noch ihre Verwandten oder Bekannten an der Bevölkerungszählung teilgenommen hatten. „Es gibt nicht einen Bekannten, der überhaupt von dieser Bevölkerungszählung gewusst hatte“, heißt es in einem der Kommentare. „Ich kenne keine idiotischere Maßnahme in der Hochzeit der vierten Corona-Welle. Ich habe den Bevölkerungszähler nicht reingelassen“, gibt ein anderer Kommentar einen verbreiteten Ablehnungsgrund wieder.
„Ich kann in keiner Weise diese Zahlen kommentieren, da der Prozess der Bevölkerungszählung kein transparenter ist. Und das Vertrauen in die Statistik ist nach den mehrjährigen Skandalen und den Personalveränderungen im Statistikamt bisher nicht wiederhergestellt worden“, erklärte gegenüber der „Deutschen Welle“ der Soziologe Dr. Andrej Milechin, Leiter der Forschungsholding „Romir“. „Wir selbst sind seit langem zum Regime eines offenen Prozesses der Datenerfassung übergegangen, bei dem unsere Partner und Auftraggeber online sehen, wie das Sammeln der Informationen erfolgt, wie sie erfasst und aufbereitet werden und wie ihre Prüfung vorgenommen wird“.
An der Bevölkerungszählung hätten 99 Prozent der mit Stand von Anfang August des Jahres 2021 geschätzten Bevölkerungszahl unter Berücksichtigung einer möglichen Doppelung der Fragebögen, die über die verschiedenen Kanäle – auf der Internetseite www.gosuslugi.ru, über den Kontakt mit Bevölkerungszählern oder an stationären Punkten für die Bevölkerungszählung – ausgefüllt wurden, teilgenommen, bekräftigte gegenüber der „NG“ der Leiter des Rosstat-Pressedienstes Igor Wagan.
„Wir verwenden den Begriff geschätzte Zahl als eine Basis für das Monitoring des Verlaufs der Bevölkerungszählung. Rosstat berechnet sie auf der Grundlage der Daten der Bevölkerungszählung von 2010. Danach wird sie monatlich unter Verwendung von Daten der Standesämter über die Geburten und Todesfälle, aber auch von Daten des Innenministeriums über die Migration, über die Anzahl der Ein- und Ausgereisten präzisiert. Das heißt, wir haben eine geschätzte Bevölkerungszahl. Wir sprechen nicht davon, dass über 99 Prozent aller Lebenden erfasst worden sind. Dazu kommen auch Fälle einer Doppelung, wenn ein in eine andere Stadt gefahrener Student Angaben über die Eltern macht, und sie über ihn. Gerade um diese Doppelungen auszuschließen, brauchen wir bis zum Januar des Jahres 2022 Zeit. Obgleich die meisten Fälle einer Doppelung das Informationssystem von Rosstat schnell zu beseitigen erlaubt“.
Nach Aussagen von Igor Wagan hatte es bei der vorangegangenen Bevölkerungszählung auch um die drei bis vier Prozent der Bevölkerung gegeben, die es entweder abgelehnt hatten, an ihr teilzunehmen, oder nicht von Bevölkerungszählern angetroffen worden waren. „Die Verwendung von Tablet-Computern und die Nachverfolgung der Arbeit der Bevölkerungszähler mit Hilfe eines Systems zur Geolokalisierung bedeuten jetzt, dass die Bevölkerungszähler ihre Arbeit akkurater durchführen. Von den unlauteren haben wir uns getrennt“, sagte er. „Das Gesetz erlaubt uns, über die Menschen, die nicht an der Bevölkerungszählung teilgenommen haben, nur die Daten über das Alter und das Geschlecht zu erfassen. Dies ist natürlich bedauerlich, erlaubt jedoch, ein Bild vom Geschehen im Land und in den Regionen zu gewinnen. Und das Wichtigste, dies erlaubt dem Staat, wichtige strategische, darunter Investitionsentscheidungen zu treffen. Im Jahr 2020 – die Entscheidung über die Einführung des Programms des „Mutterschaftskapitals“. Nun werden eventuell die Daten über den Wohnraumfonds helfen, Programme für Instandsetzungen zu erstellen. Viele Regionen erwarten mit Ungeduld unsere Informationen über die Gasversorgung des privaten Sektors“.
Experten haben allerdings auch andere Versionen, weshalb solche hohen Zahlen „hingemalt“ werden müssen. Der Politologe Andrej Gusij betonte in seinem Telegram-Kanal, dass dies in den Regionen, unter anderem in Wolgograd, möglicherweise mit dem Wunsch zusammenhänge, mit allen Mitteln für das regionale Zentrum den Status einer Millionenstadt zu bewahren. Er betont, dass die Bevölkerungszahl von Wolgograd mit jedem Jahr geringer werde. Während laut Angaben von Rosstat im Jahr 2020 in ihr durchschnittlich 1.006.880 Menschen lebten, so waren es zu Beginn des laufenden Jahres bereits 1.004.763 Menschen. Es sei nicht auszuschließen, dass die Offiziellen die Möglichkeit einer Vergrößerung von Wolgograd prüfen, wofür auch der Status einer Millionenstadt gebraucht werde. Obgleich man das Verwaltungsgebiet Wolgograd bei einer Regierungssitzung als eine Region mit einem hohen Tempo der Bevölkerungszählung hervorgehoben hatte, seien laut Angaben unabhängiger Befragungen in den sozialen Netzwerken die Ergebnisse der staatsbürgerlichen Aktivität der Wolgograder weitaus geringer als die offiziell genannten 75 Prozent gewesen.