Das Hauptergebnis des Gipfeltreffens in Genf ist: Die USA und Russland haben ein Gespräch miteinander, tête-à-tête begonnen. Daneben nehmen sie einen Dialog über die strategische Stabilität auf und starten faktisch die diplomatischen Beziehungen aufs Neue, die beinahe bis zu den Grundfesten in den Jahren des Sanktionskrieges zerstört wurden. Wahrscheinlich wird ein Format für einen gemeinsamen Schutz des Cyberraums vor Hackern gefunden.
Eine der erstaunlichsten Besonderheiten des öffentlichen Diskurses in Amerika am Vorabend des Treffens in Genf war das Eingestehen der Unfähigkeit Bidens, Putin bei Vier-Augen-Gesprächen Paroli zu bieten. Genau solche Zweifel wurden auch vor drei Jahren vor der Begegnung des damaligen USA-Präsidenten Donald Trump mit Putin in Helsinki geäußert.
Wann aber passierte dies, dass die Amerikaner anfingen, ihre Präsidenten für geistig unfähige für harte und prinzipielle Verhandlungen mit dem harten und prinzipiellen Gegner zu halten? Was ist denn das für ein politisches System, das Spitzenkräfte nach oben bringt, die von vornherein ihren Kontrahenten bei den entscheidenden Fertigkeiten eines Politikers – beim Erreichen der Ziele im Interesse der Gesellschaft auf dem Wege von Verhandlungen – unterlegen sind bzw. nachstehen? Bringen etwa die Absolutierung der Rolle der (gesellschaftlichen und Macht-) Institute und deren Dominanz über dem Faktor der Persönlichkeit in der Politik dazu? Oder fördert dies vielleicht der Mechanismus eines Sanktionsdrucks auf die Gegner, der nach dem Prinzip wirkt „Stärke ist da, Geist ist unnötig“? Nicht zufällig haben viele Kommentatoren – besonders auf dem TV-Kanal Fox News – gejammert, dass man die Schwäche Bidens in Peking, Teheran und Pjöngjang zu sehen bekommen wird.
Zu einem Allgemeinplatz der Überlegungen der Analytiker unterschiedlichsten Couleurs auf beiden Seiten des (Atlantischen) Ozeans wurde die Schlussfolgerung: Putin habe durch das Treffen mit Biden offenkundig gewonnen. Zumindest vermochte keiner auszuweisen, wo er verloren oder zumindest seine Position verschlechtert hatte.
Zu Ende gegangen ist die kurze Epoche der Wahrnehmung Russlands durch die amerikanischen Demokraten mit dem leichten Zuspiel von Präsident Barak Obama als eine Regionalmacht. Trump hatte solch eine Auffassung nicht vertreten. Die Demokraten im Kongress aber – und das Wichtigste in den Mainstream-Medien – hielten sich an die Version Obamas. Die letzten zehn Jahre haben jedoch überzeugend demonstriert, dass Russland eine Großmacht hinsichtlich seiner Fähigkeit ist, an jeglichem Punkt des Planeten die Interessen der USA zu beeinflussen. Und beachten Sie, ohne Kernwaffen. Und als Biden das Verhandlungsformat „tête-à-tête“ im Interesse „voraussagbarer und rationaler Beziehungen“ pries, fügte er hinzu: „der beiden Großmächte“.
Biden hatte Putin vor Genf eine schmeichelnde Charakteristik gegeben: „ein kluger, harter und würdiger Gegner“, womit er einen Schlussstrich unter die Dämonisierung unseres Präsidenten als „einen Mann aus einem Bunker“, der die Verbindung mit der Realität verloren habe. Solch eine Herangehensweise hatte besonders den radikalen politischen Opponenten Putins in Russland gefallen.
Es scheint, dass in Genf ein erster Schritt dazu unternommen wurde, was man als friedliche Koexistenz bezeichnen kann. Viele amerikanische Experten urteilten am Tag des Gipfeltreffens so: Nun, natürlich bewegen uns die Menschenrechte und -freiheiten in Russland. Aber so war es auch 1945 und wird es möglicherweise im Jahr 2045 sein. Dies ist ein Problem der russischen Gesellschaft. Wir müssen dies unbedingt den russischen Offiziellen direkt ins Gesicht sagen. Jedoch haben wir pragmatische Interessen und konkrete Probleme, die gemeinsame Vorgehensweisen verlangen.
Die Pressekonferenz Putins nach den Gesprächen wurde durch unseren Präsidenten dafür genutzt, die internationale und russische Öffentlichkeit mit einer Reihe der eigenen nichtwidersprechenden Narrativen bekanntzumachen, die viele amerikanische Vorwürfe uns gegenüber erklären: von der Opposition und den ausländischen Agenten bis zu den Cyberattacken vom Territorium der USA, Kanadas und Großbritanniens. Eine Übersicht der führenden westlichen Medien zeigte, dass die Journalisten, denen Putin die eigene Version der Wurzeln und der Herkunft vieler Spannungspunkte dargelegt hatte, ihre Leser nicht mit seiner Position vertraut gemacht haben. Und da man russische Journalisten im Geiste der liberalen Glasnost, Transparenz und eines offenen Meinungsaustauschs überhaupt nicht zur Pressekonferenz Bidens akkreditiert hatte, haben wir auch gar nicht erfahren, ob er die Argumente Putins vernahm.
Das Treffen in Genf auf Initiative Bidens ist eine Widerspiegelung des Vorhandenseins vernünftig denkender Kräfte in den USA, die bereit sind, die bilateralen Beziehungen zu normalisieren. Einschließlich einflussreicher Wirtschaftsakteure. In dieser Phase des globalen Wirtschaftszyklus mit dem stabilen Ansteigen der Preise für Erdöl und Rohstoffe haben die Amerikaner begriffen, dass Russland viel Geld haben wird. Die Sanktionen werden sich als ein Schuss ins eigene Knie erweisen. Putin wird ein spürbares Haushaltsplus in der gesamten Amtszeit von Präsident Biden bekommen. Ergo muss man sich einigen.
Die scharfsichtigsten Analytiker und Beobachter sind, nachdem sie keine offensichtlichen Gründe für solch ein Treffen auf höchster Ebene ausgemacht hatten, zu dem Schluss gelangt: All dies erfolgt im Rahmen der großen amerikanischen Strategie. Und die große amerikanische Strategie zielt auf eine systematische, allseitige und anhaltende Zügelung Chinas ab. Für den Erfolg dieser Strategie ist es prinzipiell wichtig, keine bündnisartige Annäherung von Peking und Moskau zuzulassen. Alle verstehen, dass, solange Xí und Putin an der Macht sind, ist es wenig wahrscheinlich, Russland von China zugunsten des Westens loszureißen. Aber schließlich gibt es doch keine ewigen Staatsoberhäupter…