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Blutiges Sandarmoch


Der 5. August ist der Tag des Beginns einer Operation entsprechend dem NKWD-Befehl Nr. 00447 „Über die Operation zur Repression ehemaliger Kulaken, Krimineller und anderer antisowjetischer Elemente“. An diesem Tag begann vom Wesen her eine der wütendsten Etappen des Großen Terrors, die unter anderem auch hunderten Literaten das Leben kostete und zerstörte. Zum Gedenktag erklärt wurde der 5. August im Jahr 1998 an der damals gerade erst entdeckten Hinrichtungsstätte in dem karelischen Waldgebiet Sandarmoch, das sich 19 Kilometer von Medweschjegorsk, der Hauptstadt des (ehemaligen) Belbaltlags (des Weißmeer-Baltischen Lagers im System der Gulag-Strafgefangenenlager – Anmerkung der Redaktion), befindet. In diesen Tagen kommen gewöhnlich an den Ort, wo mehrere hundert schuldlos angeklagte Menschen vieler Nationalitäten, Religionen und Konfessionen sowie Berufsgruppen ums Leben kamen, Gäste aus Russland, der Ukraine, Georgien, dem Baltikum, aus Deutschland, den USA u. a. zusammen. In dem stillen Kiefernwald, indem aus irgendeinem Grunde überhaupt keine Vögel zu hören sind, befinden sich an Bäumen kleine Schilder mit den Namen Ermordeter, hier und da – Kreuze mit einem kleinen Dach und punktuell Findlinge zur Erinnerung an die hier umgebrachten Finnen, Ukrainer, Tataren, Polen, Aserbaidschaner, Juden, Tschetschenen, Inguschen usw. 236 Erschießungsgruben, 6241 Opfer. Darunter 1111 Verurteilte, die aus dem Lager auf den Solowezki-Inseln hergebracht worden waren. Ihren Verwandten hatte man verlogene Nachrichten darüber geschickt, dass der eine oder andere aufgrund von Influenza oder Masern im Krieg verschieden sei. Tatsächlich aber wurden sie alle zu Tode gefoltert, zusammengeschlagen, gefesselt, mit Gewehrschäften bewusstlos geschlagen, in den nächtlichen Wald gebracht und stapelweise im Erdboden verscharrt. Den Begräbnisort, mit dessen Auffinden sich die Sammler der Namen von Opfern des sowjetischen Terrors Irina Flige, Iwan Tschuchin und andere Enthusiasten beschäftigten, fand der Historiker Jurij Dmitrijew aus Petrosawodsk (Hauptstadt der russischen Teilrepublik Karelien – Anmerkung der Redaktion), der nun bereits das fünfte Jahr auch selbst ein politischer Gefangener ist. Und heute ist gerade die rechte Zeit, um sich der Namen zumindest einiger Menschen zu erinnern, die in diesem Wald verschwanden. Dies ist die Literaturkritikerin und Verehrerin von Akademiemitglied Nikolaj Marr, Anna Beskina (34 Jahre). Dies ist Jewgenija Mustangowa (32 Jahre), auch eine Kritikerin und Leiterin von Seminaren für Literaturkritik beim Leningrader Schriftstellerverband. Sie hatte man sich nach ihrem Ehemann geholt, dem zur Nationalität der Lappen gehörenden Georgij Gorbatschow, einem typischen randalierenden Proleten-Schreiberling (er hatte Michail Bulgakow, Jewgenij Samjatin und andere „Trittbrettfahrer“ angegriffen). Freilich, dies hatte ihn nicht gerettet. Man erschoss ihn. Festgenommen hatte man auch den Kritiker Michail Meisel (38 Jahre), den möglichen Prototyp von Baron Meigel aus „Der Meister und Margarita“ und Leiter der Kritik-Abteilung der Zeitschrift „Literarischer Zeitgenosse“ sowie Rektor der Arbeiter-Literaturuniversität bei der Leningrader Filiale des Verbands der sowjetischen Schriftsteller. Ihn brachte man gleichfalls in Sandarmoch um. Und die in Freiheit Gebliebenen hatten — wie auch heutzutage — angenommen, dass es keinen Rauch ohne Feuer gebe. Am Vorabend dessen, als man Mustangowa und Meisel geholt hatte, schrieb Olga Bergholz in ihr Tagebuch: „Weder Shenja noch Meisel haben nicht so gehandelt, wie sie handeln mussten – sie haben sich nicht distanziert, haben Gorbatschow nicht verflucht. Wenn ich aber darüber nachdenke, dass ich am 31. November 1934 mit diesem Dreck am Swir, auf einer Bühne, in einem Coupe zusammen war, und am 1. Dezember, als man Kirow (Sergej Kirow, ein bedeutender sowjetischer Staats- und Parteifunktionär., der als Gefolgsmann Stalins galt – Anmerkung der Redaktion) umbrachte. Und er hatte wahrscheinlich davon gewusst, was in Leningrad vorbereitet wird. Mir wird vor mir selbst eklig“.

Unter den in Sandarmoch Umgebrachten waren sowohl der Rostower Poet Valentin Wartanow (28 Jahre) als auch der Schriftsteller Leonid Grabar-Schpoljanskij (36 Jahre), den viele mit Michail Sostschenko verglichen hatten. Zu einer der 236 Gruben hatte man auch den tscherkessischen Schriftsteller Khalid Abukow (37 Jahre), den Begründer der tscherkessischen Literatur, gebracht und ihm eine Kugel ins Genick gejagt. 1930 schreibt er einen Roman über den Sieg des Sozialismus in seiner Heimat („An den Ufern des Selentschuk“), 1932 wird er zum Direktor des nationalen Gebietsverlages, 1934 – zum ersten Vorsitzenden der Tscherkessischen Abteilung des Schriftstellerverbands der UdSSR und 1935 – zu einem Teil des GULAG-Hackfleischs. Auch dort, in Sandarmoch, wurde der wegen einer Beteiligung am Bund zur Befreiung der finnischen Völkerschaften angeklagte große udmurtische Poet, Prosaiker, Dramaturg, Ethnografie-Wissenschaftler, Folklorist, der nationale und gesellschaftliche Aktivist sowie Begründer der udmurtischen Kinderliteratur Kuzebai Gerd (39 Jahre) umgebracht. Er hatte auch unter den Pseudonymen V. Adjami, Gerd K. P., Gärd K. und I. Sjumori geschrieben. Gerd hatte unter anderem in die udmurtische Poesie neue Formen vom Sonett bis zum Triolett eingebracht, eine ganze Reihe von Schulbüchern verfasst und eine Vielzahl von Volksliedern zusammengetragen. Er hatte sich verteidigt: „Ich wurde dafür angeklagt, dass ich votjakische (frühere Bezeichnung für udmurtisch – Anmerkung der Redaktion) Lieder unter Wahrung der Dialekt-Besonderheiten (dies verlangt die Wissenschaft) herausgab. Ich wurde des Nationalismus bezichtigt, des „demonstrativen Auftretens gegen eine einheitliche Literatursprache“ usw.“. Und man hatte in der Tat bereits ab Ende der 20er Jahre angefangen, Gerd offiziell in die Mangel zu nehmen, bis es mit einem Urteil zum Tode durch Erschießen 1933 beendet wurde. Laut Gerüchten soll damals (Maxim) Gorki zu seiner Verteidigung aufgetreten sein. Und die Erschießung wurde durch zehn Jahre Lagerhaft ersetzt. Doch vor dem Henker-Staat hatte sich der Poet dennoch nicht retten können. Genauso wie auch der Lyriker und Archivexperte Nikolaj Chrisanfow (39 Jahre), der Märchen und Gedichte von Puschkin in den livvischen Dialekt der karelischen Sprache übersetzt hatte. Und wie auch der Kosaken-Poet und das Mitglied der Vereinigung „Poeten-Klause“ Michail Skatschkow, der zu seinem Unglück aus der Emigration in die UdSSR zurückgekehrt war. 1930-1931 war er der verantwortliche Sekretär des Moskauer Stadtkomitees der Schriftsteller, politischer Redakteur von Glawlit (Hauptverwaltung für die Angelegenheiten der Literatur und des Verlagswesens, eine oberste Zensureinrichtung für Veröffentlichungen – Anmerkung der Redaktion), nimmt an der Herausgabe der Großen Sowjetischen Enzyklopädie teil, gerät 1933 auf die Solowezki-Inseln und 1937 in das todbringende karelische Waldgebiet.

Sandarmoch ist Grabstätte für viele markante Vertreter der sogenannten Hingerichteten Wiedergeburt der Ukraine. Dies war ein Symbol der Nation, das im sowjetischen totalitären Sack zum Ersticken gebracht wurde. Unter ihnen waren der Lyriker Wassilij Atamanjuk (40 Jahre), der Poet Marko Woronij (33 Jahre), dessen Vater ebenfalls ein Poet war. Ja und der Großvater mütterlicherseits war ganz und gar einer der Autoren der ukrainischen Hymne. Der Anführer der Gruppe der Neoklassiker (die auf die antike und westliche Literatur ausgerichtet waren), der Lyriker und Literaturwissenschaftler Mykola Serow (37 Jahre). Der Leiter der literarischen Organisation „Westliche Ukraine“, der Schriftsteller Miroslaw Irtschan (40 Jahre). Der Schriftsteller Michail Kosoris (55 Jahre). Der Prosaiker, Literaturkritiker, Minister für Bildungswesen der Ukrainischen Volksrepublik sowie Herausgeber und Chefredakteur der Zeitschriften „Neue Wege“ Anton Kruschelnyzkyj (59 Jahre). Der Dramaturg und Präsident der Freien Akademie proletarischer Literatur Mykola Kulisch (44 Jahre). Der Poet Andrej Paniw (38 Jahre), einer der Anführer der Literaturvereinigung von Dorfschriftstellern „Der Pflug“. Der Gefangenenwagen war 1935 zu seinem Haus „Das Wort“ in Charkow gekommen. Aus diesem Haus einer Schriftstellerkooperativen hatte man so viele in unbekannter Richtung weggebracht und an die Wand gestellt, dass man im Volk das Haus „Das Wort“ als „Krematorium“ bezeichnete.

Durch die staatliche Maschinerie kamen einer der Begründer des ukrainischen Romans, Walerjan Pidmohylnyj (36 Jahre), der Liebhaber der freien Versform sowie Lyriker und Literaturtheoretiker Walerjan Polischtschuk (40 Jahre), der Schriftsteller und Publizist Klym Polischtschuk (36 Jahre), der den ersten ukrainischen Buchladen in Petersburg leitete, der später in den Verlag „Drukar“ umgewandelt wurde, der Schriftsteller Oleksa Slissarenko (46 Jahre), der Poet Pawlo Fylypowytsch (46 Jahre), der Redakteur und Essayist Jewgenij Tschernjak (42 Jahre), der Prosaiker Wladimir Schtangej (42 Jahre), der Schriftsteller und Szenarist Michail Jalowoj (42 Jahre) und der Schriftsteller Grigorij (Hryhorij) Epik (36 Jahre) ums Leben. Natürlich, nicht alle waren geistesstark. Epik beispielsweise hatte im Unterschied zu Kollegen sofort seine Zugehörigkeit zu einer von den Tschekisten erfundenen terroristischen Organisation eingestanden und frappierte die damaligen Beamten mit einem Reue-Schreiben, in dem er aufruft, sowohl sich als auch Kollegen wie räudige Hunde abzuknallen. Diesen Brief verlas man auf einer Plenumssitzung des Vorstands des Schriftstellerverbands der Ukraine. Und in Briefen an seine Frau fantasierte Epik gnadenlos, dass er in der Freizeit angeblich klassische Literatur lese und an dem Band von Novellen „Solowezki-Erzählungen“ arbeite. Doch sein Ende wurde durch diese Fantasien und das Kapitulieren überhaupt nicht süßer…

Den Ort der Morde und Bestattungen all dieser Schriftsteller und noch weiterer tausender Menschen hatte der Waldbruder Jurij Dmitrijew gefunden, dem ich von ganzem Herzen baldige Freiheit wünsche.