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Braucht Russland ein Gipfeltreffen mit der Europäischen Union?


Bundeskanzlerin Angela Merkel, die sich möglicherweise unter dem Eindruck des in Genf erfolgten Treffens des russischen und des amerikanischen Präsidenten befindet, hört nicht auf, auf die Notwendigkeit von Gesprächen der EU mit Russland auf höchster Ebene zu beharren. „Die Beziehungen zwischen Russland und der Europäischen Union sind derzeit wirklich keine guten“, sagte sie vor den Teilnehmern der Deutsch-Französischen Parlamentarischen Versammlung in einer Videobotschaft. „Aber auch in Zeiten des Kalten Krieges hat es eine Kommunikation gegeben“. Nach Aussagen Merkels seien durch ein Schweigen („Sprachlosigkeit“ in der Formulierung der Bundeskanzlerin) solche Probleme wie die Cyberattacken, die Listen der „unerwünschten Organisationen“, die Situation in der Ukraine und in Weißrussland, aber auch in Syrien, im Iran und Libyen nicht zu lösen.

Ihre gemeinsame Initiative mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron hat beim jüngsten EU-Gipfel ein Fiasko aufgrund der Befürchtungen von Polen und der Länder des Baltikums erlitten, dass eine Einladung von Wladimir Putin nach Brüssel nicht nur ein ungerechtfertigtes Geschenk, das er bisher nicht verdient hätte, sondern auch ein „falsches Signal, das Russland zu weiteren „destruktiven Handlungen“ provozieren könne, sei. Als eine Alternative zum Summit beschlossen die EU-Länder, noch härter auf die „böswilligen“ Handlungen Moskaus zu reagieren und einen Plan für neue Straßmaßnahmen zu erstellen, der Wirtschaftssanktionen umfasst. Wobei „bisher ohne Verweise auf irgendwelche „Sünden“, sondern einfach auf Vorrat“, betonte der russische Außenminister Sergej Lawrow.

Während sich Angela Merkel anschickt, ihre Russland-Initiative mit Biden Mitte Juli in Washington zu erörtern, plädierte Putin in einem Gastbeitrag für die Zeitung „Die Zeit“ „für eine Wiederherstellung einer umfassenden Partnerschaft mit Europa“. Allerdings wird der Verzicht der EU auf ein Gipfeltreffen mit Russland unweigerlich Moskau zu der Schlussfolgerung veranlassen: Wenn es nicht gelingt, sich mit Brüssel zu einigen, so muss man den bilateralen Beziehungen mit Berlin, Paris, Rom und den anderen europäischen Hauptstädten, die Interesse für eine Zusammenarbeit bekunden, den Vorrang einräumen.

Dabei werden die Beziehungen mit der Europäischen Union als solche im Zustand einer Stagnation bleiben. Zumal Brüssel seit 2014 konsequent ausnahmslos alle Mechanismen zerstörte, die auf der Grundlage des Partnerschafts- und Kooperationsabkommen existiert hatten. Dies sind sowohl Gipfeltreffen, die zweimal im Jahr erfolgten (im Verlauf von zwanzig Jahren fanden davon 32 statt), als auch alljährliche Begegnungen der Regierung der Russischen Föderation mit den EU-Kommissaren sowie die Projekte zur Gestaltung von vier gemeinsamen Räumen und über 20 sektorale Dialoge und Jahrestagungen des Rates für Partnerschaft und Zusammenarbeit unter Beteiligung des russischen Außenministers und des Leiters der europäischen Diplomatie.

Wie in Moskau erklärt wird, würden sich die EU-Beamten überhaupt nicht von den Interessen der konkreten Mitgliedsländer leiten lassen, sondern eine politische Linie verfolgen, die den Bedürfnissen der überwiegenden Mehrheit der Staaten widerspreche, die mit Russland langjährige Wirtschaftsbeziehungen besitzen. Italien, Frankreich und die BRD verlieren mehr als die anderen durch die von Russophobie geprägte Haltung der Europäischen Union. Derweil bleiben die EU-Länder die führenden Wirtschaftspartner Russlands. Auf sie entfallen 38 Prozent dessen Außenhandels. Faktisch hat nicht ein europäisches Großunternehmen den russischen Markt verlassen, sondern versucht, sich an die „neue Normalität“ anzupassen.

Dennoch wäre ein Gipfeltreffen Russlands und der Europäischen Union recht nützlich. Wenn sich die Beziehungen von Nachbarn in konfrontative verwandeln, erlauben Begegnungen auf höchster Ebene den Seiten, sich hinsichtlich der gegenseitigen „roten“ Linie festzulegen. Nur nachdem man sie klar markiert hat, kann man auch Linien für eine vorrangige Zusammenarbeit skizzieren. Ja, und dann ergibt sich auch ein Bedürfnis für ein Gespräch auf höchster Ebene. Nach sieben Jahren Entfremdung wird nur ein klares politisches Signal von den Spitzenkräften der Seiten die praktische Tätigkeit der entsprechenden Ministerien, Institutionen, Korporationen, gesellschaftlichen Organisationen, Gewerkschaften, Bildungseinrichtungen u. a. in eine schöpferische Bahn lenken können.

Die Einberufung eines Gipfeltreffens EU-Russland wäre auch noch ein Signal für die internationale Staatengemeinschaft über mögliche Bewegungen und Veränderungen in den Beziehungen gewesen – sei es bei einer Liberalisierung des Visa-Regimes, bei einer Lockerung des Sanktionsdrucks, der Verringerung der Intensität des Informationskrieges, in Fragen der Verstärkung der europäischen Sicherheit oder wo auch sonst noch immer.