Die Bürger Russlands sparen am Essen. Viele können sich kein Gemüse und Fleisch erlauben. Und die Befürchtungen im Zusammenhang mit dem Coronavirus veranlassen, erneut Antikrisen-„Sparregeln“ in den Familien in Kraft zu setzen, in denen oft das Verbot für geliebte Delikatessen figurieren. Experten sind der Auffassung, dass man die soziale Unterstützung für die Bevölkerung forcieren müsse, da die zurückgehenden Einkommen und die verstärkte Unruhen der Bürger Russlands aufgrund der Unbestimmtheit in Bezug einer Rückkehr des Coronavirus verhindern können, operativ den Konsum wiederherzustellen.
Der Erlös von 96 Prozent der größten Treibhaus-Unternehmen Russlands ist um 25 Prozent und mehr eingebrochen, heißt es in einer Untersuchung des Einflusses der Pandemie auf die Branche, die die Vereinigung „Treibhäuser Russlands“ durchgeführt hat. 90 Prozent der Vertreter von Betrieben, die auf geschütztem Boden arbeiten, betonten den Rückgang der Nachfrage nach Gemüse aufgrund der Verringerung der Kaufkraft der Bevölkerung.
Bei mehreren Befragten haben die Verluste bei den Erlösen über 50 Prozent erreicht, sagte der Staatsduma-Abgeordnete und Präsident von „Treibhäuser Russlands“, Alexej Sitnikow.
Nach Meinung der meisten – 67 Prozent – der Vertreter der Gewächshausbetriebe ist zur Hauptursache der aktuellen Probleme in der Branche der Mangel an Unterstützung seitens des Staates geworden. Gleichfalls habe sich nach Auffassung von 17 Prozent der Unternehmen die „unlautere Preisbildung für die Erzeugnisse bei den Handelsketten“ negativ ausgewirkt. Sie hätten im April versucht, geringe Einkaufspreise zu diktieren. Und obgleich es im Mai gelungen sei, den Status quo in den Beziehungen mit den Handelsketten wiederherzustellen, seien aber nach Aussagen von Sitnikow die Frühjahrsmonate für die Gewächshausbetriebe verlorengegangen.
Der Einzelhandel hat seine eigenen Probleme. Nach der sprunghaft angestiegenen hektischen Nachfrage im März sind die Käufer „abgetaucht“. Im April sind mit dem Beginn der „Quarantäneferien“ die Lebensmittelverkäufe drastisch zurückgegangen.
Das Zentrum für makroökonomische Analyse und kurzfristige Prognostizierung informiert unter Berufung auf Daten des globalen Analyse-Unternehmens Nielsen, dass im russischen Einzelhandel eine Zunahme der Nachfrage nach billigeren Waren zu verzeichnen sei. Der Anteil der Nachfrage nach Waren aus dem unteren Preissegment sei in beinahe der Hälfte der Kategorien angestiegen. Der größte Anstieg des Absatzes im unteren Preissegment wird im Bezug auf Fleisch, Teigwaren-Produkte, Tee und Säften registriert. Während der Anteil des unteren Preissegments der Nahrungsmittel und Waren des täglichen Bedarfs von 16,9 auf 17,7 Prozent angestiegen ist (hochgerechnet auf das ganze Jahr), ist er in der Kategorie der Teigwaren-produkte von 19 auf 23 Prozent angewachsen. Und noch ein Beispiel – die Zunahme der Umsätze bei billiger Mayonnaise von 7,3 auf 9,5 Prozent. Der Direktor für die Arbeit mit dem Einzelhandel von „Nielsen Russland“, Konstantin Loktjew, hatte Journalisten zuvor darüber informiert, dass 24 Prozent der befragten Verbraucher auf den Einfluss der Pandemie auf die Einkünfte verwiesen hätten.
Die wirtschaftlichen Folgen der Coronavirus-Pandemie haben die Vorlieben der Russen in Richtung billigeren Brotes verändert, erklärte auch der Exekutivdirektor der Vereinigung der Hersteller und Lieferanten von Lebensmittelwaren „Rosprodsojus“, Dmitrij Wostrikow. „Es ergibt sich eine Transformation – ein Übergang zum billigeren Segment bei Beibehaltung des allerhöchsten Margen-Segments. Das heißt, man kann sagen, dass das mittlere Segment in Richtung der geringeren Kaufkraft der Bevölkerung umverteilt wird. Und ich denke, dass dieser Trend vorerst leider anhalten wird“, sagte er.
„Die Brotbäcker verstehen, dass man die Preise für die Erzeugnisse nicht anheben kann. Die Einkünfte der Bevölkerung sind auch zurückgegangen. Und bei einigen im Kleinunternehmertum, die zu existieren aufgehört haben, sind sie einfach ausgeblieben“, sagte Olga Ponomarjowa, Mitglied des Expertenrates des Staatsduma-Ausschusses für Agrarfragen und des wissenschaftlich-technischen Komitees des Landwirtschaftsministeriums. Und der Generaldirektor des Fleisch-Großbetriebs „Tscherkisowo“, Sergej Michailow, teilte mit, dass beinahe jeder sechste Bürger im Land sich nicht erlauben könne, Fleisch zu kaufen. Seinen Worten zufolge würden 20 bis 25 Millionen Russen maximal 50 Kilogramm Fleisch pro Kopf im Jahr verbrauchen, während 73 Kilogramm laut einer Schätzung des Gesundheitsministeriums notwendig seien. Seinen Worten zufolge gehe es dabei um die sozial ungeschützten Bevölkerungsschichten, deren Anteil zunehmen werde.
„Derzeit gibt es keine offizielle Statistik hinsichtlich der Bevölkerungseinkünfte im zweiten Quartal. Was mit ihnen seit April, als bei uns der „Lockdown“ begann, geschah, wird Rosstat (das Statistikamt Russlands – Anmerkung der Redaktion) erst Ende Juli mitteilen. Doch anhand indirekter Daten (beispielsweise des Rückgangs des Einzelhandelsumsatzes) kann man durchaus das Urteil abgeben, dass sich die Einkünfte – die Grundlage der Verbrauchernachfrage – ernsthaft verringert haben, was auch zu Veränderungen im Konsum der Russen führte“, erklärte Georgij Ostapkowitsch, Direktor des Zentrums für Konjunkturforschungen der Wirtschaftshochschule, gegenüber der „NG“.
Der Einzelhandelsumsatz bezüglich der Lebensmittelwaren verringerte sich im April 2020 um 15 Prozent im Vergleich zum März und etwa um 9 Prozent im Vergleich zum April des Vorjahres. Im Mai stieg er aber um 2,7 Prozent im Vergleich zum April an (das Handelsvolumen belief sich auf fast 1,3 Billionen Rubel), wobei er trotzdem um 8,6 Prozent geringer war als im Jahr zuvor.
„Nach unseren Schätzungen sind im zweiten Quartal die Einkünfte um 15 bis 17 Prozent eingebrochen. Und selbst wenn es keine Entwicklung gemäß dem schlimmsten Szenario im Zusammenhang mit einer zweiten Covid-19-Welle geben wird, wird entsprechend den Jahresergebnissen dennoch kein Plus herauskommen. Der Rückgang der realen, zur Verfügung stehenden Einkünfte wird 4 bis 5 Prozent ausmachen. Und dies sind riesige Geldsummen unter Berücksichtigung dessen, dass die gesamten Jahreseinkünfte der Russen 60 Billionen Rubel ausmachen“, sagt Ostapkowitsch. „Die Verringerung der Einkünfte setzt ein für jegliche Krise übliches Szenario in Gang: Die Bürger gehen von einem konsumorientierten Verhaltensmodell zu einem Sparmodell über. Die Haushalte legen ihre Reserven an und setzen ihre „Spar-“ Regel in Kraft, wobei sie Mittel für sie absolut notwendige Sachen bereitstellen und beispielsweise auf das Kaufen von Delikatessen verzichten, die sich vor der Krise selbst Familien aus den Reihen der sozialschwachen ein-, zweimal im Monat erlaubten.“ Sowohl der reale Verlust von Einkünften als auch die Gefahr, sie in der Zukunft vor dem Hintergrund der Unbestimmtheit der Entwicklung der Situation zu verlieren, übt auf die Menschen einen Druck aus.
Nach Aussagen des Experten unterscheide sich die gegenwärtige Krise von den vorangegangenen. Es gibt keine Probleme mit dem Bankensektor. Im Land sind Reserven akkumuliert worden. „Die Krise hat die Hauptfonds nicht zerstört. Die Qualifikation der Mitarbeiter hat sich nicht verringert. Deshalb wird sich nach Aufhebung der Beschränkungen und nach Beginn der Arbeit sowie vor dem Hintergrund des saisonbedingten Rückgangs der Preise für Gemüse und Früchte die Situation wiederherzustellen beginnen. Wenn aber die Unbestimmtheit mit der Epidemie bleibt, wird diese Wiederherstellung eine sehr langsame sein. Der Trend kann sich zum nächsten Jahr ändern, denn die Bürger werden beim Einkauf von Lebensmitteln noch lange psychologisch zurückhaltender sein“, meint der Experte.
Ostapkowitsch unterstreicht, dass es nicht um jenen unerheblichen Teil der Bevölkerung der Russischen Föderation gehe, der aus Zeitungen von der Krise erfahre und sich für die Preise für Lebensmittel nur aus Neugier interessiere. „Für die Mehrheit der Bevölkerung muss die soziale Hilfe seitens des Staates bis hin zur Einführung einer unbedingten Basiseinkunft verstärkt werden, die derzeit diskutiert wird, zum Beispiel in Europa. Für die Wiederherstellung der Nachfrage, ja und auch der ganzen Wirtschaft ist jetzt nicht das Wichtigste ein Wachstum des BIP, nicht die Herstellung von Anlagen und Technik. Jetzt sind eine Verringerung der Arbeitslosigkeit und ein Anstieg der Einkünfte weitaus wichtiger“, erläuterte Georgij Ostapkowitsch.
„Es ist offensichtlich, dass man entsprechend der Wiederherstellung der Einkünfte von einer Rückkehr zum früheren Konsummodell sprechen kann“, sagte der „NG“ Natalia Schagaida, Direktorin des Zentrums für Agrar- und Lebensmittelpolitik des Instituts für angewandte Wirtschaftsforschungen der Russischen Akademie für Volkswirtschaft und Staatsdienst. „Von einer Belebung kann man jetzt mit einem großen Vorbehalt sprechen. Es gibt sie, wenn man einen Wochenvergleich anstellt. Die Bürger saßen in der Isolation, haben nur das gekauft, was sehr nötig war. Jetzt fingen sie, die Häuser zu verlassen und das zu kaufen, wofür das akkumulierte Geld reichte. Nach der Wiedereröffnung der Betriebe des Dienstleistungssektors und der Gastronomie haben sie Beschäftigte eingestellt und bereits irgendwelche Gelder ausgezahlt. Die Menschen sind in die Läden gegangen.“
Doch, wenn man einen Vergleich mit den vergangenen Perioden anstellt, so die Expertin, ergebe sich ein anderes Bild: „Ungeachtet der starken bzw. sprunghaften Nachfrage nach relativ billigen Produkten mit einer langen Haltbarkeitsdauer, was besonders im März 2020 der Fall war (eine Zunahme um 4,7 Prozent gegenüber dem April des Jahres 2019), lag die Zunahme der Einkäufe im Zeitraum Januar bis April 2020 im Bereich der Fehlergrenze – bei ganzen 0,3 Prozent, während diese im Jahr 2019 ein Plus von 2,1 Prozent gegenüber dem Jahr 2018 auswies“.
Nach Aussagen von N. Schagaida habe sich solch ein Ergebnis aufgrund dessen ergeben, dass nach dem Höhepunkt der heftigen Nachfrage im März 2020 die Lebensmitteleinkäufe im April um mehr als 9 Prozent eingebrochen seien. Nach solch einem Rückgang zeige jegliche Belebung innerhalb einer Woche ein Wachstum. „Dabei können die Einkünfte nicht einmal ansteigen. Die Menschen haben ihre Vorräte im April aufgebraucht und angefangen, Nötiges und Billiges nachzukaufen. Im Grunde genommen war der April einer der zwei schlimmsten Monate hinsichtlich der Lebensmitteleinkäufe in der Zeit unserer Beobachtungen seit Januar 2013“, fügte N. Schagaida hinzu. „Danach ist es nicht schwer, eine Belebung zu erwarten, wie dies auch nach dem dramatischen Einbruch im Dezember 2016 der Fall war. Ergo muss man die Einkünfte und den Beschäftigungsgrad verfolgen“.