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Bürgersprechstunde demonstrierte Störungen im System der staatlichen Verwaltung


Das in der Russischen Föderation aufgebaute System der Verwaltung hat einen wesentlichen Mangel. Es gewährleistet nicht das gewünschte Ergebnis. Dieses System ignoriert die Appelle und Anträge der Bürger, die gezwungen sind, sich beim Staatsoberhaupt über undichte Dächer in Kindergärten, das Fehlen von Straßen, über die hohen Preise, die Gebühren der Beamten, schmutziges Trinkwasser in den Häusern, das Fehlen von Arbeit und ausstehende Löhne und Gehälter zu beklagen. Der Präsident antwortete den Bürgern bei „Bürgersprechstunde“ am Mittwoch, dass die Mittel aus dem Haushalt bereits bereitgestellt und die nötigen Beschlüsse auf föderaler Ebene schon gefasst worden seien. Die Bürger sehen aber oft kein Ergebnis dieser Entscheidungen. Und das Paradoxe besteht darin, dass bei den anstehenden Septemberwahlen sie bei sich vor Ort für die Vertreter eben dieses nichtfunktionierenden Systems votieren sollen.

Bezeichnend ist, dass das Staatsoberhaupt beinahe gar nicht an die nationalen Projekte, aber auch die Orientierungspunkte der Mai- bzw. Juli-Präsidentenerlasse erinnerte. Doch gerade die nationalen Projekte bezeichnete Präsident Putin als das Hauptinstrument zur Verbesserung des Lebens der Bürger. Für diese nationalen Ziele und nationalen Projekte wurden Reserven im Umfang von Billionen Rubel zusammengetragen, wurden die Steuern erhöht und wurde ein durchgängiges System zur Finanzierung und Kontrolle aufgebaut. Ja, warum spricht da der Staatschef beinahe gar nicht von Errungenschaften und Verbesserungen des Lebens der Bürger dank dem nationalen Vorhaben für die Verwaltung? Wahrscheinlich, weil diese staatliche Verwaltung oft schlingert und nicht die erwarteten Ergebnisse bringt – mit Ausnahme der einfachsten Maßnahmen in Form direkter Beihilfen an Familien mit Kindern.

„In der nächsten Zeit sind umfangreiche Mittel für diese Zwecke vorgesehen. 500 Milliarden Rubel werden für Infrastruktur-Projekte bereitgestellt. 150 Milliarden (Rubel) werden direkt aus dem Fonds für nationalen Wohlstand für die (Lösung der) Probleme der kommunalen Wohnungswirtschaft kommen. Weitere 150 Milliarden (Rubel) werden über Infrastruktur-Wertpapiere, über (die Bank) DOM.RF kommen“. Solch eine Antwort erhielten jene Bürger Russlands, die sich über baufällige Häuser oder zum Trinken ungeeignetes Leitungswasser beklagten.

Die Bereitstellung von Haushaltsmitteln, dies ist wunderbar. Was geschieht aber in den letzten zwanzig Jahren mit dem System der Trinkwasserversorgung? Die simpelste Antwort ist: Es degradiert. Während es im Jahr 2000 im Land 102.000 Kilometer Wasserversorgungsleitungen gab, die eines Austauschs bedurften, so waren es im vergangenen Jahr bereits 171.000 Kilometer. Das heißt: Der Zustand der Wasserleitungen in Russland hat sich um fast 70 Prozent verschlechtert.

Die Beamten werden eventuell jener Beschwerdeführerin schnell die Wasserpumpe auswechseln, der es gelungen ist, dem Präsidenten die entsprechende Frage zu stellen. Aber das generelle Ergebnis der Arbeit des Systems der staatlichen Verwaltung wird sich dadurch nicht verändern.

Über das Fehlen einer normalen Wasserversorgung im Dorf Staroselje des Leningrader Verwaltungsgebietes berichtete Galina Smirnowa dem russischen Präsidenten. Gleich danach gab die Regierung des Leningrader Gebietes bekannt, dass es im Dorf Staroselje eine zentralisierte Wasserversorgung gebe. Jedoch „war im Zusammenhang mit der zusätzlichen Belastung durch die Zunahme des Verbrauchs der im Sommer im Dorf Lebenden und des heißen Wetters der Druck im (Leitungs-) Netz gefallen“.

Laut Angaben der Behörden der Region war in der Ortschaft am 10. Juni eine Pumpe ausgewechselt worden. Parallel haben sich dem Problem von Galina Smirnowa sofort die Staatsanwaltschaft und das Untersuchungskomitee angenommen. „Die Staatsanwaltschaft des Leningrader Verwaltungsgebietes hat eine Überprüfung der Einhaltung der Forderungen der Gesetzgebung bei der Organisierung einer ordnungsgemäßen Wasserversorgung im Dorf Staroselje des Verwaltungskreises Wyborg organisiert“, meldeten die Staatsanwälte. Und die Untersuchungsbeamten informierten: „Im Verlauf einer Überprüfung durch Mitarbeiter des Untersuchungskomitees werden ausnahmslos alle Umstände geklärt. Es werden Maßnahmen zur Befragung sowohl des Antragstellers als auch der zuständigen Personen ergriffen, die die Untersuchungsbehörden interessierenden Dokumente analysiert und andere erforderliche Maßnahmen realisiert. Entsprechend deren Ergebnissen wird der ausgewiesenen Situation eine objektive rechtliche Bewertung erteilt“.

Wie wir sehen, kann der Staatsapparat operativ auf einzelne (!) Klagen von Bürgern gegenüber dem Präsidenten der Russischen Föderation reagieren. Dieser Apparat ist aber nicht imstande, die Lebensbedingungen der russischen Bevölkerung insgesamt zu verbessern. Oder zumindest die Bedingungen der Wasserversorgung besser zu gestalten.

Beschwerden über hohe kommunale Zahlungen (von 20.000 bis 70.000 Rubel) haben gleichfalls eine unverzügliche Reaktion des staatlichen Systems ausgelöst. Der Gouverneur des Verwaltungsgebietes Tjumen Alexander Moor teilte gleich nach der „Bürgersprechstunde“ mit, dass er mit der Regionalregierung die Probleme erörtern werde, mit denen sich Einwohner an den Präsidenten gewandt hatten. Und das Untersuchungskomitee wird nach der Klage der Einwohner bezüglich der überhöhten Tarife für die kommunalen Dienstleistungen eine Überprüfung durchführen. Vor der „Bürgersprechstunde“ mit dem Staatsoberhaupt hatten sich die Einwohner nach eigenen Aussagen „an alle Instanzen gewandt und überall die Antwort erhalten, dass dies wirtschaftlich begründete Preise seien. Das heißt: Im Normalregime ist das in Russland funktionierende Verwaltungssystem einfach nicht in der Lage, die Probleme der Bürger zu lösen. Mehr noch, die örtliche Beamte beginnen, jenen Bürgern zu drohen, die versuchen, sich mit Klagen an den Präsidenten der Russischen Föderation zu wenden.

Im Verlauf der diesjährigen „Bürgersprechstunde“ wurden rund zwei Millionen Fragen durch Bürger Russlands gestellt. Neben Problemen der Wasserversorgung und hohen kommunalen Zahlungen fragten die Bürger über die Vakzinierung, die hohen Preise und Lebenshaltungskosten, die Unmöglichkeit, Arbeit zu finden oder Kredite zu tilgen. Russlands Bürger interessierten sich gleichfalls für Probleme der internationalen Politik und der Verteidigung des Landes, aber auch das weitere Funktionieren der sozialen Netzwerke in der Russischen Föderation. Die Ausstrahlung der „Bürgersprechstunden“ mit dem Präsidenten dauerte im Funk und Fernsehen in diesem Jahr drei Stunden und 42 Minuten. In dieser Zeit beantwortete der Präsident fast siebzig Fragen, obgleich unklar geblieben ist: Konnten die Antworten die Bürger zufriedenstellen?