Unabhängige Zeitung

Private Tageszeitung

Coronavirus schafft neue Realität für Öl und Gas


Alexander Grigorjew, stellv. Generaldirektor des Instituts für Probleme der natürlichen Monopolunternehmen

Die COVID-19-Pandemie wird der ganzen Welt lange und bitter in Erinnerung bleiben, nachdem sie die Bevölkerung und die Wirtschaft zwang, die gewohnte Lebensweise für mehrere Monate radikal zu ändern und sich mit unvorhergesehenen ökonomischen Schwierigkeiten auseinanderzusetzen. Eine „neue Realität“, eine „neue Normalität“, „jetzt wird alles anders sein“… Doch ist dem so, wenn wir über solche wichtigen Positionen im russischen Export wie Öl und Gas sprechen?

Der Beginn des Jahres 2020 war eine schwere Zeit für den Öl- und Gassektor in der ganzen Welt. Mitte Juli berichtete die PAO „Gazprom“ über den ersten Quartalsverlust seit fünf Jahren entsprechenden den internationalen Rechnungslegungsstandards (und den ersten in der Geschichte gemäß des russischen Rechnungslegungsstandards). Zuvor berichtete der anglo-niederländische Konzern Royal Dutch Shell über einen Verlust von 24 Millionen US-Dollar im ersten Quartal, und die US-amerikanische Exxon Mobil Corp. warnt entsprechend den Ergebnissen des zweiten Quartals vor Verlusten in einer Höhe von 2,5 Milliarden Dollar. 

Für die Erdölbranche wurde das von der Zeit her Zusammentreffen des Beginns der Verbreitung des Coronavirus in der Welt außerhalb Chinas und das Auslaufen des OPEC-plus-Abkommens zu einem schicksalsschweren. Gerade die Unbestimmtheit hinsichtlich einer Prolongierung des Deals versetzte den Markt in einen turbulenten Zustand mit negativen Werten einiger Spotpreise für Erdöl. Der Durchschnittspreis für einen Barrel russischen Erdöls der Marke Urals erreichte im April 2020 ein lokales Minimum von 16,26 Dollar (vor genau einem Jahr, im April 2019, wurde ein Spitzenpreis von 71,54 Dollar für einen Barrel registriert). 

Die Nachfrage nach Erdgas auf dem europäischen Markt ging bereits seit vergangenem Herbst zurück: Vor dem Hintergrund der warmen Witterung und aufgrund der Befürchtungen hinsichtlich möglicher Störungen bei den Gaslieferungen aus Russland waren die Gasspeicher der Region auf einem Rekordstand gefüllt (zu 97,37 Prozent mit Stand vom 27. Oktober und zu 69,4 Prozent mit Stand vom 7. Februar). Folglich hatte die begonnene Corona-Krise nur die negativen Erscheinungen in der Branche verstärkt, sie aber prinzipiell nicht verändert.

Und schließlich hatte sich die Nachfrage nach Bodenschätzen seitens der Wirtschaft Chinas im Zusammenhang mit dem durch die COVID-19-Epidemie ausgelösten Lockdown radikal verringert. Dies ist wahrscheinlich die relevanteste Folge der Pandemie bezüglich der Weltmarktpreise für Kohlenwasserstoffe.

Bekanntlich ist aber eine Krise auch eine Zeit der Möglichkeiten. Vor dem Hintergrund solch bedeutender Veränderungen in der Balance von Nachfrage und Angebot erhielten die Verfechter der „grünen“ Technologien ein zusätzliches Argument für ihren „Kreuzzug“ für eine Dekarbonisierung der Wirtschaft, nunmehr bereits im Rahmen der Maßnahmen zu ihrer Wiederherstellung. In der Tat, die Nachfrage nach traditionellen Energiequellen ist eingebrochen, wie wir dies am Beispiel des russischen Exports von Energieressourcen sehen. Gibt dies aber einen Grund zur Freude im Lager der Anhänger der „nichttraditionellen“ Energiewirtschaft? Die Ironie besteht darin, dass, je schlechter es um die Angelegenheiten in der Wirtschaft bestellt ist, umso stärker sind die Positionen der „traditionellen“ Energiewirtschaft. Sie ist billiger, besitzt eine breit aufgestellte Infrastruktur und bedarf keiner staatlichen Unterstützung. Anders gesagt: Sie ist im Vergleich zu den erneuerbaren Energiequellen wettbewerbsfähiger. Entsprechend der Wiederbelebung des Wirtschaftslebens wird auch der Verbrauch von Energieträgern wiederaufleben, genauso wie er sich während der Epidemie verringerte. 

Das Hauptrisiko für die Ölnachfrage sind in der langfristigen Perspektive nicht Pandemien, sondern die Entwicklung der elektrisch betriebenen Transportmittel, besonders der E-Autos. Diese Entwicklung wird jedoch im nächsten Jahrzehnt einen moderaten Charakter aufweisen. Bloomberg New Energy Finance erwartet beispielsweise eine Zunahme des Anteils der E-Autos bei den Verkäufen von PKW bis auf 28 Prozent, und im gesamten Fuhrpark – bis auf 8 Prozent bis zum Jahr 2030. Als Konsequenz wird bis zum Beginn der 2030er Jahre die Ölnachfrage seitens des Transportwesens weiter ansteigen. 

Was den internationalen Gasmarkt angeht, so wird für ihn die Entwicklung der Energieerzeugung auf der Grundlage erneuerbarer Quellen das Hauptrisiko sein. Wenn man den Grad der Implementierung „grüner“ Energie insgesamt in der Welt außerhalb der Beschränkungen lässt, so werden selbst in der lichten kohlenstofffreien Zukunft zwei überaus große Nischen für das Erdgas bleiben. Erstens ist dies seine Rolle als ein Übergangsbrennstoff zwischen der Kohle und den erneuerbaren Energiequellen (und der Anteil der Kohle in der weltweiten Energiebilanz übersteigt nach wie vor den Anteil des Erdgases). Zweitens ist dies die Rolle des Gases als ein Energieträger bzw. Brennstoff für die „Reserve-“ oder „Spitzenzeit-“ Wärmekraftwerke, die erlauben, die Stromversorgung in Zeiten mit schlechten Witterungsbedingungen für die „grüne“ Energiewirtschaft zu sichern. Diese Rolle wird selbst in den Ländern, die am weitesten bei der Dekarbonisierung vorangekommen sind, aktuell sein, solange das Problem der Energiespeicherung in industriellen Dimensionen nicht gelöst worden ist. Der technische Fortschritt in den Bereichen der Akku-Batterien und der Wasserstoffenergetik erlaubt nicht, in der Perspektive der nächsten Jahrzehnte vollkommen auf fossile Brennstoffe zu verzichten. Als Folge wird die internationale Nachfrage nach Gas in den 2020er Jahren (und möglicherweise auch später) weiter zunehmen. 

Somit bleiben Öl und Gas unweigerlich eine Grundlage der weltweiten Energiewirtschaft in den nächsten Jahrzehnten. In diesem Kontext ist die größte Herausforderung für den russischen Energie- und Brennstoff-Komplex die Notwendigkeit, den Marktanteil vor dem Hintergrund der Aktivitäten der Konkurrenten zu halten. Zwecks Wahrung der Wettbewerbsfähigkeit ist es wichtig, das Augenmerk auf zwei Aspekte zu lenken,

Erstens auf die Effektivität der Export-Infrastruktur. Die Ereignisse der letzten zwanzig Jahre zeigen, dass das System der Gaspipelines, die nach Europa verlaufen, von einer Vielzahl von Risiken abhängt. Dies ist sowohl das Risiko im Zusammenhang mit der Position der Transitländer als auch das Bestreben vieler europäischer Staaten nach einer möglichst schnellen Dekarbonisierung. Und als letztes, aber nicht weniger wichtiges sind da die Sanktionen seitens der USA hinsichtlich „Nord Stream 2“. Im Zusammenhang damit ist eine Diversifizierung der Risiken durch den Bau von Exportgaspipelines in der asiatischen Richtung, aber auch der Bau von Betrieben zur Gasverflüssigung, die keineswegs an konkrete Verbraucher gebunden sind, äußerst aktuell. Man kann sehen, dass Schritte in dieser Richtung durchaus von den russischen Unternehmen unternommen werden. 

Zweitens auf die Effizienz der Besteuerung des Öl- und Gassektors. Entsprechend der Verschlechterung der Struktur der Öl- und Gasvorräte nehmen die Kosten für ihre Förderung zu. Das geltende System zur Besteuerung aber, das auf der Steuer auf die Förderung von Rohstoffen beruht, stimuliert nicht die Erschließung und Ausbeutung „schwieriger“ Öl- und Gasvorräte oder eine Erhöhung des Koeffizienten für die Ölausbeute auf den alten Feldern ohne spezielle Vergünstigungen. In Russland ist ein Experiment zur Anwendung eines alternativen Besteuerungsmodells – der sogenannten Steuer auf die zusätzlichen Einnahmen – gestartet worden, doch ihre Anwendung ist bisher eine beschränkte.

Zur gleichen Zeit macht es Sinn, die Brennstoff- und Energie-Infrastruktur, besonders der für den Export, unter diesem Blickwinkel genau zu betrachten. Die Auswirkung der Krise verändert sich für sie nicht dadurch, dass diese Krise durch die Pandemie oder durch irgendeinen anderen Vorfall ausgelöst worden ist. Ein „Rohr“ hustet nicht. Bei der Realisierung jeglichen Projekts muss man im Blick haben, dass dieses Projekt in einer neuen Zeit von Turbulenzen – und die wird unbedingt kommen – unbedingt eine der Stützen, ein Rückgrat der einbrechenden und dann wachsenden Wirtschaft bleiben muss.

Im Zusammenhang damit ist es wichtig, schon heute die Fragen zu beantworten: Wie stabil sind die Wirtschaftsmodelle, auf denen die projektierten Kapazitäten der Export-Pipeline-Infrastruktur basieren? Werden sie sich unter Berücksichtigung nicht nur des planmäßigen Überschusses, sondern auch der periodischen Produktionsrückgänge unabhängig ihrer Ursachen rentieren?